Sonntag, den 22. Oktober 1944
»Der Herr aber sprach: >Wenn ihr Glauben habt wie ein
Senfkorn und sagt zu diesem Maulbeerbaum: Reiß dich aus und versetze dich ins
Meer, so wird er euch gehorsam sein<«
(Lukas 17, 6)
Eine der
packendsten Geschichten der Bibel ist die vom Durchgang durchs Rote Meer. Da
lagert die Gemeinde des Alten Bundes an einem Meeresarm. Rechts und links erheben
sich schroffe Felsenwände. Da bricht die Nachricht ins Lager: Pharao, der grimmige
Feind, kommt mit gewaltiger Heeresmacht! Man ist ohne Waffen und wehrlos.
Jeder Fluchtweg ist abgeschnitten. Verzweiflung bricht im Lager aus.
Da tritt Mose königlich in göttlicher Vollmacht unter die
Verzweifelten: »Der Herr wird für euch streiten und ihr werdet stille sein!«
Und dann schreit Mose zum Herrn. Der sagt ihm, er solle
seinen Stab über das Meer recken. Da zerreißen die Wasser und es entsteht ein
Weg, auf dem das Volk im Glauben in die Freiheit zieht.
So oft ich diese Geschichte lese, erschrecke ich: so ist
mein Glaube nicht. Ich verstehe so gut jenen christlichen Papua in Neuguinea,
der dem Missionar etwa so sagte: »Wenn ich in der Kirche sitze, ist mein Glaube
groß wie ein Berg. Aber wenn ich bei meinen Stammesgenossen bin, ist er klein
wie ein Reiskorn.«
Mein Glaube ist oft noch kleiner: wie ein Senfkorn. Und da
bin ich froh, dass der Heiland hier einiges über den schwachen Glauben sagt.
l Der Herr Jesus achtet den schwachen Glauben nicht gering
Mir geht es auch wie jenem Papua — wenn ich hier vor Euch
predige, dann ist mein Glaube so groß wie ein Berg. Aber wenn die Bomben
krachen, wenn ich die Furcht der Kinder sehe, wenn Nachrichten kommen, dass
liebe Jungen gefallen oder vermisst sind, wenn ich an die Zukunft meiner Arbeit
denke, dann ist mein Glaube oft klein wie wie Senfkorn. Dann geht es mir wie
dem Petrus, als der dem Herrn übers Wasser entgegenlaufen wollte — ich sehe
dann nur die wilden Wellen und nicht mehr den Herrn. Und wenn einem der Teufel
alle Sünden vorhält und löhnt: »Du willst ein Christ sein?«, dann wird der
ganze Heilsstand wankend, und man zweifelt, ob einem denn wirklich die Erlösung
gelte.
Da ist es so tröstlich, dass der Heiland hier den schwachen
Glauben nicht schilt. Er spricht vielmehr sehr hoch von ihm. Warum? Auch der
schwache Glaube ist Gottes eigenstes Werk durch den Heiligen Geist. Und Gottes
Werk an einem Menschenherzen ist auch in seinen Anfängen etwas Großes. So macht
der Herr hier dem schwachen Glauben Mut zum Weiterglauben. Und so ist es uns ja
schon im alten Bund verheißen (Jesaja 42, 3): »Das geknickte Rohr wird er nicht
zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.« Als die
Gemeinde des Alten Bundes aus Ägypten zog, da wurde besonders darauf geachtet,
dass niemand zurückblieb. Auch die Schwächsten kamen mit. So will unser
Heiland auch die mit dem schwächsten Glauben mitbringen an das herrliche Ziel
der Ewigkeit. Doch möchte ich sagen, dass hier natürlich nicht von irgendeinem
weltlichen oder religiösen Glauben die Rede ist, sondern vom Glauben an
Jesus als dem Sohn Gottes und den Heiland der Sünder.
2. Der schwächste Glaube hat denselben starken Heiland wie
der starke Glaube
In unserem Text sagt der Herr, dass der schwache Glaube
große Dinge tun kann. Wie ist das möglich? Darum, weil nicht unser Glaube,
sondern der starke Herr die großen Dinge tut. Als Mose so glaubensstark am
Roten Meer stand, hat ja nicht sein Glaube das Meer geteilt, sondern der Herr
hat es getan.
Der Herr Jesus fuhr einmal mit seinen Jüngern über den See
Genezareth. Während sie das Schiff bedienten, schlief er hinten im Heck. Auf
einmal überfällt sie ein schauerlicher Sturm. Die Jünger packt das Grauen. Sie
wecken ihren schlafenden Heiland — ach, nicht mit glaubensvoller Bitte,
sondern mit dem Schreckensruf: »Wir verderben!« Nicht wahr, da war der Glaube
der Apostel nicht sehr groß. Und doch — Jesus tat ein großes Zeichen und
stillte den Sturm.
Da seht ihr, dass auch der schwache Glaube den starken Herrn
hat.
Noch ein Beispiel: Die Stadt Jerusalem lag in Trümmern. Die
Babylonier hatten die Bevölkerung weggeschleppt. Durch diese Trümmer irrt nun
der große Gottesmann Jeremia. Sein Herz ist voll Jammer und Finsternis, dass
man meