Winrich Scheffbuch
Zum Leben
hindurchgedrungen
Im
Glauben und noch nicht im Schauen
Mein
Leben ist dauernd bedroht
Freude,
die Mauern durchbricht
Wenn
Gott tut, was einem nicht passt
Eure
Freude soll niemand von euch nehmen!
Wie
Jesus mir die Angst vor dem Sterben nahm
Dann
wird unser Mund voll Lachens sein
Wir
fallen nicht ins Ungewisse
Das
Geschenk am Heiligen Abend in Stalingrad
Brief
eines gefallenen Pfarrers an seine Konfirmanden
Gott
näher als an gewöhnlichen Tagen
Verkrampfung
und Qual lösen sich wundervoll
In
den schwersten Stunden war Jesus mir nahe
Sie
ist nach Haus gegangen wie ein müdes Kind
...der
uns die Hand unter den Kopf lege
Umzüge haben es in sich. Wer schon in seinem Leben
ein paar Mal den Wohnsitz gewechselt hat, weiß, was er geschafft hat.
Das behagliche Heim wird auseinander montiert. Der
Teppich wird zusammengerollt, die Bilder abgehängt, der Schrank zerlegt. Die
ganze Gemütlichkeit ist hin. Das Geschirr steckt gut verpackt in Kisten.
Dasselbe wiederholt sich täglich vor unseren Augen.
Nur ziehen Menschen da nicht von einer Stadt in die andere, sondern von dieser
sichtbaren Welt in Gottes Ewigkeit.
Auch bei einem solchen Umzug tut viel weh. Diesmal
ist es ja nicht nur ein. Umpacken in Kisten, sondern wie das Abbrechen eines
ganzen Hauses. Die Wände, die uns so vertraut und heimelig sind, müssen
einstürzen. Der Boden, auf dem wir uns so sicher bewegt haben, bebt und fällt
in die Tiefe.
Das Sterben ist einem Zerbrechen gleich. Unsere
Zeit will es nicht wahrhaben. Bis ins hohe Alter flieht man. Das
leidenschaftliche Festkrallen an die viele Arbeit ist ein törichter
Fluchtversuch. Aber auch die großen Erwartungen an die Mediziner und ihr Können
gehören dazu. Bis zum Ende hofft man auf völlige Gesundung.
Doch dann muss man das Abbrechen bis zum bitteren
Ende durchleiden. Was nicht in Gottes neue Welt hineinpasst, muss hier
zurückbleiben. So schwer es uns fällt, so traurig es uns auch stimmt: Fleisch
und Blut kann das Reich Gottes nicht erben (1. Korinther 15, 50). Und doch ist
das nur die eine, die sichtbare Seite.
Viel mehr spricht die Bibel von dem, was der Tod
nicht zerbrechen kann. Wir täuschen uns, wenn wir meinen, der Tod reiße alles
nieder.
Mit großem Nachdruck schreibt Paulus in einem
seiner Briefe (2. Korinther 5, 1):
»Wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese
Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus,
nicht mit Händen gemacht!«
Wenige Verse vorher hat er noch von seinen Leiden
berichtet, die er an seinem Leib zu ertragen hat: Er ist müde und schwach,
kraftlos und elend. Überall an seinem Körper meint er das Sterben Jesu zu
fühlen.
Und nun macht ihn dies glücklich. Wir wissen, da
ist ein neuer Bau! Darum tut das Abbrechen der alten Bruchbude nicht so weh.
Wenn nur das Neue nicht angetastet wird!
Wir müssen mehr auf das neue Heim hin leben. Darum
sagen Christen: »Wir leben jetzt im Glauben und noch nicht im Schauen! « Das
Sterbliche kann dann ruhig wie ein altes Gebälk zerstört, vernichtet oder
entfernt werden. Dass dies trotzdem sehr weh tut, das wissen auch die Glaubenden.
Der langsame Prozess des Sterbens setzt uns sehr zu. Die Füße werden matt. Die
Kraft lässt immer mehr nach.
Dann müssen wir wissen, dass diese Not nur zeitlich
ist und zu diesem Weltlauf gehört. Blickt durch das hindurch, was vergehen muss!
Sucht nach dem, was nicht durch den Tod zerbrochen werden kann! In der
Bedrängnis der Schwäche und Ohnmacht kann die Sehnsucht nach dem neuen Bau bei
Gott richtig wachsen.
Einmal werden wir Jesus gleich sein. Und wir werden
ihn sehen, wie er ist. Das wird herrlich sein!
Wenige Wochen vor seinem Tod erzählte der39jährige
Bezirksjugendreferent Günter Albrecht beim » Gemeindetag unter dem Wort« in
Stuttgart von seiner schweren Krankheit. Er hatte das Thema »Ermutigungen in
Krankheit und Sorge«:
Seit elf Jahren weiß ich um eine bösartige
Erkrankung in meinem Leben. Zum ersten Mal brach sie aus ein Jahr nach unserer
Hochzeit, kurz vor der Geburt unseres ersten Kindes. Inzwischen haben wir vier
gesunde Kinder. Elf Jahre lebten wir in der Familie - trotz allem - in
fröhlichem Glauben miteinander. Ich konnte meinen Dienst unter jungen Menschen
- abgesehen von kurzen Unterbrechungen - tun.
Jeder Tag dieser Jahre ist im Rückblick ein Beweis
für das Wort des Apostels Paulus: »Mitten im Leben werden wir immerdar in den
Tod gegeben um Jesu willen, auf dass auch das Leben Jesu offenbar werde an
unserem sterblichen Leibe« (2. Korinther 4, 11).
Oft haben wir in diesen Jahren vergessen, wie
bedroht mein Leben war. Immer wieder hat Gott sich in Erinnerung gerufen durch
neues Aktivwerden dieser Krankheit. Im Krankenbericht steht so schön drin: »Ein
untypischer Verlauf der Krankheit.« Das ist eine
medizinische Umschreibung für das, was Gott an Großem an uns tun kann.
Wenn man so bedroht lebt, lebt man intensiv. Man wird
hineingeführt in ein intensives geistliches Leben. Auch der Dienst im Reich
Gottes ist dann in jeder Situation Zeugendienst für den dreieinigen Gott.
Vor einigen Monaten wurde uns dann klar, dass wir
aufs Neue mit der Krankheit werden rechnen müssen. Wir haben zuerst die Brüder
aufgesucht. Wir feierten miteinander das Abendmahl. Sie beteten mit mir und haben
mich gesegnet. Danach erlebten meine Frau und ich, was es heißt, nicht
verzweifeln zu müssen, sondern - von dem lebendigen Gott getragen und gehalten
- weiterleben zu können und auch den Dienst für Jesus weiter tun zu können.
Nach einer bestimmten Zeit ging ich dann in die Klinik. Als die
Untersuchungsergebnisse vorlagen, war klar, wie schwer diese Krankheit wieder
zugeschlagen hatte. Nach dem Gespräch und dem Gebet mit den Brüdern und einem
ausführlichen Gespräch mit dem Stationsarzt wurde ich aus der Klinik entlassen.
Das Ganze ist nun drei Wochen her.
Ich möchte Ihnen aus meinem Erleben einige Gedanken
und Hilfen für Ihre eigene Krankheitsnot, für Ihre eigenen Schwierigkeiten
mitgeben.
1. Sprechen
und beten Sie ganz bewusst im Blick auf Ihre Krankheit den ersten
Glaubensartikel. Beziehen Sie jede Aussage dieses Glaubensartikels auf Ihre
Situation: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des
Himmels und der Erde.« Dann wird Sie nicht mehr die
Krankheit beherrschen, sondern dann wird klar sein, wer der Herr über alles
ist!
2. Die
Angst vor dem Tod, das krankhafte Festhalten am Leben ist ein Kennzeichen
unserer Zeit. Und doch wurde das Leben noch nie so verachtet wie heute! Ich
denke, wir Christen sind der Welt das Zeugnis schuldig, dass Christus durch
seinen Tod den Weg zum Vater für uns frei gemacht hat. Für uns ist der Tod
nicht die große Unbekannte. Für uns ist der Tod keine endgültige Strafe.
Sondern der Tod ist der Durchgang zur endgültigen Erlösung.
3. Gott
will uns doch in Jesus Christus alles Gute schenken! Seien Sie bereit, zu Ihrer
Lebensführung durch Gott »ja« zu sagen! Bleiben Sie offen für das große Wirken
und Handeln Gottes in Ihrem Leben! Und denken Sie daran, dass es bei uns
Christen doch immer nur darum gehen kann, dass der Name Jesu verherrlicht wird,
es sei durch Leben, durch Krankheit oder durch Sterben.
4. Zum
Schluss ein Wort an die Gesunden unter uns: Für meine Frau und mich war in
dieser Zeit etwas vom Schönsten das Leben in der Bruderschaft, in der
Gemeinschaft. Für uns wurde etwas sichtbar von der Gemeinde Jesu. Für uns wurde
etwas spürbar von dem Segen, der ausgeht, wenn Brüder und Schwestern im Gebet
über einer Not eins werden. Tun Sie in Ihren Gemeinden diesen Dienst ganz
bewusst füreinander!
Rosemarie Fohl starb im Alter von 37 Jahren. Schon
als sie. 14 Jahre alt war, erkrankte sie schwer an Rheuma. Bald ging es nicht
mehr ohne Krücken. Dann brauchte sie einen Rollstuhl. 24 Jahre lang litt sie
unter meist heftigen Schmerzen. Oft sagte sie: »Ich bin ganz in Schmerzen
eingehüllt'«
So weit sie es noch konnte, verfasste sie über
viele Jahre hinweg Briefe an schwer leidende junge Menschen im Auftrag des
Evangelischen Jugendwerkes.
In einem Brief an eine völlig gelähmte, stumme
Bekannte schrieb sie:
»Ich wäre aus meinem Katzenjammer bestimmt nicht
heraus gekomrnen. Ich bin traurig und bedrückt und
kann es nicht verhindern. Aber es wird mir immer wieder weitergeholfen, und ich
schäme mich nur über meinen Kleinglauben. Er taucht jedes Mal wieder auf,
obwohl ich doch nun endlich wissen müsste, dass Gott mir immer im rechten
Moment wieder Hilfe geschickt hat.
Aber nicht wahr? Es geht Dir nicht anders. So
allmählich lernen wir doch, unserem Herrn mehr zuzutrauen als uns. Und das ist
die Hauptsache. Dann sind unsere Jahre nicht vergeblich gelebt. Dass nur
Christus geehrt werde auf mancherlei Weise! Hier habe ich noch viel zu lernen.
Und gerade Du bist mir hier auch ein Vorbild und Ansporn.«
Aus einem Brief an einen ganz schwer leidenden jungen
Menschen:
»Wie herrlich ist es, wenn Jesus Christus immer
mehr der Mittelpunkt eines Menschenlebens wird. Und das heißt ja, den Menschen
heilen. Ganz, innerlich gesund und froh zu sein, auch wenn der Körper noch so
übel dran ist. So macht mich der Gedanke schon seit Jahren froh, dass Jesus der
Herr und Mittelpunkt Deines Lebens ist. Deshalb darf ich meinen Wunsch so
formulieren, dass Du immer mehr zu einer Kraftquelle für andere Menschen wirst,
die innerlich krank und leer sind bei aller körperlichen Gesundheit.
Der Herr schenke Dir die Freude zur Fürbitte in
immer größerem Ausmaß. Damit vermittelst Du eine ansteckende Gesundheit und
erhältst für Dich selbst Freude und Kraft für Dein Leben. Und dies wünsche ich
Dir ebenfalls so sehr.«
Aus einem Brief an eine Freundin:
»Gott gibt mir gerade so viel Kraft, wie ich bei
vernünftiger Einteilung benötige. Wenn ich darauf nicht achte, habe ich große
Schmerzen, die mir gleich Angst vor einer Verschlechterung machen. Aber es kann
mir ja nicht mehr geschehen, als was Gott vorgesehen hat. Was der Herr noch an
Wunderbarem und an Schwerem mit uns machen will, ist eigentlich gleichgültig.
er ist ja dabei und vergibt alles Verzagtsein.
Darüber bin ich besonders froh! «
In einem Rundbrief an kranke junge Leute schrieb
sie:
»So ist einem. Menschen nichts Besseres zu
wünschen, als dass er Gott lieben kann. Aber Gott hat uns zuerst geliebt.
>Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle
dahingegeben. Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?<
Wenn wir das >Für uns< Gottes in Jesus Christus annehmen - und es ist ein
unverdientes Geschenk!, dann kann keine Macht der Welt wider uns sein. Wir
können vernichtet werden, aber aus der Hand Gottes kann uns niemand reißen.
Gott ist uns näher als uns Freunde sein könnten. Wir sind nicht verlassen. Wir
sind in unserer Trauer getröstet. Sein Heil, ja sogar unsere Heilung sind
realer als das Unheil unserer Krankheit.«
Und in einem anderen Rundbrief heißt es:
»Das andere scheint mir noch wunderbarer. Gottes. Geist
führt zur inneren Überwindung auch in den größten Schwierigkeiten und
Belastungen. Da geht äußerlich der Druck weiter. Die Hilfe, nach der wir
ausgeschaut haben, wird uns nicht oder noch nicht zuteil. Aber die Verhältnisse
beirren uns nicht. Wir wachsen über sie hinaus. Wir bleiben im Lieben Gottes.
Ja, wir sind mehr als andere mit ihm verbunden, da wir im Leid gereift sind.
Möchtest Du doch in allen Fragen immer von neuem ganz festhalten, dass unsere
höchste Vollkommenheit nicht in irgendeinem Heldenmut und dem Können besteht,
aus menschlichen Fähigkeiten und einem Naturtalent heraus alles zu schaffen,
sondern darin, Gottes und seiner Kraft völlig zu bedürfen.«
In ihrem letzten Rundbrief schrieb sie:
»Es war und ist einfach großartig, wie in den größten
Nöten, in die ich komme, ich dennoch immer getrost und ohne Furcht sein darf.
Der Entschluss, Gott uferlos zu vertrauen, lohnt sich hundertprozentig. Warum
lässt Gott das zu? Diese Barriere gibt es da nicht mehr. Ich kann Gott über
aller Not meines Lebens recht geben.«
In den letzten Lebenstagen war sie so schwach, dass
sie nicht einmal mehr die Bettdecke hochziehen konnte, sie sagte dann:
»Jesus hat mich durchgebracht! Ich kann mich jetzt
ganz in seine Hand fallenlassen.«
Als Jugendreferentin kam Ursel Aul,
eine Diakonisse aus dem Aidlinger Mutterhaus, nach Freudenstadt. Schon nach
wenigen Jahren Dienst erkrankte sie unheilbar. Kurz nach ihrem 35. Geburtstag
wurde sie heimgerufen. Lange hoffte sie auf Genesung und Heilung. Doch dann
konnte sie sagen:
»Wenn ich es Jesus überlasse, ihm meinen Willen
bewusst ausliefere, kann ich gelassen und getrost sein. Ich möchte ja auch
nichts anderes als in seinem Willen sein und den Weg, den er führt, mit ganzer
Freude gehen. Nicht unser Tun für ihn ist entscheidend, sondern unser Leben bei
ihm. Dass Jesus durch uns verherrlicht wird!«
Und dann dichtete sie, schon schwer von der
Krankheit gezeichnet, das Lied, das rasch den Weg in viele Jugendgruppen fand:
Jesus, die Sonne, das strahlende Licht,
Jesus, die Freude, die Mauern durchbricht!
Die auf ihn schauen, werden sein wie die Sonne,
wie sie aufgeht in ihrer Pracht!
Als um mich war ein Gefängnis
von Angst und Traurigkeit, da
führte aus
der Bedrängnis mich
Gottes
Freundlichkeit.
Für Gott ist doch nichts unmöglich,
er will mir Gutes tun.
Durch ihn allein bin ich glücklich,
kann bei ihm sicher ruhn.
Gott lässt meinen Fuß nicht gleiten,
nie schläft
und schlummert er,
umgibt mich von allen Seiten
mit seinem Engelheer.
Es mögen sich freuen alle
und rühmen Gottes Gnad'
mit fröhlichem Jubelschalle,
weil er gesegnet hat.
Jesus die Sonne, das strahlende Licht,
Jesus, die Freude, die Mauern durchbricht!
Die auf ihn schauen, werden sein wie die Sonne,
wie sie aufgeht in ihrer Pracht!
Helmut James Graf von Moltke war Jurist. Auf seinem
schlesischen Gut in Kreisau sammelte er Vertreter des
Widerstands gegen Hitler, den so genannten Kreisauer
Kreis. Sie dachten darüber nach, wie ein Deutschland nach Hitler aussehen
müsste. In das Attentat gegen Hitler willigte er als Christ und Politiker nicht
ein. Schon im Jahr 1944 wurde er verhaftet. Ein Jahr später verurteilte ihn der
Volksgerichtshof zum Tode. Das Urteil wurde am 23. Januar 1945 in Plötzensee vollstreckt.
Aus letzten Briefen an seine Frau
Tegel, den 10. Januar 1945
Mein liebes Herz, zunächst muss ich sagen, dass
ganz offenbar die letzten 24 Stunden eines Lebens gar nicht anders sind als
irgendwelche anderen. Ich hatte mir immer eingebildet, man fühle das nur als
Schreck, dass man sich sagt: Nun geht die Sonne das letzte Mal für dich unter,
nun geht die Uhr noch zweimal bis zwölf, nun gehst du das letzte Mal zu Bett.
Von all dem ist keine Rede. Ob ich nun ein wenig überkandidelt bin? Denn ich
kann nicht leugnen, dass ich mich in geradezu gehobener Stimmung befinde. Ich
bitte nur den Herrn im Himmel, dass Er mich darin erhalten möge, denn für das
Fleisch ist es sicher leichter, so zu sterben. Wie gnädig ist der Herr mit mir
gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, dass das hysterisch klingt: ich bin so voll
Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die zwei Tage so
fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es
hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so, wie es in Jesaja 43, 2 heißt:
»Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme
nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und
die Flamme soll dich nicht versengen.« - Mir war, als ich zum Schlusswort
aufgerufen wurde, so zumute, dass ich beinahe gesagt hätte: »Ich habe nur eines
zu meiner Verteidigung anzuführen: >Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und
Weib, lass fahren dahin, sie haben's kein Gewinn, das Reich muss uns doch
bleiben<«. Aber das hätte doch die anderen nur belastet; so sagte ich nur:
»Ich habe nicht die Absicht, etwas zu sagen, Herr Präsident.«
Es ist nun noch ein schweres Stück Weges vor mir,
und ich kann nur bitten, dass der Herr mir weiter so gnädig ist, wie er war.
Für heute Abend hatte Eugen uns aufgeschrieben Lukas 5, 1-11. Er hatte es
anders gemeint; aber es bleibt wahr, dass dies für mich ein Tag eines großen
Fischzuges war und dass ich heute Abend mit Recht sagen kann: »Herr, gehe von
mir hinaus. Ich bin ein sündiger Mensch.« Und was
haben wir, meine Liebe, gestern Schönes gelesen: »Wir haben aber solchen Schatz
in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft sei Gottes und nicht
von uns. Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist
bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht
verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. Und tragen
allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe, auf dass auch das Leben
des Herrn Jesu an unserem Leibe offenbar werde.« Dank,
mein Herz, vor allem dem Herrn, Dank, mein Herz, Dir für Deine Fürbitte, Dank
allen anderen, die für uns und für mich gebetet haben. Dein Mann, Dein schwacher,
feiger, »komplizierter«, sehr durchschnittlicher Mann, der hat das erleben dürfen. Wenn ich jetzt gerettet werden würde - was ja bei
Gott nicht wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist als vor einer Woche -,
so muss ich sagen, dass ich erst einmal mich wieder zurechtfinden müsste, so ungeheuer
war die Demonstration von Gottes Gegenwart und Allmacht. Er vermag sie eben
auch zu demonstrieren, und zwar ganz unmissverständlich zu demonstrieren, wenn
er genau das tut, was einem nicht passt. Alles andere ist Quatsch.
Darum kann ich nur eines sagen, mein liebes Herz:
möge Gott Dir so gnädig sein wie mir, dann macht selbst der tote Ehemann gar
nichts. Seine Allmacht vermag er eben auch zu demonstrieren, wenn Du Eierkuchen
für die Söhnchen machst oder »Putschi« beseitigst,
obwohl es das hoffentlich nicht mehr gibt. Ich sollte wohl von Dir Abschied
nehmen - ich vermag's nicht; ich sollte wohl Deinen
Alltag bedauern und betrauern - ich vermag's nicht.
Ich sollte wohl der Lasten gedenken, die jetzt auf Dich fallen - ich vermag's nicht. Ich kann Dir nur eines sagen: wenn Du das
Gefühl absoluter Geborgenheit erhältst, wenn der Herr es Dir schenkt, was Du
ohne diese Zeit und ihren Abschluss nicht hättest, so hinterlasse ich Dir einen
nichtkonfiszierbaren Schatz, demgegenüber selbst mein Leben nichts wiegt. Diese
Römer, diese armseligen Kreaturen von Schulze und Freisler
und wie das Pack alles heißen mag: nicht einmal begreifen würden sie, wie wenig
sie nehmen können!
Ich schreibe morgen weiter, aber da man nie weiß,
was geschieht, will ich in dem Briefe jedenfalls jenes Thema berührt haben. Ich
weiß natürlich nicht, ob ich nun morgen hingerichtet werde. Es mag sein, dass
ich noch vernommen, verprügelt oder aufgespeichert werde. Kratze bitte an den
Türen; denn vielleicht hält sie das doch von zu argem Prügeln ab. Wenn ich auch
nach der heutigen Erfahrung weiß, dass Gott auch diese Prügel zu nichts machen
kann, selbst wenn ich keinen heilen Knochen am Leibe behalte, ehe ich gehenkt
werde, wenn ich also im Augenblick keine Angst davor habe, so möchte ich das lieber
vermeiden. So, gute Nacht, sei getrost und unverzagt.
11. Januar 1945
Meine Liebe, ich habe nur Lust, mich ein wenig mit
Dir zu unterhalten. Zu sagen habe ich eigentlich nichts. Die materiellen
Konsequenzen haben wir eingehend erörtert. Du wirst Dich da schon irgendwie
durchwinden, und setzt sich ein anderer nach Kreisau,
so wirst Du das auch meistern. Lass Dich nur von nichts anfechten. Das lohnt
sich wahrhaftig nicht. Ich bin unbedingt dafür, dass Ihr sorgt, dass die Russen
meinen Tod erfahren. Vielleicht ermöglicht Dir das, in Kreisau
zu bleiben. Das Rumziehen in dem Rest-Deutschland ist auf alle Fälle grässlich.
Bleibt das Dritte Reich über Erwarten doch, was ich mir in meinen kühnsten
Phantasien nicht vorstellen kann, so musst Du sehen, wie Du die Söhnchen dem
Gift entziehst. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn Du dann auch
Deutschland verlässt. Tu, was Du für richtig hältst und meine nicht, Du seiest
so oder so durch irgendeinen Wunsch von mir gebunden. Ich habe Dir immer
gesagt: »Die tote Hand kann nicht regieren...«
Ich denke mit ungetrübter Freude an Dich und die
Söhnchen, an Kreisau und all die Menschen da; der
Abschied fällt mir im Augenblick gar nicht schwer. Vielleicht kommt das noch.
Aber im Augenblick ist es mir keine Mühe. Mir ist ganz und gar nicht nach
Abschied zumute. Woher das kommt, weiß ich nicht. Aber es ist nicht ein Anflug
von dem, was mich nach Deinem ersten Besuch im Oktober, nein, November war es
wohl, so stark überfiel.
Jetzt sagt mein Inneres: a) Gott kann mich heute genauso
dahin zurückführen wie gestern, und b).und wenn er mich' zu sich ruft, so nehme
ich es mit. Ich habe gar nicht das Gefühl, was mich manchmal überkam: Ach, nur
noch einmal möchte ich das alles sehen. Dabei fühle ich mich gar nicht
»jenseitig«. Du siehst ja, dass ich mich lieb mit Dir unterhalte, statt mich
dem lieben Gott zuzuwenden. In einem Liede - 279,4 - heißt es: »Denn der ist
zum Sterben fertig, der sich lebend zu dir hält.«
Genau so fühle ich mich. Ich muss, da ich heute lebe, mich eben lebend zu ihm
halten; mehr will er gar nicht. Ist das pharisäisch? Ich weiß es nicht. Ich
glaube aber zu wissen, dass ich nun in seiner Gnade und Vergebung lebe und
nichts von mir habe oder von mir vermag.
Ich schwätze, mein Herz, wie es mir in den Sinn
kommt; darum kommt jetzt etwas ganz anderes. Das Dramatische an der Verhandlung
war letzten Endes folgendes: In der Verhandlung erwiesen sich alle konkreten
Vorwürfe als unhaltbar, und sie wurden auch fallengelassen. Nichts davon blieb.
Sondern das, wovor das Dritte Reich solche Angst hat, dass es fünf, nachher
werden es sieben Leute werden, zu Tode bringen muss, ist letzten Endes nur
folgendes: ein Privatmann, nämlich Dein Mann, von dem feststeht, dass er mit
zwei Geistlichen beider Konfessionen, mit einem Jesuitenprovinzial und mit
einigen Bischöfen, ohne die Absicht, irgend etwas Konkretes zu tun, und das ist
festgestellt, Dinge besprochen hat, »die zur ausschließlichen Zuständigkeit des
Führers gehören«. Besprochen waren: nicht etwa Organisationsfragen, nicht etwa
Reichsaufbau - das alles ist im Laufe der Verhandlung weggefallen, und Schulze
hat es in seinem Plädoyer auch ausdrücklich gesagt (»unterscheidet sich völlig
von allen sonstigen Fällen, da in der Erörterung von keiner Gewalt und keiner
Organisation die Rede war«), sondern, besprochen wurden Fragen der
praktisch-ethischen Forderungen des Christentums. Nichts weiter; dafür allein
werden wir verurteilt. Freisler sagte zu mir in einer
seiner Tiraden: »Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: Wir fordern
den ganzen Menschen!« Ich weiß nicht, ob die Umsitzenden das alles mitbekommen haben, denn es war eine
Art Dialog - ein geistiger zwischen F. und mir, denn Worte konnte ich nicht
viele machen -, bei dem wir uns durch und durch erkannten. Von der ganzen Bande
hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen
Bande ist er auch der einzigste, der weiß, weswegen
er mich umbringen muss. Da war nichts von »komplizierter Mensch« oder
»komplizierte Gedanken« oder »Ideologie«, sondern: »Das Feigenblatt ist ab.« Aber nur für Herrn Freisler.
Wir haben sozusagen im luftleeren Raum miteinander gesprochen. Er hat bei mir
keinen einzigen Witz auf meine Kosten gemacht, wie noch bei Delp
und bei Eugen. Nein, hier war es blutiger Ernst: »Von wem nehmen Sie Ihre
Befehle? Vom Jenseits oder von Adolf Hitler!« - »Wem gilt Ihre Treue und Ihr
Glaube?« Alles rhetorische Fragen natürlich...
Mein Herz, eben kommt Dein sehr lieber Brief. Der
erste Brief, mein Herz, in dem Du meine Stimmung und meine Lage nicht begriffen
hast. Nein, ich beschäftige mich gar nicht mit dem Iieben
Gott oder meinem Tod. Er hat die unaussprechliche Gnade, zu mir zu kommen und
sich mit mir zu beschäftigen. Ist das hoffärtig? Vielleicht. Aber er wird mir
noch so vieles vergeben heute Abend, dass ich ihn schließlich um diese letzte
Hoffart auch noch um Vergebung bitten darf. Aber ich hoffe ja, dass es nicht
hoffärtig ist, denn ich rühme ja nicht das irdene Gefäß, nein, ich rühme den
köstlichen Schatz, der sich dieses irdenen Gefäßes, dieser ganz unwürdigen Behausung
bedient hat. Nein, mein Herz, ich lese genau die Stellen der Bibel, die ich
heute auch gelesen hätte, wenn keine Verhandlung gewesen wäre, nämlich Josua
19-21, Hiob 10-12, Hesekiel 34-36, Markus 13 bis 15 und unseren zweiten Korintherbrief
zu Ende, außerdem die kleinen Stellen, die ich auf den Zettel für Dich
geschrieben habe. Bisher habe ich nur den Josua und unsere Korintherbriefstelle
gelesen, die mit dem schönen, so vertrauten, von Kind auf gehörten Satz
schließt: »Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die
Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.« Ich habe das
Gefühl, mein Herz, als wäre ich autorisiert, Dir und den Söhnchen das mit
absoluter Autorität zu sagen. Darf ich da nicht den 118. Psalm, der heute Morgen
dran war, mit vollem Recht lesen? Eugen hat ihn sich zwar für eine andere Lage
gedacht, aber er ist viel wahrer geworden, als wir es je für möglich hielten.
Mein Herz, darum bekommst Du auch Deinen Brief
trotz Deiner Bitte zurück. Ich trage Dich mit hinüber und brauche dafür kein
Zeichen, kein Symbol, nichts. Es ist nicht einmal so, dass mir verheißen wäre,
ich würde Dich nicht verlieren; nein, es ist viel mehr: ich weiß es... Der
entscheidende Satz jener Verhandlung war: »Herr Graf, eines haben das Christentum
und wir Nationalsozialisten gemeinsam, und nur dies eine: Wir verlangen den
ganzen Menschen.« Ob er sich klar war, was er damit
gesagt hat? Denk mal, wie wunderbar Gott dies sein unwürdiges Gefäß bereitet
hat: In dem Augenblick, in dem die Gefahr bestand, dass ich in aktive
Putschvorbereitung hineingezogen wurde - Stauffenberg kam am Abend des 19. zu
Peter -, wurde ich rausgenommen, damit ich frei von
jedem Zusammenhang mit der Gewaltanwendung bin und bleibe. - Dann hat er mich
in jenen sozialistischen Zug gepflanzt, der mich als Großgrundbesitzer von
allem Verdacht einer Interessenvertretung befreit. - Dann hat er mich so
gedemütigt, wie ich noch nie gedemütigt worden bin, so dass ich allen Stolz
verlieren muss, so dass ich meine Sündhaftigkeit endlich nach 38 Jahren
verstehe, so dass ich um seine Vergebung bitten, mich seiner Gnade anvertrauen
lerne. - Dann lässt er mich hierhin kommen, damit ich Dich gefestigt sehe und
frei von Gedanken an Dich und die Söhnchen werde, d.h. von sorgenden Gedanken;
er gibt mir die Zeit und Gelegenheit, alles so zu ordnen, was geordnet werden
kann, so dass alle irdischen Gedanken abfallen können. - Dann lässt er mich in
unerhörter Tiefe den Abschiedsschmerz und die Todesfurcht und die Höllenangst
erleben, damit auch das vorüber ist. - Dann stattet er mich mit Glaube,
Hoffnung und Liebe aus, mit einem Reichtum an diesen Dingen, der wahrlich
überschwänglich ist. - Dann lässt er mich mit Eugen und Delp
sprechen und klären. - Dann lässt er Rösch[1]
und König entlaufen, so dass es zu einem Jesuitenprozeß
nicht reicht und im letzten Augenblick Delp an uns
angehängt wird. -- Dann lässt er Haubach und Steitzer,
deren Fälle fremde Materie hereingebracht hätten, abtrennen und stellt
schließlich praktisch Eugen, Delp und mich allein
zusammen, und dann gibt er Eugen und Delp durch die
Hoffnung, die menschliche Hoffnung, die sie haben, jene Schwäche, die dazu
führt, dass ihre Fälle nur sekundär sind, und dadurch das Konfessionelle
weggenommen wird, und dann wird Dein Mann ausersehen, als Protestant vor allem
wegen seiner Freundschaft mit Katholiken attackiert und verurteilt zu werden,
und dadurch steht er vor Freisler nicht als
Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße,
nicht als Deutscher - das alles ist ausdrücklich in der Hauptverhandlung
ausgeschlossen, so z.B. Sperr: »Ich dachte, was für ein erstaunlicher Preuße«
-, sondern als Christ und als gar nichts anderes. »Das Feigenblatt ist ab«,
sagt Herr Freisler. Ja, jede Kategorie ist
abgestrichen - »ein Mann, der von seinen Standesgenossen natürlich abgelehnt werden
muss«, sagt Schulze. Zu welch einer gewaltigen Aufgabe ist Dein Mann ausersehen
gewesen: all die viele Arbeit, die der Herrgott mit ihm gehabt hat, die
unendlichen Umwege, die verschrobenen Zickzackkurven, die finden plötzlich in
einer Stunde am 10. Januar 1945 ihre Erklärung. Alles bekommt nachträglich
einen Sinn, der verborgen war. Mami und Papi, die Geschwister, die Söhnchen, Kreisau und seine Nöte, die Arbeitslager und das
Nichtflaggen und nicht der Partei oder ihren Gliederungen angehören, Curtis und
die englischen Reisen, Adam und Peter und Carlo, das alles ist endlich
verständlich geworden durch eine einzige Stunde. Für diese eine Stunde hat der
Herr sich all diese Mühe gegeben.
Und nun, mein Herz, komme ich zu Dir. Ich habe Dich
nirgends aufgezählt, weil Du, mein Herz, an einer ganz anderen Stelle stehst
als alle die anderen. Du bist nämlich nicht ein Mittel Gottes, um mich zu dem
zu machen, der ich bin, Du bist vielmehr ich selbst. Du bist mein 13. Kapitel
des ersten Korintherbriefes. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch.
Ohne Dich hätte ich mir Liebe schenken lassen, ich habe sie z. B. von Mami
angenommen, dankbar, glücklich, dankbar wie man ist für die Sonne, die einen wärmt.
Aber ohne Dich, mein Herz, hätte ich »der Liebe nicht«. Ich sage gar nicht,
dass ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von
mir, der mir alleine eben fehlen würde. Es ist gut, dass mir das fehlt; denn
hätte ich das, so wie Du es hast, diese größte aller Gaben, so hätte ich dem
Leiden, das ich ja sehen musste, nicht so zuschauen können und vieles andere.
Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich
vor einigen Tagen symbolisch schrieb, ein Schöpfungsgedanke. Das ist wahr,
buchstäblich wahr. Darum, mein Herz, bin ich auch gewiss, dass Du mich auf
dieser Erde nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache, die
haben wir schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein
letztes war, symbolisieren dürfen.
Ich habe ein wenig geweint, eben, nicht traurig,
nicht wehmütig, nicht weil ich zurück möchte, nein, sondern vor Dankbarkeit und
Erschütterung über diese Dokumentation Gottes. Uns ist es nicht gegeben, ihn
von Angesicht zu Angesicht zu sehen, aber wir müssen sehr erschüttert sein,
wenn wir plötzlich erkennen, dass er ein ganzes Leben hindurch am Tage als
Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor uns hergezogen ist, und dass er uns
erlaubt, das plötzlich in einem Augenblick zu sehen. Nun kann nichts mehr
geschehen...
Mein Herz, mein Leben ist vollendet, und ich kann
von mir sagen: er starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, dass ich
gerne noch etwas leben möchte, dass ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser
Erde begleitete. Aber dann bedürfte es noch eines neuen Auftrages Gottes. Der
Auftrag, für den Gott mich gemacht hat, ist erfüllt. Will er mir noch einen
neuen Auftrag geben, so werden wir es erfahren. Darum strenge Dich ruhig an,
mein Leben zu retten, falls ich den heutigen Tag überleben sollte. Vielleicht
gibt es noch einen Auftrag.
Ich höre auf, denn es ist nichts weiter zu sagen.
Ich habe auch niemanden genannt, den Du grüßen und umarmen sollst. Du weißt
selbst, wem meine Aufträge für Dich gelten. Alle unsere lieben Sprüche sind in
meinem Herzen und in Deinem Herzen. Ich aber sage Dir zum Schluss, kraft des
Schatzes, der aus mir gesprochen hat und der dieses bescheidene irdene Gefäß
erfüllt:
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe
Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei
mit Euch allen. Amen.
Nur32 Jahre alt wurde der China-Missionar Friedrich
Traub aus Korntal. In den Wirren des Boxeraufstandes schrieb er heim nach
Deutschland: Wenn Sie diesen Brief erhalten, bin ich nicht mehr unter den
Lebenden. Man hat gesagt, dass diese Nacht die Aufständischen unser Haus
anzünden und uns töten werden. Ich freue mich, den Herrn bald von Angesicht zu
Angesicht zu sehen. «
Friedrich Traub schrieb einige Lieder nieder. Dazu
meinte er, er sei sich der »unvollkommenen Form und Gedankenarmut wohl
bewusst«. Er wollte aber von seinem Glauben zur Ehre Gottes singen.
Und dennoch, wenn's auch tobt und stürmt
und Dunkel mich umhüllt,
wenn Woge sich auf Woge türmt
und fast mein Schifflein
füllt:
Ja, dennoch will ich stille sein,
nicht zagen in Gefahr,
will flüchten mich in Gott hinein
und ruhn da immerdar.
Gleich wie ein neugebornes Kind
liegt still im Mutterschoß
und trotz dem allerstärksten
Wind ist
froh und sorgenlos:
so will auch ich, mein treuer Hort,
mich dir fest anvertraun
und stille auf dein göttlich
Wort
in Nacht und Stürmen baun.
So wüte nun, du wildes Meer,
und droh nur, Felsenriff,
es ist der allgewaltge
Herr
in meinem kleinen Schiff.
Er ist der Mann, er führt's
hinaus,
obwohl ich Staub nur bin;
er bringt mich durch des Meers Gebraus
zum Friedenshafen hin.
Drum dennoch, wenn's auch tobt und stürmt
und Dunkel mich umhüllt,
vertrau ich froh, dass Gott mich schirmt
und Sturm und Wetter stillt.
Wenig später, im Juli 1901, entstand das andere Lied:
Soll ich den Kelch nicht trinken,
den mir der Vater gab?
Soll ich nach eignem Dünken
umgehen Kreuz und Grab?
Mein Vater ist doch Liebe
und kennt mein armes Herz;
ist's möglich, dass er triebe
mit mir nur
blinden Scherz?
Nein, weicht, ihr Nachtgedanken
und kehrt nie mehr zurück!
Mein Glaube darf nicht wanken,
sonst wankt und fällt mein Glück.
Er ist der einzig Weise
und hat das volle Recht,
auf eigenem Geleise
zu führen seinen Knecht.
Ich halte dich gefangen,
berechnender Verstand,
und traue ohne Bangen
der treuen Vaterhand.
Das Beste alles Guten,
das ist dein Wille, Herr;
du machtest durch dein Bluten
für uns es nicht mehr schwer.
So darf ich ohne Zagen
mich überlassen dir,
darf freudig alles tragen,
was je du auflegst mir.
Ob Leben oder Sterben
dein Kelch für mich enthält,
du lässt mich nicht verderben;
drum gib, was dir gefällt.
Wer kann schon trösten? Die Wunden, die der Schmerz
gerissen hat, können wir nicht heilen. Hilflos und ohnmächtig drücken wir still
die Hand. So drücken wir unser Mitgefühl aus.
Aber Gottes Wort kann traurige Menschen aufrichten.
Wir saßen in einem Bibelkreis mit jungen Menschen
und lasen in der Apostelgeschichte, wie Paulus einst im Gebiet der heutigen
Türkei evangelisierte. Damals kam es unter den Zuhörern zu lauten Protesten. So
tief waren sie aufgewühlt. Einige aber von ihnen kamen zum Glauben an Jesus
Christus.
Wir hatten den Text kaum zu Ende gelesen, da wurde
einer der jungen Leute plötzlich ganz aufgeregt: »Schaut bloß, was dasteht!« rief er. Und dann las er uns den Vers nochmals vor: »Als
die Bewohner das Evangelium hörten, wurden sie froh, priesen das Wort des Herrn
und wurden gläubig.« Zuerst muss man fröhlich werden,
und erst dann kommt das Glauben.
Es wäre gut, wenn wir heute mehr damit rechnen
würden, dass Gottes Wort uns auch in den traurigsten Augenblicken froh machen
kann. Das soll geschehen, immer wenn wir das Evangelium hören. Wir können
erleichtert aufatmen. Das, was wir von Jesus sagen, entmachtet den Tod jetzt
und nimmt ihm seine Schrecken.
Es gab oft wirklich trostlose Augenblicke, wo ich selbst
meinte, nicht auch nur ein einziges Wort herausbringen zu können. Da musste ich
vor Jahren ein Kind beerdigen, das durch Arzneimittel schwer verkrüppelt
geboren worden war. Nur die Eltern standen am Grab. Sie wollten unbedingt von
mir eine Ansprache. Und ich konnte nicht reden in diesem großen Schmerz. Die
Mutter weinte so erschütternd, als der kleine Sarg geschlossen wurde und konnte
sich nicht lösen von dem geliebten Kind.
Und dann Ias ich aus der
Bibel: »Gelobt sei Gott! Er hat uns nach seiner großen Barmherzigkeit neu
geboren. Nun haben wir eine lebendige Hoffnung durch die Auferstehung Jesu
Christi von den Toten.«
Auf einmal hatten wir alle wieder Boden unter den
Füßen. Und ich verstand erst später, was Paulus seinem jungen Mitarbeiter
Timotheus schrieb: »Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben
und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht - durch das Evangelium!« (2. Timotheus 1, 10).
Kein Mensch kann dem Tod wirklichen Trost
entgegensetzen. Aber der Gott, der Jesus aus dem Grab auferweckt hat, tröstet
Trauernde und richtet sie auf. Man kann es nicht verstehen. Die Gefühle sind
aufgewühlt. Das Herz ist verwundet. Bohrende Zweifel machen unsicher. Quälende
Fragen und schwere Vorwürfe lassen nicht mehr zur Ruhe kommen. Doch wenn wir
dann die gute Nachricht von Jesus hören, wie er den Tod am Ostermorgen besiegt,
dann hat der Tod keine Macht mehr über uns.
Wir sollten mehr im Evangelium lesen, gerade dann,
wenn wir völlig verzweifelt sind.
In meinem Leben habe ich bestimmt viele Menschen
enttäuscht. Ich bin kein guter Tröster. Aber das Evangelium tröstet, viel
besser als es Menschen können. Darum möchte ich allen das Evangelium von Jesus
sagen.
Einmal musste ich zu einer Beerdigung. Eine junge
Frau hatte sich das Leben genommen. Alle waren bedrückt. Ich wusste auch nicht,
was ich sagen sollte. In meiner Not beschränkte ich mich auf ein Bibelwort: Ich
erzählte, wie Jesus die schwere Last unseres Lebens mitträgt
und darunter leidet. Und wie er uns mit großer Liebe sucht und uns die ganze
schwere Not abnehmen will.
Anschließend hielt einer vom Personalrat einen
Nachruf. Er sagte: »Kollegen! Keiner von euch wusste um diese große Not, die
unsere Mitarbeiterin mit sich herumtrug. Ich kann Euch nur bitten, bringt heute
Euer Leben mit Gott in Ordnung. Das, was wir eben von Jesus Christus gehört
haben, ist wahr. Er kann alle Nöte lösen.« Plötzlich
meinte man, ein tiefes Aufatmen hören zu können. Der Tod hat nicht das letzte
Wort.
Das Evangelium von Jesus kann die unheimlichsten
und dunkelsten Schatten des Todes vertreiben. Am schwersten wird uns allen das
Singen an den offenen.Gräbern. Aber wenn wir es
trotzdem tun, dann werden wir selbst am meisten beschenkt.
Noch heute bin ich dankbar, in meiner ersten
Pfarrstelle einem ganz besonders liebenswürdigen Chefarzt im Krankenhaus
begegnet zu sein. Wenn er mich auf dem Gang traf, konnte er auf ein Zimmer
weisen: »Ich kann da nichts mehr machen. Jetzt sind Sie dran! « Was soll denn
in solch einer Stunde ein Seelsorger können? Er kann das Evangelium von Jesus
bringen. Er darf einem schwachen und kraftlosen Kranken auf seiner letzten
Wegstrecke zusprechen (Jesaja 43, 2):
»So spricht der Herr: Fürchte dich nicht, denn ich
habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein!«
Dieses Evangelium ist eine Kraft Gottes, die des
Todes Macht zerbricht. Und es macht selig alle, die daran glauben.
Ralf Altenburger aus Schorndorf war ein fröhlicher
Mensch, lebenshungrig und voll Vitalität. Als Betriebswirt arbeitete er in
München, bereiste viele Länder und trieb aktiv Sport. Im November 1986
verunglückte er mit seinem Porsche tödlich. Wenige Monate vorher, im Mai 1986, hatte
er in der Zeitschrift »Lebendige Gemeinde« den Artikel geschrieben: »Wie Jesus
mir die Angst vor dem Sterben nahm«.
Mit etwa 15 Jahren kam ich in eine Lebensphase, in
der ich allmählich eigene Gedanken entwickelte. Dabei ertappte ich mich immer
häufiger dabei, dass ich die Frage nach dem Sinn des Lebens stellte. Mich
interessierte vor allem, ob die insgesamt doch recht kurze Lebenszeit eines
Menschen auf der Erde alles ist, oder ob es nicht noch mehr gibt. Wenn ich
dabei auf mein bisheriges Dasein zurückblickte, so stellte ich fest, dass alles
eigentlich sehr schnell vergangen war und die Uhr des Lebens langsam, aber
beständig, gegen mich ablief.
Das regte mich nicht zu jugendlichem Tatendrang an,
sondern es machte mir eher ein flaues Gefühl im Magen. Es verursachte in mir
eine tiefe Unsicherheit, ja fast möchte ich sagen - Einsamkeit. Dabei war ich
doch nie ein zurückgezogener und in sich gekehrter Mensch! Bedrückend waren die
Zeitpunkte, wenn der tägliche Trubel, die ganze Ablenkung durch Freunde, Sport,
Schule, Fernsehen und solche Dinge weg waren, und ich ganz für mich allein war. Vor allem abends, vor dem Einschlafen, erfuhr ich alles
andere als ein sanftes Ruhen. Ich fühlte fehlende Geborgenheit meiner Seele.
Eines Tages jedoch erklärte mir ein Mitschüler mit
einfachen Worten: »Dadurch, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, hat er
den Tod auch für uns überwunden und schenkt uns ewiges Leben. Christus spricht:
>Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater
denn durch mich.<«
Endlich einmal eine Antwort, mit der ich etwas
anfangen konnte! Ich begann regelmäßig in der Bibel zu lesen und auch zu Jesus
zu beten. Ich wollte einfach einmal das persönliche Leben mit Jesus, das er uns
anbietet, ausprobieren und erfahren.
Heute, acht Jahre später, erlebe ich es jeden Tag
neu, wie mich Jesus begleitet. Vor allem hat meine Seele Heimat und Frieden bei
Gott gefunden. Seither darf ich mit einer tiefen, aufrichtigen Ruhe im Herzen
leben. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und ich deshalb auch leben werde. Jesus
nahm mir die Angst vor dem Sterben.
Praktisch zeigt sich dies im Alltagsleben durch
Freude und Ausgeglichenheit. Ich versuche, mich nicht an den alltäglichen
Kleinigkeiten und Problemen festzubeißen, sondern den Blick nach vorn zu richten
auf den kommenden Heiland hin.
Der Psalmvers »HERR, lehre uns bedenken, dass wir
sterben müssen, auf dass wir klug werden« trifft genau auf mich zu.
Gleichzeitig ist dies mein Wunsch für jeden Menschen, sich dieser Klugheit
nicht zu entziehen und auf das große Angebot Gottes einzugehen.
Als bei Ingeborg Kammer die schwere Krankheit im
Alter von 37 Jahren ausbrach, begegnete ihr viel Elend in den Krankenhäusern.
Die Trostlosigkeit der hoffnungslos verzweifelten Kranken hat sie nicht
losgelassen. Darum hat sie vielen von dem weitererzählt, was sie bei Jesus
Christus im Glauben fand. So berichtete sie auch in der Gemeinde über ihr
Erleben:
Es würde mir eigentlich leichter fallen, von den
Spuren Gottes in besonders schönen Situationen meines Lebens zu berichten. Aber
es ist auch kostbar, Gottes Spuren, sein Nahesein in schweren Zeiten zu
erleben.
Anfang 1974, während ich mit unserem vierten Kind
schwanger war, musste ich an Brustkrebs operiert werden. Drei Tage später trat
die Stationsärztin an mein Bett und sagte: »Ihr Kind, das Sie erwarten, müsste
den Kontrollwerten nach längst tot sein, zumindest ist es schwer hirngeschädigt.« Ich legte mich im Bett auf die andere Seite und betete
immer wieder: »Herr, halt mich fest! Herr, lass mich jetzt nur nicht rebellisch
werden gegen dich! « Nach einigen Stunden wurde ich wieder ruhiger. Viele
beteten für das Kind. Nach einem weiteren Kontrollwertsturz sollte das Kind
durch einen Kaiserschnitt geboren werden. Ich hatte zur Vorbereitung nur wenig
Zeit und bat meinen Mann zu kommen. Wir gingen in die Krankenhauskapelle und
weinten bitterlich. Dann gab ich meinem Mann das Losungsbüchlein und sagte:
»Vielleicht hat Gott einen Trost für uns.« Da las mein Mann die Tageslosung vom 2. April 1974:
»Als einer im EIend rief,
hörte der Herr und half ihm aus allen seinen Nöten.«
Und dazu ein Vers von Paul Gerhardt:
»Wenn gar kein Einz'ger
mehr auf Erden, dessen Treue du darfst trauen, alsdann will er dein Treuster
werden und nach deinem Besten schauen. Er weiß dein Leid und heimlich Grämen,
auch weiß er Zeit, dir's abzunehmen. Gib dich
zufrieden.«
Ich bat immer wieder: »Lies noch einmal und noch
einmal.« Vielmals musste mein Mann es lesen. Wie gut
war es für uns, zu merken, dass Gott schon vor langer Zeit wusste, welches Wort
wir an diesem Tag brauchten. Danach beteten wir miteinander und wurden ganz
ruhig und getrost. Eine Stunde später kam ein völlig gesundes Büble zur Welt.
Knapp drei Jahre später wurde mir nach einer
weiteren Operation gesagt, dass ich Metastasen in der Lunge hätte, die nicht zu
operieren seien. Ich war wie erschlagen. Hieß das nicht, dass ich nur noch
wenige Monate zu leben hätte? Drei Tage nach dieser Nachricht bekam ich im
Silvestergottesdienst eine Karte mit folgendem Inhalt:
»Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt eine Last
auf, aber er hilft uns auch.« - »Fang nur einmal an zu
loben fürs Vergang'ne, für die Proben seiner ewig
festen Treu. Lass nur jetzt dein banges Flehen, preise, was für dich geschehen. Seine Güt' ist täglich
neu.«
Also sollte ich nicht flehen für mich, ich sollte
vielmehr Gott loben. Diese Erfahrung hatte ich schon öfter gemacht, dass es
eine große Hilfe ist, Loblieder zu beten und zu singen, wenn man in Not ist.
Aber diesmal konnte ich es nicht. Ich wusste plötzlich nicht mehr, ob Gott mich
überhaupt noch lieb hat. Viele Sünden standen drohend vor mir im Gedächtnis,
selbst solche, die ich in der Beichte im Beisein eines anderen Menschen vor
Gott bekannt hatte. Nicht an eine gute Tat konnte ich mich erinnern, die ich
Gott hätte vorhalten können. Ich weinte tagelang immer wieder.
Wenn Gott mich nun nicht mehr lieb hat und ich mich
nun bald vor ihm verantworten muss nach meinem Tod, was dann?
Das waren die dunkelsten Tage meines Lebens.
Da fiel mir, während ich betete, der Spruch ein,
der auf dem Grabkreuz unseres dritten Kindes steht. Wir dachten damals, der
Spruch könnte eine Hilfe für andere auf dem Friedhof sein. Nun wurde er die
Hilfe für uns.
»Gott selbst, der Vater, hat euch lieb.«
Ich sprang auf, holte die Bibel und las im
Johannesevangelium nach. Jesus spricht zu seinen Jüngern (Johannes 16, 27): »Er
selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und weil ihr glaubt, dass
ich von Gott ausgegangen bin.«
Ich betete: »Vater, also musst du mich lieb haben,
denn das weißt du, dass ich Jesus Christus lieb habe und dass ich glaube, dass
er als Sohn Gottes für meine Schuld am Kreuz gestorben ist. Danke, dass du mich
lieb hast.«
So konnte mich keine alte Schuld mehr verdammen.
Die Not und Depression war vorbei. Ich konnte wieder danken und Gott loben.
Daran, dass Gott mich lieb hat, musste ich danach nie mehr zweifeln - auch
nicht, als zwei Jahre später der Bub, der durch ein Wunder gesund zur Welt kam,
in eine Spiritusexplosion geriet. Über zwei Drittel seiner Haut war verbrannt,
der größte Teil drittgradig. Tagelang hatten wir
keine Hoffnung, dass das Kind überleben würde. Monatelang bestand Lebensgefahr.
Nach dreieinhalb Monaten Krankenhaus waren dann die meisten offenen Stellen
transplantiert oder mit Narbenhaut überzogen.
In der ganzen Zeit waren wir oft mit unseren
Kräften am Ende, zumal sich der Krebsbefund bei mir laufend verschlechterte.
Ermutigend war, dass Gott uns immer wieder die Spuren seines Wirkens zeigte und
wissen ließ, dass er die Hand über uns hält, und das machte immer wieder
getrost. Zeiten der Niedergeschlagenheit blieben nicht aus; aber der lebendige
Gott hat uns aus jeder vermeintlich hoffnungslosen Lage herausgeführt, nicht
ein einziges Mal auf die gleiche Weise wie vorher. Es ist köstlich zu erfahren,
wie fantasievoll Gott einem hilft. Eigentlich immer anders, als wir dachten,
dass er helfen könnte; meistens ganz unvermutet; oft nach langer Wartezeit.
Traurig bin ich, dass ich mich trotzdem doch immer
wieder niederdrücken lasse von neuen Schwierigkeiten, obwohl wir schon so oft
das Handeln des lebendigen Herrn erlebt haben. Aber ich bin froh, dass der
Vater im Himmel barmherzig ist mit mir und immer wieder verzeiht.
Nach ärztlicher Erfahrung ist mein
Krankheitsverlauf über so viele Jahre ganz unerklärlich. Wie dankbar sind wir
darüber! Trotzdem breitet sich der Krebs jetzt immer schneller aus.
Im Sommerurlaub verlor ich die Sehkraft meines
rechten Auges. Die ärztliche Diagnose lautete: Metastase auf der Netzhaut. Vor
einigen Wochen wurden schnell wachsende Metastasen an der Leber festgestellt,
jetzt auch an einer Rippe.
Ich weiß seit Jahren an keinem Weihnachten, an
keinem Geburtstag, in keinem Frühling, ob es der Ietzte
ist, den ich erlebe. Aber in all diese Unbeständigkeit gibt Gott durch sein
Nahesein Trost und Freude.
Ein Kardinal sagte einmal:
»Jesus Christus ist nicht in die Welt gekommen um
das Leid zu erklären, sondern um es bis zum Rande mit seiner Gegenwart zu
füllen.«
Das sind die Spuren Gottes, die wir erleben.
Diese Spuren Gottes laufen - auch wenn sie durch
Leid hindurchführen - immer auf ein strahlendes Ziel zu: die Ewigkeit bei Gott.
Das wird besonders deutlich bei den Liedern von
Paul Gerhardt, der sehr viel Leid erfahren hat. Die meisten seiner Lieder
klingen aus mit dem Blick auf die Ewigkeit.
In einem seiner Lieder heißt es:
»Mich hat auf meinen Wegen manch harter Sturm
erschreckt, Blitz, Donner, Wind und Regen hat mir manch Angst erweckt. Es muss
ja durchgerungen, es muss gelitten sein. Wer nicht hat wohl gerungen, geht nicht
zur Freud hinein.
Ich wandre meine Straße, die zu der Heimat führt,
wo mich ohn alle Maße mein Vater trösten wird. Da
will ich immer wohnen, und nicht nur als ein Gast, bei denen, die mit Kronen du
ausgeschmücket hast. Da will ich herrlich singen von
deinem großen Tun und frei von schnöden Dingen in meinem Erbteil ruhn.«
Nachtrag:
Ende November verschlechterte sich Ingeborgs
Gesundheitszustand sehr schnell. Am 2. Dezember, als sie schon rechtsseitig
gelähmt war und zeitweise Bewusstseinsstörungen auftraten, diktierte sie noch
die letzten zusammenhängenden Sätze, die sie gesprochen hat:
»Es ist alles so schön. Es ist alles so schön. Ich
hab' so ein schönes Leben gehabt. Noch die Bergtour im Sommer.
Es ist so schön, so dicht vor der Ewigkeit zu
stehen.
Die Ewigkeit ist so schön! Ich gehe ganz arg gerne
dorthin, wo die Engel im höhern Chor singen: >Heilig, heilig ist der Herr
Zebaoth. Alle Lande sind seiner Ehre voll.<
Gott hat mich gewürdigt, in diesen Chor
einzustimmen. Ich will ewig, ewiglich zu meines Herrn
Lob und Ehre singen.
An meinem Leben ist nicht so arg viel. Alles, was
an mir war, war Geschenk, war Geschenk von unserem großen, gütigen Herrn. Und
wo ich jemand etwas sein konnte, so nur durch unseren gütigen Herrn. Es soll
sich niemand an mich hingen, sondern nur an diesen großen Herrn. Dann kann er
auch ein Leben führen, dass andere sich freuen an diesem Herrn. Ich bin voll
Glück und Dank.«
Am 20. Dezember 1983 holte sie der allmächtige Gott
zu sich in sein himmlisches Reich.
Am 12. Oktober 1944 wurde Alexis Freiherr von Roenne in Berlin-Plötzensee durch
den Strang hingerichtet. Er war 42 Jahre alt. Als Oberst im Generalstab warnte
er vor dem Nationalsozialismus und machte sich bei vielen unbeliebt. Aus
grundsätzlichen Gewissensbedenken konnte er beim Attentat auf Hitler am 20.
Juli 1944 nicht mitarbeiten. Dennoch wurde er nach dem Attentat verhaftet,
wieder freigelassen und dann wegen seiner persönlichen Freundschaften mit den
Führern des Widerstands zum Tode verurteilt.
Er schrieb in der Nacht vor seiner Hinrichtung an
seine Mutter:
Berlin, 11. Oktober 1944 abends
Meine einzig geliebte Mama!
Heute kam mir aus einem besonderen Anlass der
Gedanke, Dir noch einmal zu schreiben, obgleich ein kurzer Brief an Dich schon
meinen vorigen Abschiedsbriefen beiliegt. Ich weiß, dass Dich trotz Deiner
großen Sehnsucht und Freude, zum Heiland zu gehen, mitunter die Todesfurcht
einfach vor dem körperlichen Todesvorgang quälte. Und da wollte ich Dir so
gerne sagen, dass unser Herr auch die ganz fortwischen kann, wenn wir Ihn darum
bitten. Ängstige Dich also gar nicht, schon Papa sagte mir, dass unser Großpapa
sterbend ein linderndes Mittel von sich wies mit den Worten: »Es muss alles
ausgehalten werden!« So souverän stand er über dem
Sterben, ganz herrlich!
Ich selbst nun erwarte seit einer Woche von Tag zu
Tag den Tod, jetzt z.B. für morgen, und der Heiland hat in Seiner grenzenlosen
Gnade mich von allem Grauen frei gemacht. Ich bete und denke tagsüber ganz
ruhig und fast ausschließlich an Ihn und dabei natürlich an meine Liebsten,
esse mit Appetit, freue mich am Sonnenschein und habe mich nur insofern ganz
aus der Welt zu lösen versucht, als ich nicht mehr lese und mich auch möglichst
von allen militärischen und politischen Gedanken fern und nur für den Heiland
verfügbar halte. Ich gehe früh und betend zu Bett, schlafe ganz ruhig und fest
die ganze Nacht wie ein Kind und wende mich erwachend gleich Ihm zu und bin
dabei innerlich völlig frei und dazu, abgesehen von meinen Gedanken an meine kleine
Schar (seine Frau und zwei kleine Kinder), ein vollkommen glücklicher Mensch,
ein Vorgang, der hier schon oft auffiel und durch Hinweise auf Ihn erklärt
wurde.
Ich hatte mir erst selbst Gedankengänge überlegt,
die mir Kraft und Freudigkeit zum Sterben geben sollten. Da zeigte Er mir
plötzlich zwei Mittel: Vor allem soll ich mir in aller Realität mein Sterben
vergegenwärtigen und mit Seinem vergleichen. Das hat mir unendlich geholfen.
Dort der Sündlose, freiwillig viele Stunden zum Tode gemartert, hier demgegenüber
ein Augenblicksgeschehen eines Vorganges, der mir sowieso einmal und vielleicht
viel qualvoller, nach langer Krankheit, bevorstehen muss. Den Hinweis hierzu
erhielt ich durch die beiden schönen Verse: »Wenn ich einmal soll scheiden ...«
und besonders aus dem Vers: »Und lass mich seh'n dein
Bilde in deiner Kreuzesnot.« Da schämte ich mich aller
Hemmungen und wurde furchtlos. - Und dann verwies er mich noch darauf, dass ja
jeder Todesaugenblick zugleich der erste in Seiner seligen Ruhe, im Gottesfrieden,
ist.
Diese Gedanken festhaltend, sehe ich seit Tagen
stündlich der Abfahrt zu raschem Heimgang völlig ruhig und frei, mit ganz
stillen Gedanken und Puls, entgegen und habe volle Zuversicht, dass das kurze
letzte Geschehen ebenso von seiner unbeschreiblichen Gnade durchleuchtet sein
wird. Ich schreibe es Dir so genau, meine geliebte Mama, weil ich Dir damit
vielleicht in Seinem Auftrag eine kleine Hilfe geben kann.
Für mich besteht schon seit Anbeginn dieser
letzten, ausschließlichen Gnadenzeit (zweieinhalb Monate) kein Zweifel daran,
dass ich all diese unverdiente Barmherzigkeit zu einem großen Teil Deiner
jahrzehntelangen Fürbitte verdanke. Ich kann Dir mit Worten gar nicht genug
danken. Ich halte diese Deine Fürbitte für das weitaus Größte Deiner unendlichen
Liebe zu mir, und wir werden in der Ewigkeit noch davon sprechen. Ich bitte
Dich aber von ganzem Herzen, dass Du für den Rest Deiner Erdenzeit nun diese
Fürbitte auf Ursel und meine zwei Kleinen überträgst. Ach, tu es doch bitte mit
der gleichen Treue und Liebe! Es ist ein unvorstellbarer Schatz, den Du damit
meiner kleinen Schar schenkst, die ihn so bitter nötig hat. Ich weiß genau,
dass Du meine Bitte erfüllen wirst.
Ich habe natürlich auch unablässig die Meinen im
Gebet vor Ihn gebracht, an manchen bereits erkannten Erhörungen Sein Wirken
erkannt und bin von Ihm mit der Zuversicht erfüllt worden, dass, wer auf diesen
Felsen sein Vertrauen setzt, nie zuschanden werden wird. Ich habe Ihn dabei nie
um langes Erdenleben, sondern nur um Kraft und um Bewahrung vor Grauen, Not und
Lieblosigkeit gebeten und um einen seligen Heimgang.
Der Tod jetzt bedeutet mir gar nichts, aber wie
gern wäre ich mit der kleinen Schar hingegangen, die ich nun nicht hüten und
schützen kann. Doch bei solchen irdischen Gedanken erinnert mich der Herr
daran, dass ich ihr nach menschlichem Ermessen in schweren Zeiten ohnehin nicht
zur Seite gewesen wäre, und dass vor allem Er ein weit besserer Schutz ist. Wie
herrlich ist mir auch das Bewusstsein, so liebe Geschwister zu besitzen, die
ihr gewiss, so sie nur können, wie ein Block zur Seite stehen. Aber sie selbst
erleben auch schon viel Schweres, und es will mir scheinen, dass als erstes das
liebe, vertraute Lappienen nun schon im Kampfgebiet
liegt: Auch Hermanns Wirkungskreis ist sicher nicht einfach zu steuern. Und wie
mag es dem lieben Ebo ergehen, bei dem ich so oft im
Gebet bin? Diese nachrichtenmässige Trennung von Euch
allen war mir wohl oft schwer, aber zugleich wuchs das Bewußtsein
engster Verbundenheit vor Gottes Thron und vor allem der Bedeutungslosigkeit
der Erdenzeit. Immer größer wurde die Freude auf die dortige
Trennungslosigkeit. Wie unbeschreiblich herrlich wird es sein, und wie
glücklich wäre ich erst, wüsste ich meine Liebsten und Euch alle nur schon im
Gottesfrieden, leidentrückt!
Ich grüße Euch alle, die Ihr etwa jetzt in Rönkendorf seid, von ganzem Herzen und befehle Euch in
Gottes Hand und Segen! Er führe Euch gnädig auf lindem Pfaden in Sein Reich wie
mich, der ich dem Schächer gleich dorthin gelange! Ich weiß, dass Ihr nie von
meinem Liebsten lassen und besonders seines so unendlich weichen,
liebebedürftigen Herzens gedenken werdet, das Euch alle so lieb hat. Dafür und
für all die unendliche Liebe von fast 42 Jahren danke ich Euch und vor allem
Dir, meine unbeschreiblich geliebte Mama, aus tiefstem Herzen!
Reichere und innigere Liebe von seiner Mutter hat
nie ein Kind empfangen als
Dein Alecci
Letzte Briefe an seine Frau - noch vor der
Gefangenschaft geschrieben –
25. Juli 1944
Mein geliebtes Herz!
Du weißt, welche Ereignisse über Deutschland dahin ziehen,
und kannst ihre Tragweite erahnen. Es ist bei meiner Stellung gut möglich, dass
die Welle auch mich erfasst und in ihren Strudel zieht. Da will ich Dir nun ein
Wort des Abschieds, aber nur für diese Zeit auf Erden, sagen und des heißen
Dankes. Zunächst sollst Du und die Kleinen wissen,
dass ich an dem Geschehen unbeteiligt und unschuldig war, was auch immer
hernach gesagt werden mag. Alles andere ist daneben nicht wichtig. Aber einen
ungeheuren Gewinn habe ich von der so überaus ernsten Zeit gehabt: Ich bin ganz
und gar in die geöffneten Arme unseres Herrn und Heilands zurückgekehrt, die
ich im Drang der Ereignisse oft genug vergessen hatte. Ich verbringe fast alle
freie Zeit im Gebet, ein Gebet um Kraft für mich für alles Kommende und um
Segen und Hilfe für Dich, mein Allerliebstes, und die Kinder. Und ich spüre das
Geschenk der Kraft für mich so deutlich, dass ich mit der frohen Zuversicht in
alles hineingehe, dass es doch nur enden kann am Herzen Gottes im ewigen
Frieden; da scheint dann das Vorausgehende unwichtig genug und soll Dich auch
gar nicht beschäftigen: Mein inneres Auge wird jeden Augenblick hinter allem
nur die geöffneten Arme meines Herrn und Heilands sehen. Mein fester Trost und
Grund sind die Sprüche: »Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus stoßen«
und: »Wenn eure Sünde blutrot wäre, so will ich sie doch schneeweiß machen« und
dann noch die vielen Kernworte von Gottes Liebe als dem tiefsten Grund Seiner
Einstellung zu uns. Daran halte ich mich fest und gewinne Kraft und vor allem
auch die Gewissheit, dass mein heißes Flehen um Euch nichtvergeblich sein wird!
Denn Euch gelten Gebete und Gedanken vor allem und umfassen in größter Liebe
Euer ganzes kommendes Leben. Mein Allerliebstes, Du sollst in allem Schmerz
immer wieder spüren, dass Du nicht allein dem Leben gegenüber stehst: Er ist
bei Dir jeden Augenblick und mag auch meines Flehens für Euch gedenken, wenn Er
hilft - so wie Deine und Mamas Gebete mir den Weg geebnet haben. Dann aber ist
daneben die feste Zuversicht, dass wir beide einmal an Seinem Thron vereint
danken und loben werden für alle unverdiente Gnade, von denen die größte ist,
dass Er uns einst zusammenführte, wenigstens von den irdischen Gaben. Du sollst
es ganz fest wissen, dass mein ganzes Herz nur Dir gehört, mit Banden, die im
Leben nur einmal geschenkt werden können, weil sie über das Leben hinaus in die
Ewigkeit reichen. Und neben dem Dank an den Herrn gilt mein heißester,
unaufhörlicher Dir, mein geliebtes Herz, und wird der Begleiter meines
Herzschlages sein. Dank für die unaussprechliche Liebe, die Du ohne Unterlass
um mich breitetest wie einen goldenen Mantel. - Und nun unsere beiden geliebten
Kinder, die ich nach Gottes Willen ohne mich lassen muss, aber in Seiner Liebe
und Deiner Hut geborgen weiß. Sage ihnen, dass die heißen letzten Gebete ihres
Vaters und seine größte Liebe sie auf der Erdenbahn begleiten und dass ich sie
bitte, all ihre Liebe Dir zu schenken und immer, wenn sie meiner gedenken, Dir
etwas besonders Liebes zu tun als Gruß von mir. Was sie einmal werden und tun,
ist nicht wichtig. Wie sie es tun, nämlich an Gottes Hand, darauf kommt es an.
Ihr Vater hat da viel gefehlt, aber des Herrn Hand hat ihn doch nicht
losgelassen; sie will nur mit Inbrunst gesucht werden.
Sag meinen Dank auch allen anderen Lieben: Mama,
den Geschwistern, den Eltern. Sie alle haben mir, vor allem meine geliebte
Mama, viel, viel mehr Liebe geschenkt als empfangen und damit viel mehr Sonne
in mein Leben getragen, das ein so reiches und glückliches war, als sie es
gewusst haben.
Auch für sie gilt es: »Einst droben im Licht'«
Berlin-Plötzensee, 12. Oktober 1944
Königsdamm 7
Mein Allerliebstes!
Gleich gehe ich nun heim zu unserem Herrn in voller
Ruhe und Heilsgewissheit. Meine Gedanken sind in allergrößter Liebe und voll
Dank bei Dir, bei Euch.
Ich bitte Dich als letztes: Klammere Dich nur an
Ihn und habe in Ihm volle Zuversicht: Er liebt Dich.
Jeder Entschluss, den Du nach Gebet im Leben für
Euch fasst, hat meine volle Billigung und meinen Segen. Wenn Du wüsstest, wie
unvorstellbar treu Er mir im Augenblick zur Seite steht, wärst auch Du für Dein
ganzes schweres Leben gewappnet und ruhig. Er wird Dir Kraft zu allem geben.
Ich segne die beiden geliebten Kleinen und schließe
in mein letztes Gebet innig ein: Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über
ihnen und führe sie heim.
Innige Grüße und Dank meiner geliebten Mama, den
Eltern und Geschwistern. Mögen sie, von Ihm behütet, im heiß geliebten
Vaterland auch schwere Zeiten überdauern.
Dir, mein Allerliebstes, gehört meine heiße Liebe
und Dank bis zum letzten Augenblick und seligen Wiedersehn.
Gott behüte Dich.
Hans-Bernd von Haeften
war Vortragender Legationsrat im Auswärtigen Amt. Obwohl er aus Gewissensgründen
den Tyrannenmord nicht unterstützen konnte, wurde er im Zusammenhang mit dem
Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verhaftet und im Alter von 39 Jahren
hingerichtet. Kurz vor seiner Hinrichtung schrieb er an seine Frau nach der
Verhandlung vor dem Volksgerichtshof am 15. August 1944:
Meine liebe, liebste Frau, meine gute Barbara, wohl
in wenigen Stunden werde ich in Gottes Hände fallen. So will ich Abschied von
Dir nehmen. Schnell ein paar äußere Dinge...
Barbara, in diesen Haftwochen habe ich Gottes
Gericht stillgehalten und meine »unerkannte Missetat« erkannt und vor Ihm
bekannt. »Gottes Gebote halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott«
- das ist die Regel, gegen die ich verstoßen habe. Ich habe das fünfte Gebot
nicht heilig gehalten und das Gebot der Demut, des »Stilleseins und Harrens«
habe ich nicht ernst genug genommen. Vor allem habe ich nicht Liebe geübt gegen
Euch, die mir anvertraut waren. Um Euretwillen, um Muttis und der Eltern willen
hätte ich vor allem Abstand nehmen müssen. Bitte sage ihnen, zugleich mit
meinem tiefsten Dank für all ihre Hilfe und Liebe, dass ich sie herzlich bitte,
sie möchten mir verzeihen. Barbel, ich habe all
dieses getan in der Meinung und in dem Willen, recht zu tun vor Gott. In
Wahrheit war ich ungehorsam, obwohl ich ehrlich gefleht habe, Er möge mich auf
Seinen Wegen leiten, dass meine Füße nicht gleiten; sie sind geglitten. Warum?
Ich hab in all den Zweifeln wohl nicht still und geduldig genug gewartet, bis
Er Seinen Willen mir unzweideutig kundtat. Vielleicht
war es auch so Sein unergründlicher, heiliger und heilsamer Ratschluss.
Liebste Frau, ich sterbe in der Gewissheit
göttlicher Vergebung, Gnade und ewigen Heils; und in der gläubigen Zuversicht,
dass Gott all das Unheil, den Schmerz, Kummer, die Not und Verlassenheit, die
ich über Euch gebracht habe und die mir das Herz abpresst, aus Seinem
unermesslichen Erbarmen in Segen wandeln kann, dass Er Euch alle an Seinen
Vaterhänden auf Euren Erdenwegen geleiten und endlich zu Sich ziehen wird. Der
Herr, unser Erbarmer, wird auch Deinen Schmerz allmählich lindern, Deinen
Kummer sänftigen, Dein Leid stillen, Seine Liebe wird die gleiche bleiben, denn
»sie höret nimmer auf«.
Meine gute Barbara, ich danke Dir aus tiefstem
Herzen für alle Liebe und allen Segen, die Du mir in den vierzehn Jahren
unserer Ehe geschenkt hast. Bitte vergib mir allen Mangel an Liebe, ich habe
Dich viel mehr lieb, als ich Dir gezeigt habe. Aber wir haben eine Ewigkeit vor
uns, um uns Liebe zu erweisen. Dieser Gedanke sei Dir Trost in der Trübsal
Deiner Witwenjahre. Ich bin gewiss -- sei Du es auch, dass wir beide mit allen
unseren Lieben wieder vereinigt werden in Gottes unaussprechlichem Frieden (der
vollkommenste Ruhe und zugleich seligste Bewegung in göttlichem Dienst ist), in
der erlösten Seligkeit der Gotteskindschaft. Auch schon auf Erden gehörst Du
zum Leibe Christi, dessen Gliedschaft aufs innigste
erfahren wird im Sakrament des AItars, in der
Gegenwart des Herrn, der alle die Seinigen - sie mögen vor oder hinter der großen
Verwandlung stehen - auf wunderbare Weise zusammenschließt.
Betet für mich den 126. Psalm; über ihn ging die
letzte Predigt, die ich am Tage der Verhaftung in unserer Dorfkirche hörte. Und
dazu betet den 103. Psalm, lobet und danket!
Mein letzter Gedanke, liebste Frau, wird sein, dass
ich Euch, meine Lieben, des Heilands Gnade und meinen Geist in Seine Hände
befehle. So will ich glaubensfroh sterben. Und ich möchte, meine liebe Barbel, dass auch Du »die immer
heitere Frau von Haeften« bleibst! Scherze und lache
mit den Kindern, herze sie und sei fröhlich mit ihnen, sie brauchen Deine
Frohnatur, und wisse, dass nichts mehr nach meinem Sinne sein könnte.
So grüße ich Euch, meine lieben Liebsten, mit dem
alten Grußwort »Freuet Euch - freuet Euch in dem Herrn allewege und abermals
sage ich: freuet Euch!« »Und der Friede Gottes bewahre
Eure Herzen und Sinne in Christo.«
Grüße und küsse von mir unsere lieben Kinder, den
lieben Janneman, den guten Dirkus,
das treue Addalein, das köstliche Dörchen,
das süße Ulrikchen. Und Dich selbst, meine liebe
allerliebste Frau, meine gute herzliebste Barbara, Dich küsse ich und umarme
Dich und halte Dich an meinem Herzen mit den tiefsten flehendsten
Wünschen für Zeit und Ewigkeit!
Dein Hannis
Ostern ist ein grandioser Tag.
Aber an diesem Tag sollten sich die Christen
schämen. Seit dem ersten Ostertag blamieren sie sich fortwährend. Mit ihrem
kleinen Kopf können sie die gewaltige Nachricht »Christus ist auferstanden!« gar nicht fassen. Mit ihrem Verstand können sie nicht
begreifen, was da geschieht.
Es waren tapfere Leute, die mit Jesus umhergezogen
waren. Ich denke, dass keiner von uns sich im Ernst mit den treusten Freunden
Jesu messen möchte. Sie haben alles verlassen und sind Jesus nachgefolgt. Ihm
haben sie die Treue gehalten, auch da, wo viele sich von Jesus abwandten.
Aber das Ostergeschehen konnten sie einfach nicht
verstehen, obwohl Jesus es ihnen vorher angekündigt hatte. Sie konnten es nicht
begreifen, dass Jesus ihr ganzes Denken aus den Angeln hebt in seiner
Auferstehung von den Toten.
So erinnert uns die Ostergeschichte zuerst einmal
daran, was für ungläubige, unverständige Leute wir doch sind. Man kann es auch
so sagen: Wenn es nach den Christen ginge, dann wäre das Christentum schon lange
verloren.
Wenn's nach uns ginge, gäbe es schon lange kein
Ostern mehr. Was für lahme Worte machen wir um das Osterereignis herum! Man
muss sich wundern, wie es überhaupt zum großen Osterjubel kommt. Das ist das
Wunder: Jesus, der auferstandene und heute unter uns lebende Christus, erweist
sich selbst als der Herr über Tod, Teufel, Hölle und alle Mächte dieser Welt.
Er bricht auch ein in die Iaue Schläfrigkeit und den
Unglauben der Christengemeinden. Er rüttelt seine Leute auf.
Da sind immer ein paar wenige, die verstehen und
wach werden, die merken, dass die Auferstehung ihr Denken sprengt.
Aber das heißt ja auch, dass Jesus als der Sohn
Gottes heute bei mir ist, ganz real. Er lebt! Er ist Tag und Nacht um mich. Und
wenn ich einmal sterbe, darf ich mich seiner starken Hand ganz gewiss
anvertrauen. Er führt mich völlig sicher durch das Todestal.
Das weiß ich gewiss, weil Jesus Christus von den Toten auferstanden ist.
Dort auf dem Friedhof ist Jesus als der
Auferstandene den Trauernden begegnet. Er hat den Friedhof ausgewählt, weil
dort unsere Lebenshoffnungen begraben liegen. Dort bedrängen uns unheimliche
Fragen und dunkle Zweifel.
Als aber die trauernden Frauen dem lebendigen Jesus
Christus begegnen, sind sie völlig verwirrt. Sie begreifen überhaupt nichts.
Sie erschrecken und können nicht fassen, was da passiert.
Das ist wichtig, denn heute wird in manchen Kirchen
die Meinung verbreitet, der Osterglaube sei nur eine Erfindung der ersten
Christengemeinden gewesen. Sie hätten damit etwas Symbolisches ausdrücken
wollen und darum Jesus »hochgejubelt«.
Wenn man aber die Berichte des Neuen Testaments
liest, fällt auf, dass da überhaupt nicht gejubelt wird. Da wurde gezweifelt,
gedacht, gefürchtet. Niemand wollte es glauben. Alle, auch die treuen Jünger
meinten, die Auferstehung sei ein »Märchen«. Ich wünschte mir, unter den
Christen gäbe es mehr Jubel für Jesus. Aber genau das Gegenteil geschieht: Es
wird nur ganz wenig vertraut. Man schweigt. Man kann nicht glauben. Bis in
unsere Tage hinein ist das so geblieben. Aber Jesus tritt bis heute allen
Menschen gegenüber, die zweifeln. Er überführt sie durch sein Wort und auch
durch Zeichen. Er ist der lebendige Herr, der den Tod besiegt hat.
Mit 27 Jahren fiel im Krieg in Russland, südöstlich
von Charkow, der Buchdrucker Otto Zaiser. Wenige Tage
vorher bedankte er sich bei einem Kind seiner Heimatstadt Stuttgart für ein
Päckchen:
Im Osten 30. Dezember 1941
Liebes Kind Emilie! Da wir uns ja nicht näher
kennen, nehme ich an, dass Du noch ein Kind bist und dass ich Dich deshalb so
anreden darf. Am zweiten Weihnachtstag traf bei mir in meinem Quartier im
fernen großen Russland ein liebes Päckchen ein, und zwar, als ich näher hinsah,
nicht nur aus der Heimatstadt Stuttgart, sondern sogar aus der
Johannesgemeinde, mit dem schönen Namenszug Emilie St. versehen. Darüber freute
ich mich so sehr, dass ich für einen Augenblick das ganze Bild meiner fremden
Umgebung hier und überhaupt den ganzen Krieg mit all seinen Gefahren vergaß und
mich im Geist nach Hause in die liebe und traute Johannesgemeinde versetzt
fühlte. Für dieses reiche Geschenk danke ich Dir also recht herzlich und
wünsche, dass Gott, der Herr, es Dir vergelten möge zu seiner Zeit. Ja ihn, den
Vater aller Menschenkinder, brauchen wir heute besonders in dieser schweren
Kriegszeit, und besonders der Soldat ist froh und steht tausendmal sicherer im
Kampfe, wenn er weiß, dass er von einer starken unsichtbaren Hand geführt wird,
welche auch stärker ist als der Tod auf dem Schlachtfeld. Wie reich sind doch
wir Christen, zu wissen, dass, wenn wir sterben, so fallen wir nicht ins
Ungewisse, sondern ja nur in die Hände unseres Heilandes, welcher bei dem Tod
schon auf uns wartet. Ich selber bin bis jetzt vor allem Unheil der Schlacht
bewahrt worden und werde es auch im kommenden Jahr durch die Güte Gottes
weiterhin bleiben. Und dazu wird mir auch, liebes Kind, Dein sehr liebes, mit
großer Mühe und Sorgfalt geschriebenes Büchlein »Waffen des Wortes« helfen, für
das ich Dir ganz besonders danke. Zum Schluss aber möchte ich Dich und alle
Kinder der Gemeindejugend aufrufen und bitten: Liebe Kinder, betet für uns
Soldaten!
Dir und Deinen lieben Eltern ein recht gutes neues
Jahr wünschend, grüßt Dich herzlich...
Ein 20jähriger Buchbinder aus
Stuttgart-Obertürkheim schrieb am 24. Dezember 1942 aus dem eingekesselten
Stalingrad seinen letzten Brief heim. Er ist seitdem vermisst.
Es ist Heiliger Abend. Fast bin ich zu elend, um
diesen Brief schreiben zu können (50 Gramm Brot und 20 Gramm Fleisch bekamen
wir noch zu essen). Wir sind am Verhungern. Der Kreis wird immer enger, und
bald wird kein Flugzeug mehr uns etwas bringen können und auch keine Post und
keine Schwerverwundeten mehr mitnehmen. So traurig war noch kein Heiliger Abend
in meinem Leben. Das einzige, was mich noch aufrecht hält und mir das Herz
leicht gemacht hat, war die Losung, die ich heute las, sie hieß: »Mein Vater
und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf« (Psalm 27). Das
darf ich ganz persönlich als ein Geschenk am Heiligen Abend aus dem Himmel für
mich nehmen...
Der Korntaler Pfarrer Wilhelm Keller fiel am 2.
Oktober 1942 im Osten. Da er zur Konfirmation keinen Urlaub bekam, schrieb er:
Russland, am 2. März 1942 Meine lieben
Konfirmanden!
Gelt, das ist anders gekommen, als wir es uns
dachten, dass Euer Pfarrer, anstatt mit Euch den Festtag und das Abendmahl zu
feiern, verlaust und verdreckt in einem Erdloch der vordersten Linie sitzt und
mit den Tausenden von Kameraden dafür sorgt, dass der Russe nicht durchbricht.
Ich freu mich, dass ich so an meinem Teil dazu mithelfen kann, dass Ihr in der
Heimat in Ruhe Euren Festtag feiern könnt. Aber schwer ist es mir schon
gefallen, all die wichtigen Dinge, die wir noch miteinander zu bereden hatten,
jetzt nicht mit Euch durchsprechen zu können. Und ihr dürft sicher sein, dass
ich jeden Tag, und natürlich ganz besonders am Konfirmationstag, ah Euch denke
und Gott bitte, dass Er auch jede Stunde Konfirmandenunterricht segnen möge.
Und so weit sind wir ja gar nicht voneinander
entfernt, wenn auch rund zweitausend Kilometer dazwischen sind; denn ich lese
ja seit unserer letzten Unterrichtsstunde am 20. Januar jeden Tag mit einer
großen Zahl von Euch den Abschnitt der Bibellese. Ich habe sie im Transportzug
gelesen, im Schneesturm, in einem kleinen Erdloch, während die Granaten
einschlugen, hinter einer Schneemauer, vor der die toten Russen lagen. Und
jedes Mal wusste ich mich dabei mit Euch und vielen anderen Christen in der
Heimat und an der Front verbunden. Seht, da ist schon etwas von dem Spruch
wahr, den wir am Anfang unserer Stunde allemal gesprochen haben: »Siehe, ich
bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.«
Jeden Tag, wenn es irgend möglich ist, krieche ich
mit einem der Kameraden zusammen aus unserem Bunker, in dem es meist zu dunkel
ist zum Lesen, und hinter irgendeinem Schneewall gedeckt - sobald er einen
Zipfel von uns sieht, schießt der Russe - lesen wir die Losung und beten miteinander
und spüren dabei ganz genau, dass Jesus bei uns ist. Und vielleicht kommt bald
auch noch ein dritter oder vierter Kamerad von den
dreizehn Mann unseres Bunkers dazu. Sieh, darauf kommt's an, dass Du jeden Tag
mit diesem Jesus zusammenkommst und zu ihm betest, wo es auch sei; und dass Du
immer wieder einen Kameraden oder eine Kameradin findest, die die Hände mit Dir
zusammenlegen, das wünsch ich Dir zur Konfirmation. Und dass Du Dich dann auch
nach dem dritten oder vierten Mann umsiehst! Denn jeder Christ und jede
Christin ist ein Missionar. Ich weiß, es ist nicht leicht - die Kameraden
spotten gern, und man hat fast keine Zeit und ist faul- aber vergiss mir nicht
dieses tägliche Beten; es gehört zu dem, was Du an der Konfirmation
versprichst.
Am letzten Sonntag war's, kaum zwei Stunden vor
Sonnenaufgang, da stand ich an der Brustwehr auf Beobachtungsposten. Draußen
liegen viel Russen erschossen, zwei stecken gebliebene Panzer. Es ist unruhig,
überall pfeifen und krachen die Granaten, die Leuchtspurmunition der
Maschinengewehre und der Flak machen das schönste Feuerwerk. Ein paar hundert
Meter drüben liegen die Feinde; vielleicht greifen sie schon in der nächsten
halben Stunde an. Da geht über all dem Kämpfen und Schießen am hellen östlichen
Himmel unglaublich groß und prächtig der Morgenstern auf und steht strahlend
über dem allem. Jesus hat einmal gesagt: »Ich bin... der helle Morgenstern.« Er ist immer da, hell und strahlend, auch wenn's Kampf
und Dunkel und Versuchung gibt in Deinem Leben. Und das wird's geben. Denn
nicht nur von den Russen, auch vom Teufel wird scharf geschossen. »Er ist bei
Euch alle Tage bis an der Welt Ende!« Denk daran jeden
Tag! Denk an den hellen Morgenstern, der sogar noch über den Toten steht und
durchs Sterben helfen kann. Und lies einmal das Lied 48 durch: »Wie schön
leuchtet der Morgenstern.« Und wenn Du mir eine Freude
machen willst, so Iern's auswendig und bete es oft.
Siehst, es ist gar nicht so schlimm und so wichtig,
dass Euer Pfarrer nicht da ist am Konfirmationstag. Aber das ist wichtig, dass
Er, Jesus, bei Euch ist, am Palmsonntag und »alle Tage«. Und der ist da. Es
fragt sich nur, wie Du Dich zu ihm stellst. Und das Schlimmste wäre, wenn ein
Tag käme, wo Du sagst: »Jesus, ich will dich nicht mehr bei mir haben!« Aber los bekommst Du ihn auch dann nicht.
Und jetzt behüte Dich Gott, in der Schule, im
Pflichtjahr, in der Lehre, wo Du auch bist. Und ich feiere Deinen Festtag mit,
weil der gleiche Mann Jesus Christus bei mir und bei Dir ist, »alle Tage« und
bis an der Welt Ende. Grüße Deine Eltern herzlich von mir. Ich wünsch Euch
allen einen frohen und gesegneten Festtag und Dir ganz besonders!
Im Juli 1944 fiel Pfarrer G. Sch. aus Pfullingen in
Russland. Im Januar 1944 schrieb er, eingekesselt von feindlichen Truppen:
Ein schwerer Morgen steht uns bevor. Ich weiß
nicht, ob, nicht wie ich ihn überstehen werde. Viele Panzer stehen vor unserem
Abschnitt. Wir halten schon seit Tagen einen Brückenkopf. Nun ist der Feind auf
Einbruchsnähe umfassend an uns heran. Und wir sind nur noch ein kümmerliches
Häuflein. Ich gehe im schweren Granathagel durch die dünnen Reihen und bringe
zu meinen geduckten Männern eine Flasche mit Schnaps, Zigaretten, ein Stück
meines Brotes, aufrecht und fröhlich und sage laut: »Es kann dir nichts
geschehen, denn was Gott hat ersehen und was dir nützlich ist«, und manchmal
sage ich: »Ich steh in meines Herren Hand und will drin stehen bleiben.« Wir haben wieder alle die Zehen, die Ohren erfroren. Das
Hemd, die ganze Kleidung stinkt vor Dreck. Wir schneiden aus den heiligen
Ikonentüchern Fußlappen und Wundenbinden. Mein Doktor hängt wie ein Gebirge an
mir; er ist zusammengebrochen und weint nur noch. Es ist ein Kampf um Meter.
Bitter ist das; aber auch groß, irgendwie ist Gott näher als an gewöhnlichen
Tagen. - Es ist ein immerwährendes Gebären. Bewähren.
Er lasse mir das feste Herz erhalten! Ich bin Ihm
dankbar, dass Er mir half. Und wenn ich falle, darfst Du meinem Sohn verkünden,
dass Gott in den Schlachten einhergeht - wie ein Riese so groß, wie ein Vater
so gut, wie ein Engel so hell. - Er nimmt Euch keinen Vater, ohne Euch sich
selbst zum Vater zu geben. Die Lebensformen wechseln:.
Wenn unsere Kinder andere Gewänder tragen werden - so ist Christus doch nie ans
Zeitliche gebunden. Lehre sie weiter die Hände falten, dann werden sie für all
ihr Leben gesegnet sein.
Im Alter von 20 Jahren fiel im 2. Weltkrieg, am 4.
August 1943, der Student H.S. aus Oberesslingen. In einem seiner letzten Briefe
aus Russland schrieb er im Juli 1943:
...Eben habe ich meine Morgenwache gehalten. Es ist
doch einfach prächtig, und es hat mir wieder eine große Freude bereitet, dass
mein Denken und Fühlen da ist, wo viele andere Lieben zur selben Zeit das
Gleiche tun und sich an Gottes Wort aufrichten, die Eltern und Verwandten
daheim, ich in Russland und so viel andere feine Menschen. Der Morgen ist sehr
schön, wunderbar ging die Sonne auf. Alles ist wieder voll Schönheit, und auch
ich bin wieder zuversichtlich und bin sehr ruhig. -
Die alten Choräle sind gleich neben die Bibel zu
stellen. Die güldne Sonne z.B. hat mich heute so gefreut und getröstet. Es ist
so, und ich zweifle nicht daran, dass dieser Zustand nicht immer dauern wird,
sondern bald sich wieder in einen besseren verwandelt. »Nach Meeresbrausen und
Windessausen leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht. Freude die Fülle und
selige Stille darf ich erwarten im himmlischen Garten.«
Darauf freue ich mich unsagbar.
Oder das wunderbare Lied: »Befiehl du deine Wege.« Da könnte ich jeden Vers herschreiben,
so gut passen sie alle. »Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.«
Auch wenn ich schon lange keinen Weg mehr sehe:
»Weg hast du allerwegen, an Mitteln fehlt dir's nicht!« » Gott wird dich aus
der Höhle, da dich der Kummer plagt, mit großen Gnaden rücken, erwarte nur die
Zeit!« Und dann der Vers, der immer gilt: »Auf, auf,
gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht; lass fahren, was das Herze betrübt
und traurig macht. Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll; Gott
sitzt im Regimente und führet alles wohl.« Das löst
einem doch alle Verkrampfung und Qual in wunderbarer Weise. Ja, Paul Gerhardt!
Bei solchen Verheißungen finde ich dann auch das
ganz natürlich: »Er wird zwar eine Weile mit seinem Trost verziehn
und tun an seinem Teile, als hätt in seinem Sinn er
deiner sich begeben und solltst du für und für in
Angst und Nöten schweben, als frag er nichts nach dir.«
Das passt alles wie zugeschnitten auf meine Lage. »Wird's aber sich befinden,
dass du ihm treu verbleibst, so wird er dich entbinden, da du's am mindsten gläubst; er wird dein
Herz entladen von der so schweren Last, die du zu keinem Schaden bisher
getragen hast.«
Und siehst Du, darauf freue ich mich mächtig, und
darauf bin ich immer froher geworden, und ich hoffe, dass nun meine
Niedergeschlagenheit endgültig vorbei ist. Ich will mich auch durch den Arger
mit den Kameraden, der am Mittag wieder anfangen wird, jetzt nicht mehr beirren
lassen und mich der Gnade Gottes freuen. Gott wird mir dabei helfen.
In der Schlacht von Stalingrad 1942/43 ist auch der
Landwirt aus dem württembergischen Hildrizhausen vermisst, der in seinen
letzten Briefen nach Hause schrieb:
23. August 1942
Meine Lieben!
...Von Stalingrad sind wir noch vierzig Kilometer
entfernt. ...Der Russe wehrt sich verzweifelt...Heute ist ja Sonntag...Wie
schön wäre es doch, wenn man wieder einmal in die Kirche gehen und Gottes Wort
hören könnte. Doch darf man ja auch hier den Segen des Wortes Gottes verspüren.
In meinem Büchlein steht heute: »Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass.
Seid dankbar in allen Dingen, denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an
euch« (1. Thessalonicher 5, 16-18). »Barmherziger Gott, lass mein Herz tönen,
damit es dein Lob singe. Erlöse mein Leben von dem Missklang des Murrens und
Klagens. Lass mir deine Gnade groß und herrlich werden, damit meine Lippen
deinen Ruhm verkündigen.« Solche Worte können einem immer
wieder Halt und Kraft geben.
Seid in herzlicher Liebe alle recht herzlich
gegrüßt und Gott befohlen
Euer Gotthilf
1. November 1942
Heut ist ja wieder Sonntag. Doch hier ist bei Tag
und
Nacht immer das beständige Schießen. Wenn die
Bomben einschlagen, da zittert alles. Wenn die Kämpfe hier noch Iange dauern, so bleibt kein Stein auf dem andern. Wie gut
ist es doch, wenn man weiß: »Ich steh in meines Herren Hand.«
Da darf man ruhig und gefasst bleiben, auch wenn alles wankt und fällt. Es ist
ein großer Trost, wenn man sagen kann: »Leben wir, so leben wir dem Herrn;
sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum wir leben oder sterben, so sind
wir des Herrn.«
4. November 1942
Unsere Division ist bereits aufgerieben, und mit so
wenig Mann immer wieder angreifen, geht nicht mehr. Doch man hat täglich noch
zu danken, wenn man noch nicht so erfrieren muss. In der Nacht kommen immer
feindliche Flieger. Man sieht da am besten, wie man auf die Gnade und
Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist. Heute Abend war ich auf Wache mit unserem
Sanitäter. Da haben wir am Gespräch gemerkt, dass ein jeder einen
Gleichgesinnten gefunden hat.
31. Dezember 1942
In wie viel Gefechten stand doch ein jeder von uns
im vergangenen Jahr, auch Ihr daheim seid ja durch die Fliegerangriffe sehr
vielem ausgesetzt... Auch im neuen Jahr wollen wir wie im alten uns von der
Hand unsres himmlischen Vaters führen lassen und wollen es immer mehr lernen,
dass wir mit seinen Führungen stille und zufrieden
sein können. So wollen wir uns auch für das neue Jahr zurufen lassen: Jesus
Christus, gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit. Wenn wir uns an ihn
halten, so dürfen wir auch im neuen Jahr nicht verzagen, auch wenn es dunkel um
uns her ist.
Wenn man zurückblickt am Schluss solch eines
Jahres, so hat man viel zu danken und muss bekennen: »In wie viel Not hat nicht
der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.«
Aus dem letzten Brief aus Stalingrad, als für die
Eingeschlossenen nur noch die Luftverbindung möglich war:
...Lenkst du durch Wüsten meine Reise ich folg und
lehne mich auf dich, du gibst mir aus den Wolken Speise und labest aus dem
Felsen mich. Ich traue deinen Wunderwegen, sie enden sich in Lieb und Segen,
genug, wenn ich dich bei mir hab'. Ich weiß, wen du willst herrlich zieren und über
Sonn' und Sterne führen, den führest du zuvor hinab.
Das war ein gewaltiger Augenblick, als Jesus vom
Tode auferweckt wurde. Der Felsbrocken, der das Grab verschloss, rollte zur
Seite. Die Wächter fielen erschrocken zu Boden. Sie waren mutige und
kampftrainierte römische Legionäre. Was da aber geschah, überwältigte sie. Und
das sorgfältig angebrachte Siegel zerbrach.
Eine noch viel größere Erschütterung gab es in der
unsichtbaren Welt. Bisher konnte der Tod unumschränkt wüten. Jetzt musste er
seine sichere Beute hergeben. Der Tod wird bezwungen durch das Leben. Jesus
bleibt nicht im Tod, sondern besiegt den Tod. Der Tod ist verschlungen in den
Sieg!
Müsste Jesus jetzt nicht der ungläubigen Welt
erscheinen? Der Kaiser in Rom müsste Jesus in seiner Herrlichkeit sehen! Dann
würde er in seinem machtvollen Pomp erbleichen. Das riesige römische Weltreich
ist doch nichts angesichts der Größe Jesu.
Wenigstens dem hochnäsigen Statthalter Pilatus
müsste Jesus gegenübertreten. Dann würde sein spöttisches Lächeln verfliegen.
Der Hohe Rat würde aufschrecken. Kaiphas müsste
zusammenzucken.
Die Ungläubigen müssten den auferstandenen Jesus
sehen. Ihm glauben sie nicht. Seiner spotten sie. Ihn lehnen sie ab. Sie wollen
ihn als Herrn und Christus nicht einmal zur Kenntnis nehmen.
Aber Jesus erscheint nicht den Mächtigen der Welt -
jetzt nicht. Wir wissen, dass er einmal in seiner Herrlichkeit erscheinen wird.
Dann werden alle über Jesu Macht und Größe erschrecken. Das wird am Ende der
Welt sein. Heute nicht. Jesus, der Ostersieger, verzichtet darauf.
Er erscheint seinen treuen Freunden. Er liebte sie
bis ans Ende. Darum kümmert er sich jetzt auch zuerst um sie. Er sorgt sich um
ihren Glauben.
Da hatten sie sich in einem kleinen Raum in
Jerusalem versammelt. Aus lauter Angst verschlossen sie die Türe. Dorthin geht
Jesus und spricht »Friede sei mit euch!«
Jesus sucht den Petrus auf. Dieser ist ganz
schwermütig, weil er seinen Herrn verleugnet hat. Nun quält dieser
leidenschaftliche Mann sich mit Vorwürfen! Ihm begegnet der Auferstandene. Er
sucht auch die Maria Magdalena aus dem Dorf Magdala, die in ihrem Schmerz
völlig verzweifelt ist.
Weinend steht Maria Magdalena vor dem Grab. Ich
verstehe sie gut. Wer kennt nicht Trauer? Wer weiß nicht, wie das ist, wenn man
den liebsten Menschen verloren hat? Und für Maria war Jesus nicht nur ein
Mensch, sondern der Heiland und Retter. Kein Schmerz geht wohl so tief, wie
wenn der Tod unsere liebsten Angehörigen wegreißt. Viele weinen Tränen der
Verzweiflung, der Trauer und Hoffnungslosigkeit. Wer kann sie trösten?
Der Park des Josef von Arimathia
war sicher besonders hübsch angelegt und gepflegt. Dort blühten herrlich die
Büsche und bunte Blumenbeete waren angelegt. Doch davon steht kein Wort in der
Bibel. Maria sieht das nicht. Sie kann an nichts anderes mehr denken als an
jenen schweren Schmerz, den sie getroffen hat.
Wie lieb sind die Blumen an den Gräbern gemeint!
Doch trösten kann das nicht. In ihrer Frühlingspracht kann die Natur
unvergleichlich wunderbar sein. Aber das Grauen des Todes kann die Natur nicht
wegnehmen. Vogelgezwitscher klingt wunderschön. Die Schrecken des Todes aber
werden dadurch nicht verdrängt.
»Sie haben meinen Herrn weggenommen!« klagt Maria. In ihrem schweren Schmerz hat sie nicht
einmal den Trost der Engel, der Gottesboten, verstanden. Das ging ganz über sie
hinweg. So schwer kann Traurigkeit sein. Sie meint, die Leiche Jesu sei
irgendwo versteckt.
Maria hing besonders an Jesus. Sie glaubte von
ganzem Herzen an ihn. Es ist ja das Geheimnis des Glaubens, dass hier eine ganz
tiefe und innige Liebesverbindung mit Jesus erwächst. Das ist
die Mitte und der Kern eines Christenlebens. Wir sind nicht Christen, weil wir
einen besonderen Lebensstil haben oder weil wir eine besonders geprägte
religiöse Gemeinschaft suchen. Auch noch nicht allein deswegen, weil wir uns um
soziale oder mitmenschliche Nöte kümmern, kann man uns Christen nennen. Wir
sind doch nur Christen, wenn wir eine ganz persönliche und unmittelbare
Beziehung zu Jesus haben.
Doch diese ist nun durch den Tod plötzlich
abgebrochen. Darum weint Maria so verzweifelt.
Es gibt viele, die auch so sprechen könnten:
»Einmal hatte ich eine enge Beziehung zu Jesus. Früher, als ich zum Glauben
kam, hatte ich meine stille Zeit und betete viel. Dann aber haben sie meinen
Herrn weggenommen.«
Da brachen Zweifel auf. Man konnte das Evangelium
nicht mehr glauben. Kritik machte sich breit. Vielleicht waren auch andere
daran beteiligt, die den Glauben ins Wanken brachten und die Zweifel schürten.
»Sie haben meinen Herrn weggenommen!« Sie haben Jesus
weggetragen wie jeden anderen Leichnam.
Nur die Erinnerung blieb, wenn auch ein wenig
wehmütig. Jesus ist dann nur noch ein Überbleibsel aus längst vergangener Zeit,
eine dunkle historische Figur. Auch Bücher können es gewesen sein, die das
bewirkten: »Sie haben meinen Herrn weggenommen!« Viele
Christen sind verzweifelt und verunsichert im Glauben, seitdem sie Jesus nicht
mehr als Christus erkennen können.
Solche Leute lässt Jesus nicht im Ungewissen
stehen. Darum tritt der Auferstandene zu Maria Magdalena: »Maria«! sagt er nur.
Daran erkennt sie Jesus. So hat er damals zu ihr gesprochen, als er sie aus
ihrer dunklen Nacht herausholte.
Genauso ruft heute Jesus Christus in unser Leben
hinein und gibt sich uns zu erkennen. Das Bibelwort brennt da plötzlich in Herz
und Gewissen. Und sein Reden erquickt, tröstet und macht Mut.
Maria von Magdala wurde eine treue Zeugin des Auferstandenen.
Sie ging zu den Jüngern und erzählte ihnen vom Sieg Jesu. Das wird auch unsere
Aufgabe sein, in eine ungläubige und gottlose Welt hineinzugehen und ihr
weiterzusagen, dass Jesus heute Menschen begegnet und sie im Glauben gewiss
macht.
Der Pfarrer Werner Hennig aus Tüngental
bei Schwäbisch Hall fiel in der schweren Schlacht bei Orel
am 6. August 1943.
Im Osten, 28. September 1941
Es ging sehr hart zu, und die Hälfte meiner
Batterie, soweit sie im Kampf war, ist ausgefallen. Und doch, in all dem habe
ich nicht nur so viel bewahrende Güte Gottes erfahren dürfen, sondern was mir
noch weit mehr ist: Ich habe mich gerade in den schwierigsten Stunden immer so
geborgen und so reich in ihm wissen dürfen, dass mein Herz von einer ganz neuen
tröstlichen Freude, ja fast möchte ich sagen: »Seligkeit« erfüllt ist. Weißt
Du, »geborgen«, das meine ich nicht in dem Sinn, als könne mir nichts
geschehen, sondern so: Mir kann alles geschehen, aber in allem kommt Gott zu
mir, und in allem ist mein Heiland bei mir und bei den Meinen daheim. Auch
heute weiß ich nicht, ob ich heimkehren darf noch einmal, aber ich bin frei von
aller Unruhe und frei von allem Fordernwollen. Und
ich bin so fröhlich im Wissen um die köstliche Perle!
In dieser unserer gemeinsamen Freude grüße ich Dich
dankbar und treu
Dein Werner
Am Christfest 1941
Ihr lieben, lieben Eltern! Lasst Euch erzählen, wie
schön der Heilige Abend war, trotzdem vorher alles so dunkel und so trübe
aussah und auch ich fast am Ende meiner Kraft sein wollte. Am 23. entschied es
sich erst endgültig, dass wir die nächsten Tage noch hier sind, und da bekam
ich also endgültig den Auftrag, die Kirche zu richten für die Weihnachtsfeier
und diese selber zu halten. Ich war nicht sehr glücklich darüber, denn an mir
selber zehrte das Heimweh und der Überdruss. Es
kostete auch ziemlich Mühe, Christbäume zu holen (vier Stunden lang mussten wir
dabei durch achtzig bis hundert Zentimeter hohen Pulverschnee waten, und oft
meinte ich, einfach nimmer weiter zu können), dann musste auch die Kirche
gerichtet und geheizt werden (sie war ganz und gar ausgeräumt). Auch die
geistliche Vorbereitung in der großen Unruhe des Quartiers war nicht leicht,
aber je mehr es dem Heiligen Abend zuging, desto freier wurde ich, und meine
innere Freude wuchs.
Und dann war alles so fein: In der dunklen, hohen Kirche
standen unsere fünf Bäume in einem Halbkreis im sonst leeren Chor der Kirche
inmitten vieler Tannenzweige. Drei hatten Kerzen. Und dann kamen die Männer und
die Offiziere alle und füllten den Raum der Kirche, still und fast feierlich,
und als wir dann miteinander sangen, das war so unsagbar fein in der dunklen,
in den Lichterschein der Kerzen eingetauchten
russischen Kirche. Ich las die Weihnachtsgeschichte, sprach kurz, und wir
beteten, und alles war eingehüllt in unsere alten Weihnachtslieder. Dann gingen
wir wieder in unsere Quartiere, still und froh. Das heißt, ich ging noch in das
Haus, in dem die Kranken der Abteilung liegen, die auch ein wenig Weihnachten
feiern wollten. Und als ich dann durch den Schnee und durch die kalte
Winternacht wieder in mein Häusle ging, da war ich
sehr, sehr froh und zugleich tief beschämt über meinen Kleinglauben.
Ostersonntag, 24. April 1942
Draußen scheint die helle Ostersonne und lässt zum
ersten Male die kommende Wärme ahnen, lässt spüren, dass Gott diese Welt nicht
verlassen hat und ihr neues Leben schenken will; 's ist wie ein Wunder.
Doch meine Freude heute darf noch tiefer gehen. Ich
weiß nicht, ob Ihr solches verstehen könnt, was ich nun schreibe, als sei es
etwas Besonderes. Und doch war es für mich etwas Erschütterndes - in einem so
beglückenden Sinn. Am Morgen waren wir wieder draußen beim
Schneeschippen, und meine Gedanken wanderten so hell in diesen Ostermorgen
hinein. Auf einmal klang irgendwoher hinter den nächsten Wäldern hervor der
Klang dreier Glocken - es mögen vielleicht auch nur Pflugscharen gewesen sein
oder sonst ein klingendes Metall, aber es klang wie das Geläute eines
Dorfkirchleins. Ob Ihr verstehen könnt, wie da eine unsagbare Freude mein Herz
erfüllte? Ein Stückle Heimat tat sich vor mir auf, ja noch mehr: Meine Seele
öffnete sich weit, und solches Läuten war mir wie ein Stück lang entbehrten
Gottesdienstes. Weiß Gott, wenn ich gekonnt hätte, ich wäre dem Läuten
nachgegangen, und wenn ich auch nur noch zum Schlussgebet eines Gottesdienstes
recht gekommen wäre.
Vielleicht lud solches Läuten zu einem
Feldgottesdienst, vielleicht feierten die Russen irgendwo ihr Ostern, ich weiß
es nicht.
Ich weiß nur, dass meine Seele so glücklich und so
fröhlich ward, und dass ich über allem Schweren den lebendigen Herrn so
tröstlich stehen sah und dass ich nichts anderes zu tun wusste, wie unsere
frohen Osterlieder zu singen - Ostern in Russland!
Ich kann nur danken und kann nur mit immer neuer tröstlicher
Zuversicht in das kommende Schwere hinein gehen. Denn das steht in Eurem wie in
meinem Leben so fest wie ein Fels, was da an Ostern geschah: »Siehe, ich bin
bei Euch alle Tage ...«
28. Mai 1942
...Ich liege als Gefechtsvorposten in einem Dorf,
von dem nur noch Aschehäufchen übrig sind. Im Halbkreis um uns liegt der Feind,
und zwischen beiden Linien wie üblich zerschossene Panzer und Tote. Und doch
grünen die Wiesen, grünen die Birken, und die Lerchen singen ihr helles Lied in
jeden Tag hinein. Das Fragen nach der Rückkehr habe ich fast verlernt, und
hineindenken, wie es dann wohl daheim wäre, kann ich mich fast nimmer. Jeder
Tag ist ein Schritt auf dem Weg, den Gott mich führt, und ich kann nur mehr in
aller Demut immer neu um den kindlichen Glauben bitten, der um den hellen
Schein im Herzen weiß und dem Schwachen Kraft gibt.
Mir ist nicht schwer ums Herz. »Gottes Brünnlein
hat Wassers die Fülle«, und ich will mich bescheiden in dem Weg, den Gott für
mich bestimmt hat. So viel Liebe darf ich erfahren, dass mein Herz immer neu so
reich sich weiß. Ich danke Dir von Herzen für die Treue, mit der Du an mich
denkst. Das ist so viel wert für uns »Abgeschnittene«.
Aus Russland 1942
Ich habe hier in meinem Glaubensleben solche klare
Höhen erklimmen dürfen, wie vorher nicht. Ich habe meinen Heiland sehen und
erleben dürfen, ja, ich weiß von Stunden, da Er mir ganz nahe war, so dass ich
Ihn bei mir wusste wie einen Lebendigen.
Aber weiter bin ich auch nicht gekommen, als zu
dem, was Du mir in Deinem letzten Brief schreibst: »Ich habe dem Herrn nichts
weiter zu bringen als meine totale Armut, mein Versagen auf der ganzen Linie.
Ich kann ihm auch nur ganz leere Hände hinhalten mit der Bitte: »Nimm mir, was
mich quält, und gib mir, was mir fehlt.« Ja, Mütterle,
wir haben die gleiche Wanderschaft und wir wollen gleiche Wandergenossen
bleiben. Ich will nur eines sein: so arm, dass ich Jesu Stimme hören kann, mit
der Er die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft, und so hungrig und durstig,
dass Er mich erquicken kann. Hier ist der Friede für mich und für Dich. Ich bin
nichts, Christus ist alles. Das sage ich nicht aus anerzogener Demut, sondern
weil mein Leben nichts anderes sehen lässt.
Die Tage zerrinnen mir unter den Fingern. Ich bin
nicht lebensmatt und nicht müde, aber ich freue mich von Herzen auf den Tag,
der mir den Herrn bringen wird...
16. April 1943
... Ich danke Dir von Herzen, Mütterle, dass Du
mich so teilhaben lässest an all dem, was Dich
innerlich bewegt und segnet, dass ich Dich in Deine Bibelstunden hinein begleiten
darf und mit Dir Trost und Kraft darinnen finden. Du machst mir eine große
Freude damit. Die Kalenderzettel lese ich erst einmal selber - und wollte wohl,
ich wüsste unter meinen Kameraden welche, denen ich mit dem Weitergeben eine
Freude machen könnte, sie würden sie wenigstens ernsthaft lesen. Aber in dieser
Beziehung ist es recht kalt um mich her: Menschen, die stumpf sind und keinen
Zusammenhang mit dem Christentum haben, oder andere, die der Überzeugung leben,
mit diesem Krieg beginne auch im religiösen Leben eine neue Zeit, und das
Christentum sei am Sterben. Der Kreis der jungen Offiziere zum Beispiel, mit
dem ich persönlich und kameradschaftlich sehr gut stehe und auskomme, ist
überwiegend mindestens im stillen dieser Überzeugung und erwartet es als eine
logische, mir gegenüber recht offen zugegebene Folgerung (wohlgemerkt, ohne
dass sie parteimäßig eingestellt sind und ohne irgendwelches ablehnende Gefühl
einem Christentum gegenüber, das einfach den natürlichen Weg des Absterbens
geht), dass die Kirchen andern Zwecken zugeführt werden, dass mein Beruf
aufhört, ein Beruf zu sein, dass die Gemeinden aussterben ...
Juni 1943
Der Abschied fällt mir nicht schwer, denn wir
werden uns wieder sehen, dort, wo keine Not mehr sein wird und keine Tränen.
Das ist Euer Größtes gewesen, dass Ihr mir allezeit und in allem geholfen habt,
zu meinem Heiland zu finden. »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« - darum bin ich
getrost und fröhlich und gesegnet. - Nichts kann uns scheiden von der Liebe
Gottes.
17. Juni 1943
Wir liegen immer noch in der gleichen Ecke, in der
wir die Schlacht um Orel mitmachten und harren neuer
Dinge. Es brodelt tüchtig unter der Decke bei uns, aber das, worauf wir warten,
blieb noch aus. Doch »wie Gott mich führt, so will ich gehn«,
und das Feine ist, dass auf dieser Straße die Freude und das Loben nie
verstummen.
Abschiedsbrief an meine Gemeinde (geschrieben
Oktober 1941 während des Vormarsches auf Moskau).
Wenn diese Zeilen zu Euch kommen, dann wisst Ihr,
dass Gott mich zu sich gerufen hat aus Eurer Mitte heraus, denn ich habe mich
bei allem Getrenntsein nie anders gewusst als einen
der Euren. Ein kurzer, froher Gruß mag mein Letztes sein, was ich Euch geben
kann.
Ich bin meine Straße fröhlich gegangen mitten durch
alle Schrecknisse des Krieges hindurch und bin reich geworden in all der Armut
des stillen Heimwehs. Mein. Letztes an Euch kann nichts anderes sein wie ein
fröhliches Lobsingen, wie ein helles, jubilierendes Osterlied: »Ich habe seine
Herrlichkeit gesehen«, Christus ist mir gewesen wie ein Fels, wie ein Bruder,
und gerade in den schwersten Stunden war er mir so nahe, dass mir keine WeIt und kein Tod eine Erschütterung sein konnte. Wenn ich
scheiden muss von Euch und von den Meinen, wenn ich nimmer heimkehren darf,
dann weiß ich das eine so ganz gewiss: Ich darf in die Heimat, ich darf zu
meinem Heiland!
Über ein Weilchen, dann darf ich wieder bei Euch
sein, in jener Gemeinde, die über allem Erdenweh
steht. Lasset Euch nicht beirren durch die Welt und nicht durch das, was von
der Welt her noch auf Euch einstürmen wird. »Seid nüchtern und wachet und
kämpft den guten Kampf des Glaubens.« Und »Was hülfe
es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner
Seele!« Mein Leben klingt nur in einem Ton aus und der
heißt: »Lobe den Herren, o meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes
getan hat.«
Meine Augen sind weit empor gerichtet, und über
allem Schweren erfüllt mich das eine so fröhlich:
Gloria sei dir gesungen
mit Menschen und mit Engelszungen
mit Harfen und mit Zimbeln schön!
Gott befohlen, Euer Pfarrer W. H.
Warum reden eigentlich Christen heute so wenig von
der Ewigkeit?
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als ob die
Gedanken an die Ewigkeit verdrängt würden. Wird nicht oft krampfhaft versucht,
biblische Aussagen allein diesseitig zu verstehen?
Vielleicht meinen manche auch, es wäre unehrlich,
ja unredlich, über die Grenzen der Sichtbarkeit hinaus zu hoffen.
Mit solchen Einwänden haben wir uns alle
auseinanderzusetzen. Wir fürchten leere menschliche Wunschträume, die man sich
selbst einredet. Wir alle sind von den Zweifeln irgendwie geprägt. Darum
leuchtet es uns viel mehr ein, hier schon auf der Erde den neuen Himmel und die
neue Erde zu schaffen. Und vor lauter Glauben an den menschlichen Fortschritt
vergisst mancher die Ewigkeit.
Doch Jesus weist uns immer wieder auf sein Kommen
am Ende der Welt hin. Dreimal spricht er im letzten Kapitel der Bibel: »Ich
komme bald!« Man müsste schon vernagelt sein oder
taube Ohren haben, um diese Ankündigung zu überhören.
Schonungslos hat Jesus in der Offenbarung des
Johannes seiner Gemeinde die Leiden und Ängste und Schmerzen der aus allen
Wunden blutenden Welt enthüllt. Die Gemeinde ist dennoch nicht fassungslos. Sie
ist geborgen in Jesu Wort: »Siehe, ich komme bald!«
Und das tröstet! Kein Freund, kein noch so lieber
Mensch, kann uns auf dem letzten schweren Weg begleiten. Niemand kann uns mehr
auf dem letzten Weg hinab ins finstere Todestal
halten. Doch die einzige Zuversicht im Glauben wird immer stärker: »Jesus kommt
bald! « - In deine Hände befehle ich mich!
Warum hört man unter Christen so wenig von dieser
Erwartung? Sind wir für sein Kommen noch nicht gerüstet? Sind wir nicht bereit?
Es scheint typisch menschlich zu sein, sich vor der
Erscheinung Gottes zu fürchten. Die Christenheit hat sich immer leichter getan,
sich mit den Mächtigen der Welt zu verbrüdern, als fröhlich des »lieben
Jüngsten Tages« zu warten.
Es ist Gottes Geist, der in der wartenden Gemeinde
Jesu ruft: »Amen, komm, Herr Jesus!«
Darum hat das sehnsüchtige Warten der Christen nichts
mit Weltflucht oder egoistischen Träumen zu tun. Es ist ein gewaltiges Wirken
des Geistes Gottes. Unser Glaube muss weit hinausgreifen über die Grenzen der
sichtbaren Welt. Dafür ist Jesus in seinem Wort der verlässliche Zeuge. Er
versiegelt das gültige Offenbarungswort.
Wie bittere Welterfahrungen
wir auch gemacht haben: Am Ende der Weltgeschichte wartet Jesus auf uns. Für
alle, die ihn lieb haben, muss am Ende alles gut werden.
Während über der Welt noch der Rauch der
schrecklichen Weltbrände des Gerichtes Gottes liegt, sieht die glaubende
Gemeinde in Jesus den Morgenstern, der den letzten Tag der Welterlösung
ankündigt (Offenbarung 22, 16).
Und mitten auf dem beschwerlichen Weg der Gemeinde,
durch die Leiden der Zeit, lädt Jesus Abgekämpfte und Erschöpfte ein: »Wen da
dürstet, der komme!« Er möchte unseren Durst schon
heute an seinen Quellen stillen.
Wie wunderbar wird das erst in der Ewigkeit sein!
Auf dem Pariser Friedhof Pere
Lachaise stand ich vor dem Denkmal der Toten. Alt und
jung, vornehm und gering, Mann und Weib - alle müssen durch die dunkle Pforte
schreiten, willig oder unwillig, unentrinnbar. Ob der Künstler wohl angedeutet
hat, was auf der anderen Seite ist? Nein, da war nur der rohe Stein... Weiß der
Christ etwas von dem, was unser dort wartet?
Von London fuhr ich nach Cornwall. Drüben ragten
die grauen Mauern vom Windsorschloß. Hatte nicht
König Eduard VII. eben noch stark an der Spitze eines gewaltigen Reiches
gethront? Jetzt lag sein Leib dort in der alten Gruft, und seine Seele stand
vor Gott - nicht mehr König, nicht mehr Engländer - nur noch Mensch.
Auf dem Dampfer, der mich nach Amerika trug, hockte
immer wieder auf derselben Stufe ein altes Mütterchen, nach Tracht und Aussehen
wohl aus einem Balkandorf kommend. Entweder ging der Rosenkranz durch ihre
zittrigen Hände, oder sie sang mit seltsam leiser Stimme wehmütige Weisen in
einer mir unbekannten Sprache. Ob es nicht so war?
Ihr Sohn war ausgewandert und hatte es nun zu einer
gesicherten Stellung gebracht, so dass er seine alte Mutter rufen konnte. Und
sie hatte das große Wagnis unternommen, war mit der Bahn bis Bremerhaven
gereist und hatte dann das Schiff bestiegen. Man merkte, dass ihr das alles
unheimlich war. Vielleicht konnte sie sich von Amerika auch keine allzu klaren
Vorstellungen machen. Aber eins hatte ihr den Mut zu der großen Fahrt gegeben:
dass er da ist und auf sie wartet! - Wenn wir weiter nichts von der anderen
Seite wüssten, als dass Jesus da ist, so wäre das schon genug.
Als ich todkrank in Maissur
in Südindien lag, habe ich einmal lange vergeblich versucht, mich auf meinen
Namen zu besinnen. Er fiel mir nicht mehr ein. Aber hell leuchtete mir der Name
Jesus - ein Sinnbild dafür, dass uns im Sterben alles versinkt, wirklich alles
- aber Er bleibt! Das war in jenen schweren Wochen mein wundersamer Trost: Du
bist bei mir!
Wenn wir sterben, mögen liebende Menschen noch so hingebungsvoll um uns sein - den Schritt durch die dunkle
Pforte müssen wir allein tun. Und doch nicht allein, wenn wir die Gewissheit im
Herzen tragen: Du bist bei mir! - Du, dem ich ins Herz schaue, wenn ich auf das
Kreuz von Golgatha blicke. Wie wird es sein, wenn der Christ drüben zum ersten
Male stammelnd sagen kann: Du bist bei mir! - Das ist ja die seltsame
Ähnlichkeit zwischen Sterben und Beten: in beidem tritt der Mensch allein vor
Gott. Wer es im Beten gelernt hat, wird es im Sterben können.
Wir alle gehen dem Gericht entgegen. Da wird es
sein, als ob der heilige Richter uns vor eine Waage führt. In die eine Schale
legt er hinein, was er für uns getan hat; in die andere müssen wir das legen,
was wir ihm bringen. Kommst du da mit deinen kirchlichen Papieren oder deinen
frommen Stimmungen und Vorsätzen? »Gewogen und zu leicht gefunden!« -- Oder
bringst du deine geistlichen Erfahrungen, deine Bekehrung und Heiligung oder
deinen Dienst an Gottes Reich? »Gewogen und zu leicht gefunden!« - Aber da
kommt ein schlichtes Menschenkind. »Eigenes kann ich dir nicht bringen. >An
mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd'. Aber -, was Christus mir
gegeben, das ist der Liebe wert.< Und das lege ich
in die Waagschale - deine gekreuzigte Liebe, du mein Herr und Heiland!« - Und
siehe, das Gleichgewicht ist da; denn das ist es, was Gott in die andere Schale
gelegt hat...
Mögen Kinder beschließen, dass morgen die Sonne
nicht aufgehen soll - sie wird ihnen ins Gesicht lachen, wenn ihre Stunde
gekommen ist. So mögen die Leute der Christenhoffnung spotten, dass der Herr
wiederkommen wird, sein herrlich Reich zu vollenden. Aber ändern können sie
nichts an der Wahrheit aller Wahrheiten, dass Jesus der ewige Sieger ist, der
über jedem Menschenleben und jedem Volke und der Menschheit und aller Kreatur
das letzte Wort sprechen wird in dieser und das erste, ewig die Richtung
bestimmende in der kommenden Weltzeit. Wer im eigenen Leben etwas erfahren hat
von der schöpferisch-erlösenden Macht des
Auferstandenen und ein wenig zu Hause ist in der innersten Geschichte seiner
Gemeinde, der treuen Schar der Armen im Geiste, derer das Himmelreich ist, der kennt
das herrliche Ziel der Weltgeschichte:
»Wieder zusammengefasst unter einem Haupt wird all
das in dem Christus, was in den Himmeln und auf Erden ist!«
Paul le Seur
Wehmütig klingt das Lied:
»Ich wäre ja so gerne noch geblieben,
aber der Wagen, der rollt!«
Nicht immer muss das traurig stimmen. Junge
Menschen stürmen im Tatendrang davon. Sie brennen darauf, neue Entdeckungen zu
machen. Darum freuen sie sich, wenn es vorwärts geht.
Wer aber den jähen Stillstand des rollenden Wagens
fürchtet, der mag in seinen Gedanken immer wieder rückwärts träumen. War damals
nicht das Leben herrlich? Nein! Wie leicht verdrängt das AIter
Ängste und Schrecken der vergangenen Tage und verklärt sie golden.
Es muss sehr langweilig sein, immer nur rückwärts
zu sinnen und von einst zu reden. Menschen, denen Jesus Christus begegnet ist,
schauen gespannt vorwärts. Das Schönste kommt noch!
Die Bibel macht nicht viel Worte vom Sterben.
Selbst bei den großen Gestalten des Glaubens findet man nur einen Satz: »Und
Abraham verschied und starb in einem guten Alter, als er alt und lebenssatt war.«
Er war nicht gebrochen in seinem Lebensmut, nicht
verbittert mit den Menschen.
Ein Leben lang wohnte er nur in Zelten. Eine feste
Heimat kannte er nicht. Er war und blieb ein Wanderer zur großen Ewigkeit. »Er
wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und
Schöpfer Gott ist«, heißt es im Brief an die Hebräer Kapitel 11, 10.
Gleichzeitig war er ein tüchtiger Weltmann von
Format. Er verhandelte mit den Königen seiner Zeit und wurde von ihnen hoch
geachtet. Doch sein Herz sehnte sich nach der neuen Welt Gottes.
Paul Gerhardt dichtete den Liedvers:
»So will ich zwar nun treiben mein Leben durch die
Welt;
doch denk ich nicht zu bleiben in diesem fremden
Zelt.
Ich wandre meine Straße, die zu der Heimat führt,
da mich ohn alle Maße
mein Vater trösten wird.«
Meist wird das Alter missverstanden, als ob dort
das Leben sich erschöpfe. Dabei vollendet sich in biblischer Schau im Alter
häufig genug die Reife und die Erfüllung des Lebens.
Lebenssatt meint ja nicht den Überdruss an Leben.
Satt sein bedeutet nun wirklich nicht, zu viel gekostet zu haben. Es ist das
dankbare Genießen des Gehabten und die gestillte Sehnsucht, die nicht nach
immer mehr verlangt.
Und dennoch verschweigt Gottes Wort nicht das
Fremde am Sterben. Der Tod bleibt, auch im Leben der im Glauben Schauenden, der
Feind. Im hebräischen Urwort für abscheiden klingt das Widernatürliche des
Sterbens an, die Unnatur. Das Leben wird zerbrochen und zerstört.
»Herr, Iehre uns
bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!«
Der Schrecken des Todes und die Finsternis des
Sterbens lasten schwer auf unserer Welt. Dass wir dennoch im Frieden heimgehen
dürfen, das hat uns Jesus Christus möglich gemacht. Er legt sein Leben im
Sterben in des Vaters Hände. Er allein kann auch uns aus der Gottesferne des
Todes herausführen.
Jesus Christus spricht:
»Ich bin die Auferstehung und das Leben.
Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er
stirbt.
Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird
nimmermehr sterben.«
Die Zahl der Opfer an Missionaren hat sich nie
genau ermitteln lassen, die in den Unruhen im Sommer 1900 in China umgekommen
sind. Die chinesische Kaiserin erlaubte den geheimen buddhistisch-taoistischen
Geisterkämpfern, meist Boxer genannt, Ausländer zu verfolgen und ihren Besitz
zu zerstören. Es kam zu schweren Ausschreitungen. Häuser wurden niedergebrannt
und viele Missionare umgebracht.
Jahre voller Glück
Die Missionarin Lizzie Atwater schrieb am 3. August 1900 an ihre Familie, 12 Tage
bevor sie mit sechs anderen Missionaren im nördlichen Teil der Provinz Shansi ermordet wurde:
Meine Lieben,
ich sehne mich danach, Euch zu sehen, aber ich
fürchte, dass wir uns auf Erden nicht mehr wieder sehen werden. Ich bin bereit
zu sterben und sehe allem ruhig und gefasst entgegen. Der Herr ist mir ganz
spürbar nahe, und Er wird mich nicht verlassen. Ich war sehr unruhig und
nervös, als es noch eine Möglichkeit des Überlebens zu geben schien. Doch Gott
nahm mir diese Hoffnung; und nun bete ich um Gnade, damit ich tapfer die
Todesstunde durchstehen kann. Mein kleines Baby wird mit mir gehen. Ich bin
gewiss, dass der Herr es mir im Himmel schenken wird, und meine geliebte Mutter
wird sich sehr freuen, uns zu sehen. Ich kann mir nicht ausmalen, wie der
Empfang des Heilands sein wird. Oh, dies wird all diese Tage des bangen Wartens
aufwiegen. Meine Lieben, bleibt eng mit dem Herrn verbunden und hängt Euer Herz
nicht an die vergänglichen Dinge dieser Welt. Anders ist es nicht möglich, den
Frieden Gottes zu erhalten, der alles Denken übersteigt...
Ich muss Ruhe bewahren, gerade in diesen Stunden.
Ich bedaure es keinesfalls, nach China gekommen zu sein, aber mir tut es leid,
dass ich so wenig tun konnte. Die zwei Jahre seit meiner Hochzeit waren Jahre
voller Glück. Mein geliebter Mann und ich werden zusammen heimgehen.
Ich hatte immer große Angst vor der Trennung. Falls
wir dem allem hier entkommen sollten, wäre dies ein großes Wunder.
Ich grüße Euch und alle lieben Freunde, die an mich
denken, in großer Liebe.
Seid nicht traurig!
Der schottische Missionar Duncan Kay und seine Frau
versteckten sich zusammen mit einigen Missionarinnen auf Bitten chinesischer
Freunde in Höhlen auf den Bergen. »Wir stehen euch bei, auch wenn es uns das
Leben kosten sollte«, sagten die einheimischen Christen. - » Und wir bleiben
hier, bis man uns hinauswirft!« erklärten die
Missionare.
Aus ihrem Versteck konnte Frau Kay einen Brief an
ihre drei Kinder, die in einer Missionsschule der China-Inland Mission waren,
hinausschmuggeln lassen. Darin schrieb sie:
Wir werden täglich von zwielichtigen Gestalten
belästigt, die unser Geld wollen. Nun haben wir keinen Pfennig mehr. Es bleibt
uns nichts anderes mehr übrig, als zu versuchen, in die Stadt zurückzukehren.
Dies wird aber sehr schwierig sein. Überall auf den Straßen sind diese
Menschen, die uns an das Leben wollen. Ich schreibe diesen Brief, als ob es der
letzte ist. Wer weiß, wir mögen vielleicht ja schon bald bei Jesus sein. Dieser
Brief wird nicht lang, aber er soll Euch zeigen, wie sehr wir Euch lieb haben.
Wir bitten Euch, nicht zu traurig zu sein, wenn Ihrr
die Nachricht unseres Todes erhaltet. Wir haben Euch
alle in die Hände unseres Gottes anbefohlen. Er wird sich jedem von Euch
annehmen. Versucht, rechtschaffen zu sein. Liebt Gott! Glaubt an den Herrn
Jesus Christus! Das ist der letzte Wunsch Eurer lieben Eltern.
In großer Liebe
Papa, Mama und die kleine Jenny
An den Leiden Christi teilhaben
»Wir stehen in Gottes Hand!«
sagte Missionar Willie Peat,
als er von chinesischen Christen in Höhlen zusammen mit seiner Frau, zwei
Töchtern und zwei Missionarinnen versteckt wurde. »Ich fürchte kein Unglück,
denn du, Herr, bist bei mir.«
Die Krankenschwester Edith Dobson schrieb in ihrem
letzten Brief: »Wir wissen, dass nichts passieren kann, was Gott nicht zulässt.
Darum brauchen wir uns nicht zu ängstigen. Gottes Gnade reicht für alles aus.«
In einem letzten Brief an seine Mutter schrieb Willie Peat:
»Die Soldaten sind uns dicht auf den Fersen, und
mir reicht es gerade noch, Euch ein kurzes >Auf Wiedersehen< zu
schreiben. Wir werden bald bei Jesus sein, was auch viel besser für uns ist.
Uns tut es leid um Euch, die Ihr zurück bleibt, und um
die lieben einheimischen Christen.
Auf Wiedersehen! Und dies wird nicht mehr lange
dauern; spätestens, wenn der Herr Jesus wiederkommt. Wir freuen uns, an den
Leiden Christi teilzuhaben, dass - wenn Seine Herrlichkeit offenbar werden wird
- wir uns mit überschwänglicher Freude freuen werden. Gott, unser Vater, ist
bei uns, und wir werden zu Ihm gehen. Wir werden Euch alle dort wieder sehen,
um ewig vereint bei Ihm zu sein.«
Und seine Frau ergänzte noch: »Unser himmlischer
Vater ist bei uns und wir gehen zu ihm. Wir vertrauen darauf, vor seinem
Angesicht Euch alle wieder zu sehen und dann für immer beieinander bei Jesus zu
sein.«
Am 30. August 1900 wurden sie alle ermordet.
Lieber Freund und Lehrer! Ich will heute nur ein
paar Worte schreiben, aber in den nächsten Wochen wird der Brief wohl fertig
werden. Ich bin sehr traurig in meinem Herzen. Ich haben
letzten Mittwoch, den 12. April, meine Mutter begraben. Ich soll Dich von ihr
grüßen mit ihrem letzten Gruß, und sie lässt sich auch noch bedanken für alles
Gute, was Du an ihr getan hast. Siehe, so will ich Dir das schreiben und
ausrichten.
Mutter ist ihres Lebens alt geworden: 72 Jahre, 6
Monde und 5 Tage. Davon ist sie beinahe 6 Jahre hier bei mir gewesen. Als ich
ihr die Freikarte rüberschickte, da ist sie ganz gern gefahren, weil wir uns
über 30 Jahre nicht gesehen hatten und weil sie alt wurde und nicht mehr so
recht arbeiten konnte. Aber es ist ihr hier so gegangen, wie den meisten, die
alt rüberkommen. Sie ist das Heimweh nicht mehr losgeworden. Es ging ihr damit
gerade so, wie dem alten Fehlandt. Der hatte es hier
bei seinen Kindern auch gut; aber es fehlte ihm was, das konnte das Land
Amerika ihm nicht geben, so groß und reich es auch ist. Alte Bäume verpflanzen
sich schlecht. Sie fangen an zu quienen und gehen so nach und nach ein.
Mutter ist auch hier nie ganz zu Hause gewesen. Wir
haben alles getan, was wir ihr an den Augen abgucken konnten. Wir haben sie auf
den Händen getragen. Sie hat kein ungutes Wort zu hören gekriegt. Aber das Land
war ihr fremd, das Haus war ihr fremd und die Wirtschaft zu weitschichtig.
Unsere Kinder waren groß und brauchten nicht mehr auf dem Arm getragen zu
werden. Auch gab es hier keine Gössel zu hüten und keine Küken, was sonst ja
ganz gut ist für die Alten. Und den ganzen Tag Strümpfe stricken und stopfen,
das ging doch auch nicht. Die Hände in den Schoß Iegen
und still sitzen, das konnte sie nicht; denn sie hat es nicht gelernt, und im
Schaukelstuhl hat sie nie recht gelegen. Sie sprach: Ich will mit dem Sitzen
und Liegen auf meine alten Tage nicht mehr umlernen. Zum Sitzen bei Tag ist der
Stuhl da und zum Schlafen bei Nacht das Bett, und mit so'n
Mitteldings, was nicht mal feststeht auf seinen Beinen, damit will ich nichts
zu schaffen haben.
Aber nun ist sie tot, und am letzten Mittwoch haben
wir sie begraben.
Sie ist nicht lange krank gewesen. Wir hatten dies
Frühjahr scharfen Wind, und da kriegte sie es auf der Brust. Ich holte den
Doktor heimlich: denn das wollte sie auch nicht. Er sprach ihr gut zu. Aber draußen
sagte er zu mir, dass sie wohl nicht mehr werden würde. Die Tropfen, die er ihr
verschrieb, die hat sie willig eingenommen. Aber dabei ist ihr Essen immer
weniger geworden, und sie wurde immer schwächer. Ihre Finger waren zuletzt ganz
dünn und nichts als Haut und Knochen.
In der letzten Zeit habe ich oft und lange an ihrem
Bett gesessen und ihre Hand gehalten, und wir haben viele gute Worte
miteinander gesprochen. In den Wochen bin ich eigentlich, solange ich hier bin,
zum ersten Mal so ganz zur Besinnung gekommen. Da bei meiner alten Mutter am
Bett, da ist all der Arbeitskram und die Arbeitssorge von mir abgefallen wie
ein fremder Rock, und ich bin bloß noch meiner Mutter ihr großer Jung gewesen.
Sie hat zu mir gesagt: »Du bist zu scharf im Arbeiten. Du musst nicht so hart
schaffen. Du musst dir Zeit lassen, dass du mal zur Besinnung kommst. Besinnung
tut dem Menschen nötig, denn er ist nicht bloß zum Arbeiten da. Du hast deine meisten
Sensen verbraucht und dein meistes Korn gedroschen. Deine letzte Ernte kommt
früh genug. Da brauchst du gar nicht so doll zu laufen.«
So hat Mutter zu mir gesprochen, denn ihr Leben war Arbeit und Mühseligkeit.
Darum, so habe ich mir's aufmerksam in mein Herz
genommen und mein Leben überdacht. Und siehe, sie hat recht.
Eine Mutter hat immer recht, wenn sie zu ihren Kindern
spricht. Denn sie sucht ihrer Kinder Bestes und findet es auch.
Meist aber haben wir von zu Hause gesprochen. Sie
hat auch oft davon erzählt, dass Du den Alten im Dorf, die nicht mehr zur
Kirche gehen konnten, Sonntag Abend in der Schule immer und all die Jahre eine
Predigt von Harms oder Schleven vorgelesen hast, und
von der Weihnachtsfeier, die Du den Kindern und Alten im Dorf in der Schule
machst und wozu sich alle schon vom Herbst an freuen. Dabei sagte sie: »Für die
Alten im Dorf war das Leben im Winter ohne Weihnachtsfeier und Predigt in der
Schule wie eine griese Jacke.«
Auch hat sie mir viel erzählt aus ihrer Kinderzeit, wo ich nichts von wusste.
Denn es ist mit den Menschen also: Wenn sie alt werden und die Beine wollen
nicht mehr vorwärts, dann fangen die Gedanken an zu wandern und wandern
rückwärts.
Einmal hat sie zu mir gesagt: »Wenn ich an die alte
Zeit zurückdenke und dann wieder an heute, das ist mir, als ob ich bloß aus
einer Stube in die andere gehe. Bloß in der Tür ist das Dunkel. Aber da kommt
man denn wohl auch durch.« Siehe, das sagte die alte
Frau da in ihrem Bett. Da hörte ich in Ehrfurcht zu und streckte ihr die Hand
entgegen und sprach: »Mudding, was du eben gesagt hast, das könnte ganz gut im
Psalm stehen, bloß mit ein bisschen anderen Wörtern.«
Unterdes war es schummerig geworden, aber Wieschen hatte draußen noch zu tun.
Da sagte sie ganz leise, als wenn sie sich schämte: »Jürnjakob«,
sagte sie, »du kannst mir mal einen Kuss geben. Mich hat so lange keiner mehr
geküsst. Ich habe eigentlich bloß dreimal im Leben einen Kuss gekriegt. Einmal,
als ich mit Jürnjochen Hochzeit machte. Das andere
Mal, als du geboren wurdest. Das dritte Mal, als Jürnjochen
starb. Nun will ich mich fertig machen und ihm nachgehen. So kannst du mir noch
einen mit auf den Weg geben.« Ich aber sprach:
»Mudding, das geht mir gerade so wie dir, und ich sehe, dass ich dein Sohn bin.
Da haben wir beide was nachzuholen.«
So habe ich mich ganz sacht über sie gebückt und
sie richtig geküsst, und sie hat mich über die Backen gestrakt,
als wenn ich noch ein kleiner Junge war. Dann legte sie sich zurück und war
ganz zufrieden. Als ich dann aber draußen beim Vieh stand, da war ich in meinem
Herzen richtig erstaunt und sprach zu mir: »Jürnjakob
Swehn, da liegt nun eine alte Frau und will sterben,
und das ist deine Mutter, und du hast sie im Leben nicht kennen gelernt. Siehe,
so lernst du sie im Sterben kennen.«
Als aber der Tag zu Ende war, da kam ein anderer,
und das war der letzte. Es war ein Sonnabend. Ihr Essen und Trinken, das war
nicht mehr, als wenn ein kleiner Vogel essen und trinken tut. Als die Arbeit
fertig war und es schon schummerte, da saß ich wieder an ihrem Bett und hielt
ihre Hand, und der Puls ging sehr schnell. Lange Zeit saßen wir da im
Schummern. Es war ganz feierlich wie in der Kirche, wenn vorn auf dem Altar die
beiden Lichter brennen, weil Abendmahl ist. Ja, daran dachte ich, als ich ihre
Augen sah. Es waren sonst ganz gewöhnliche blaue Augen; aber an dem Tag ging
ein Schein von ihnen aus, den sah ich sonst nicht in dieser Welt. Aber nun sah
ich ihn mit meiner Seele. Wieschen machte Licht und gab ihr mit freundlichen
Worten was zu trinken; denn die Lippen waren trocken. »So, Jürnjakob«,
sagte sie dann, »nun lies mir was aus der Bibel vor.«
So las ich ihr die Geschichte vom Lazarus vor, und
als es zu Ende war, sagte sie: »Da ist ein Psalm, den will ich noch gerne
hören. Ich weiß nicht, woans er anfangen tut. Aber da
ist was von Säen und Ernten drin.« - »Ich weiß schon,
Mudding, welchen du meinst«, sagte ich und schlug den 126. auf und las: »Wenn
der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann
werden wir sein wie die Träumenden.« - »Hörst du,
Mudding? Wie die Träumenden!« - »Ich höre, mein Sohn.«
- Und ich las weiter bis zum Schluss: »Sie gehen hin und weinen und tragen
edlen Samen und kommen mit Freuden - mit Freuden, Mudding! - »und bringen ihre
Garben.« - »Ich hab man keine Garben, wenn ich ankomm.« - »Ja, Mudding, wenn's danach geht, dann kommen wir alle
nackt an und haben nichts in der Hand.« Sie schwieg
eine Weile. Dann sagte sie: »Nimm das Gesangbuch und lies: Christus, der ist
mein Leben!« So las ich den Gesang, und sie hatte die
Hände gefaltet und leise mitgesprochen, und als ich zu Ende war, da sagte sie:
»Das ist schön. Das hat unser Lehrer auch mit den Schülern gesungen, als Jürnjochen gestorben war. Und nun lies noch: Wenn ich
einmal soll scheiden! « So las ich die beiden Verse.
Dann gab Wieschen ihr wieder zu trinken, und sie
nickte ihr zu und drückte ihr die Hand, und ein Küchelchen
hat sie auch noch gegessen, und als ich sie nötigte, noch einen halben. Als sie
den auf hatte, freute ich mich: »0 Mudding, wat is dat schön, dat du en beten eten hest. Du sast
man seihn, wenn dat nu ierst warm ward, denn ward dat ok
wedder beter mit di.« Da rakte sie leise mit der Hand
über die Bettdecke, sah mich an und sprach: »Beter warden?
Dor is nich an tau denken.
Du mösst blot no beden, dat dat
nicht mehr so lang' duert.« - Lieber Freund, als sie
das so sagte, da ging mir das mitten durch meine Seele; denn ich hatte mich
eben noch zu ihrem Essen gefreut.
Dann rakte sie wieder
leise über die Decke, und ihre Seele war sehr müde. Ich aber überdachte ihr
Leben, als es zu Ende ging, und fand nichts als Mühe und Not. Dann faltete sie
die Hände wieder und sah mich still und fest an, und ihre Augen waren groß und
tief. Da war schon etwas drin, was sonst nicht drin war. Das kann ich nicht mit
Worten beschreiben. Da konnte man hineinsehen wie in einen tiefen See. Ich Iegte meine Hand ganz sacht wieder auf ihre Hände, und wir
warteten. Aber nicht mehr lange. Dann sagte sie noch mal was. Sie sagte: »Ick wull, dat
ick in'n Himmel wer. Mi ward de Tid
all lang.« - Lieber Freund, das behalte ich mein Leben
lang bis an meinen Tod. Das könnte, so wie es ist, ganz gut im Gesangbuch
stehen. Dann betete sie ganz leise: »Hilf, Gott, allzeit, mach mich bereit zur
ewigen Freud und Seligkeit. Amen!«
Als sie das Amen gesagt hatte, da drehte sie den
Kopf so'n bisschen nach links rum, als wenn da wer
kommen tat. Und da ist auch einer gekommen. Den habe ich nicht mit meinen Augen
gesehen und mit meinen Ohren gehört. Der hat sie bei der Hand genommen und da
ist ihre Seele ganz leise mitgegangen, richtig so, als wenn man aus einer Stube
in die andere geht. So ist sie nach Hause gegangen, als wenn ein müdes Kind
abends nach Hause geht. Und nun ist sie nicht mehr in einem fremden Lande.
»Nach schwerer, in glaubensvoller Tapferkeit
getragener Krankheit wissen wir seit dem 16. Februar 1989 meine innig geliebte
Frau, unsere beste Mama... in der Fürsorge unseres Heilands und Erlösers.« So formulierte ich in der Traueranzeige. Es war der
Versuch, unser Geborgensein trotz allen schrecklichen Erlebens in Worten
zusammenzufassen.
Hinter mir lagen zwölf Jahre Ehe mit einer
ausgesprochen anmutigen Frau, aufopfernd und mütterlich im Umgang mit den
Kindern, überaus ästhetisch begabt, eine mich in allen Belangen stützende und
tragende Gattin. Gela hatte trotz ihres eher zurückhaltenden Wesens eine große
Ausstrahlungskraft. Als 1984 die Krebserkrankung entdeckt wurde, war Miriam
fünf, Benjamin drei Jahre alt. Trotz schwerer Operationen und Chemotherapie
erlebten wir Wunder Gottes, so z.B.: Gela war äußerlich nahezu nicht gekennzeichnet
von den Schlägen ihrer Krankheit. Wir konnten Urlaub machen, fast zwei Jahre
konnte sie noch in unserem Haus wohnen, das sie mitgestaltet hatte. Doch von
allem Materiellen, sogar von ihren geliebten Kindern konnte sie loslassen. Und
sie konnte zu Hause sterben. Vorher schenkte uns Gott - entgegen ärztlicher
Prognosen in ihrer letzten Lebensphase - noch sieben weitere gemeinsame Wochen.
Wenn ich meine Frau in diesen Wochen abends segnete
und mit ihr betete, sprach ich ihr das Christus-Wort aus Offenbarung 1, 17 zu:
»Fürchte dich nicht. Siehe, ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige!«, und ich sagte ihren Namen. Selbst, mit eigenen Worten,
konnte ich keinen Trost geben. Auf meine gelegentliche Frage, ob sie sich
fürchte, konnte sie mit einem klaren »Nein« antworten. Getröstet zu sein - das
ging schließlich auf mich über, und es begleitet mich bis heute.
Das verhindert nicht klaffende Wunden in der Seele.
Doch tiefer noch ist die Erfahrung, dass unser Erleben kein sinnlos, tragisches
Schicksal ist, sondern dass Gott Regie führt. Davon möchte ich berichten. Schon
kurze Zeit nach Entstehung ihrer Erkrankung 1984 wurde ich nachts telefonisch
ins Krankenhaus gerufen, um Abschied von meiner Frau zu nehmen. Zwar rangen die
Ärzte um ihr Leben, doch hatte wohl keiner mehr Hoffnung, dass Gela den Morgen
erleben würde. Am Bett las ich Psalmworte vor, wir beteten, sie wartete auf das
irdische Ende - und vorbei an allen Prognosen, Statistiken und Bulletins gab
Gott ihr das Leben mit Hilfe bis dahin noch kaum erprobter Verfahren dank
mutiger Arzte für weitere vier Jahre und drei Monate zurück. Beschämt hat mich,
dass einer von ihnen in seiner eigenen Unsicherheit sich auf seine Weise an
Gott wandte und für Geh eine Messe lesen ließ.
Wie exakt Gott Regie führte, erfuhren wir auch 1986
bei einem weiteren Eingriff. Tage nach der Operation war urplötzlich eine
bedrohliche, schier ausweglose Situation entstanden. Doch im richtigen Moment
stand die nötige Ärztekombination bereit. Telefon und Aufzug waren zur Stelle,
ich saß als »Feuermelder« am Krankenbett. Minuten später wäre es zu spät
gewesen.
Freunde, die mich, nachdem sich die Aufzugtüren
geschlossen hatten, zeitlich passgenau vor der Klinik auflasen und beten
halfen, bestätigten mir wieder, dass Gott die Finger im Spiel hatte.
Wie liebevoll begegnete uns Gott durch den Brief
einer Diakonisse am letzten Abend, bevor Gela schließlich ins Koma fiel. Wenige
Zeilen, aber wichtiger als ein Bücherschrank voller wissenschaftlicher
Abhandlungen: »Will es dunkeln, lass mir funkeln deiner Gnade hellen Strahl;
Gott der Klarheit und der Wahrheit, führe mich im dunklen Tal. Herr, ich suche,
Herr, ich finde meine Ruhe nur in Dir; gib den Segen deinem Kinde und bewahre
Du ihn mir.« Und sie fügte persönlich hinzu: »Wie oft
haben wir dem Herrn gedankt, wenn Er Ihnen Besserung schenkte. Im Augenblick
umbeten wir Sie sehr, liebe Frau Schön. Der Herr weiß, was er Ihnen zumuten
kann. In diesem Leidens- und Läuterungsprozess ist Er Ihnen hebend nahe und
lässt Sie keinen Augenblick allein. Es ist Gott ein
Kleines, Sie anzurühren und zu heilen, das trauen wir Gott zu! Und möchte Er
gern sein geliebtes Kind bald ganz bei sich haben, um es Seine ganze
Herrlichkeit schauen zu lassen - dann bereitet er Sie wunderbar zu... Wie es
der Herr auch macht, liebe Frau Schön, Sie sind und bleiben in Seiner liebenden
Hand für Zeit und Ewigkeit...«
Wüsste ich nicht von diesem Trost, wäre ich längst
zerbrochen. Er ist tausendmal mehr wert als die Gewerkschaftsproblematik, die
seinerzeit ein Krankenhausseelsorger mit mir im Flur erörtern wollte.
Nicht immer ist es durchzuhalten, aber beschlossen
zwischen meinen Kindern und mir ist es schon, dass wir in unserem Schmerz und
der Sehnsucht nach der Mama ja eigentlich an uns denken, uns um uns selber
drehen. Wir wollen uns aber vielmehr darüber freuen, dass sie es jetzt
unendlich viel besser hat. Unser jetzt achtjähriger Sohn Benni bedauert »nur«,
dass er jetzt noch ungefähr 60 Jahre zu warten habe, bis er Mama wieder sieht.
Mir selbst ist Jesus noch mehr zum Freund geworden,
wenn ich ihn - für mich eigentlich ganz neu - als Weinenden anschaue, der
angesichts des Todes von Lazarus mit leidet und sogar weint (Johannes 11). Er
wird meine Tränen verstehen.
Weiteren Trost erfuhr ich später, als ich Gottes
Wort selber las: »Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe« (Psalm 62, 2).
Zum Glück hat man mich weitestgehend mit dummen Sprüchen, Floskeln verschont.
Etliche christliche Kleinschriften zum Thema halfen nicht oder nur kaum weiter.
Grundlegendes von Fritz Rienecker: »Das Schönste kommt noch«, sehr gut
Siegfried Kettlings Buch »Du gibst mich nicht dem
Tode preis«, verfasst nach dem Tod seines Sohnes, authentisch und über weite
Passagen mit meinen eigenen Erfahrungen übereinstimmend. Wirkliche Antworten
erhielt ich jedoch nur aus der Bibel selbst. Auch erinnerte ich mich an das
Motto unserer Verlobung, den Ausschnitt eines Briefes von Matthias Claudius an
seinen Sohn. Seine Zeilen sind ein Programm für Leben und Sterben: »Wer nicht
an Christus glauben will, der muss sehen, wie er ohne ihn raten kann. Ich und
du können das nicht, wir brauchen jemand, der uns hebe und halte, dieweil wir
leben, und der uns die Hand unter den Kopf lege, wenn wir sterben müssen. Und
wir wissen keinen, von dem wir's lieber hätten.«
Albrecht Schön
D. Dr. Karl Hartenstein war lange Direktor der
Basler Mission. Als Prälat der Württembergischen Landeskirche wirkte er
besonders durch seine seelsorgerlichen Predigten und Bibelauslegungen. Wenige
Jahre vor seinem Tod im Jahr 1952 erkrankte er schwer. Aus dieser Erfahrung
schrieb er an seine Pfarrer:
Nun möchte ich wagen, einiges zum Ausdruck zu
bringen, was ich als Leidender, Sterbender und wieder ins Leben Zurückgeführter
erlebt habe.
»Jede Krankheit ist eine persönliche Angelegenheit
zwischen Gott und dem einzelnen.« Dieses tiefe Wort
des Paracelsus gilt für jeden Leidenden. Das Leiden ist tief hineingeordnet in
unseren gesamten Lebensweg, in unser ganzes Lebensschicksal. Seine Zeit, seine
Tiefen und seine Gnaden sind ein Teil und vielleicht der wichtigste Teil der
geheimen Geschichte, die Gott mit jedem einzelnen hat. Jede lebensgefährliche
Krankheit enthält ein hohes Maß von göttlichem Gericht. Es wird in den Stunden
der völligen Ohnmacht, wo man in jedem Augenblick damit rechnen muss, die Augen
endgültig zu schließen, das ganze Leben, das eigene und das mit den anderen
zusammen gelebte, unerbittlich erleuchtet und durchrichtet. Wenn dazu
Schmerzensqualen kommen, die man schwer aussprechen kann, und alle ärztlichen
Mittel versagen, so ist beides zusammen, Gewissensgericht und leibliches
Leiden, eine erdrückende Last. Bedenken Sie aber, dass Sie es an Ihren
Krankenbetten immer mit Menschen zu tun haben, denen Gott die große Gnade
schenkt, schon auf Erden von ihm gerichtet und darum auch gereinigt und
zubereitet zu werden. Offenbar ist das Leiden auf dieser Welt eine Vorwegnahme
jener Läuterung, die uns allen bevorsteht und von dem uns nichts geschenkt
wird. Helfen Sie darum Ihren Leidenden und Sterbenden zur Beichte und scheuen
Sie sich nicht, im Angesicht des Gottes, dem wir alle begegnen werden, Hilfe zu
geben, dass Lasten schon hier abgelegt, Sünden hier gebeichtet und vergeben
werden.
Ein besonderes Erlebnis dessen, der den Weg zum Tod
bei völlig wachem und hellem Bewusstsein geführt wird, ist das, was Paulus in
2. Korinther 5 mit Ausgezogenwerden, mit Nacktsein bezeichnet. Diese Worte
treffen den Tatbestand mit unnachahmlicher Klarheit. Und das Gefühl des leibIich-seelischen Nacktseins ist furchtbar. Darum steht
dort in 2. Korinther 5, 1-10 auch der einzige Trost, den wir Menschen in diesem
Augenblick zu geben schuldig sind: das Zeugnis von dem Haus, das nicht mit
Händen gemacht ist, das unser im Himmel wartet.
Aber das größere und tiefere Erlebnis ist dies, dass
in diesen Stunden des schwersten Gewissensgerichtes und der schwersten
körperlichen Leiden Christus die Seele eines Menschen mit der Seligkeit und
Süßigkeit seiner vergebenden Gnade in einem Maß zu erfüllen vermag, dass man
vor Freuden darüber buchstäblich zu vergehen droht. Es ist dies eine Einheit
von Gericht und Gnade, die in solchen Stunden zum tatsächlichen Erlebnis wird,
obwohl das unbegreiflich ist. Weisen Sie darum Ihre Sterbenden mit Macht auf
das Kreuz und Blut Jesu Christi, auf die Kraft seiner Auferstehung, auf die Gewissheit
seiner Gegenwart und auf die Realität seines Wortes hin als dem einzigen Trost
in solcher Stunde. Sagen Sie den Kranken, dass sie nichts zu fürchten haben, dass
Jesus Christus alle unsere Sünde weggetragen, ja buchstäblich verschlungen hat,
und dass man unter dem Zittern des Gerichts und mit den furchtbarsten Schmerzen
des Leibes und der Seele fröhlich hinüberziehen kann, wie man nach der Heimat
reist.
Ich kann Ihnen versichern, dass es eine Freude
gibt, die einem noch mehr Tränen auszupressen vermag als das schwerste
körperliche Leiden, eine Freude, die ganz unirdisch ist und die in jedem
Augenblick denen, die in Jesus Christus sterben, von ihm tropfenweise aus dem
Meer des Lebens und der Freude der Ewigkeit eingegeben wird, die kostbarste
Arznei der kommenden Welt.
Eine ganz große geistliche Hilfe für die
durchwachten Nächte, für die sich endlos dehnenden Schmerzensstunden ist das
Gebet. Machen Sie den Kranken Mut, viel und lange zu beten. Wir haben in dem
grässlichen Tempo des Lebens ja auch als Christen kaum mehr Zeit, eine
Viertelstunde am Tag zu beten, geschweige denn stundenlang. Und dazu gibt ja
die Krankheit wunderbare und nie wiederkehrende Gelegenheit. Natürlich will
dieses Beten gelernt sein. Und doch glaube ich, kann man die Kranken darin auch
unterweisen, wie man das eigene Leben durchgeht, das Leben der Nächsten, der
uns anvertrauten Menschen, das Leben des Amtes und Dienstes. So kann es sein,
dass man auf kleinstem Punkt gefangen, die größten Nöte durchwandern kann,
Zwiesprache haltend und Fürbitte einlegend. Dazu sind die Psalmen, die ich vom
ersten bis zum letzten Wort durchgelesen und durchgebetet habe, ebenso die
Fülle von Gesangbuchversen eine große Hilfe.
Die Speise und der Trank zum ewigen Leben im
Heiligen Abendmahl sind eine Hilfe ohnegleichen auf dem Leidensweg. Ich werde
es dem Amtsbruder nie vergessen, der mir in regelmäßigen Abständen alle paar
Tage das heilige Mahl gereicht hat. Da versteht man, dass es nicht nur das Mahl
der Vergebung ist, sondern das endzeitliche Mahl. Es wird jedes Mal zur
Vorwegnahme der großen Feier in dem Reich, dem man entgegengeht. Ich glaube,
wir sollten wirklich den Stärkungs-, Freuden- und Hoffnungscharakter dieses
Mahles noch ganz anders in Verkündigung und Seelsorge üben und das Mahl oft
anbieten. Eine besondere Bedeutung gewinnt es, wenn die Kinder und die Nächsten
dabei sein können und wenn in solcher Gemeinschaft dem Sterbenden die
Gewissheit sichtbar und deutlich wird, dass zwischen den Menschen alles in
Ordnung ist.
[1]
Moltke, der in Plötzensee war, wusste bei der Abfassung dieses Briefes
nicht, dass Pater Rösch verhaftet war und sich im Gefängnis Moabit befand.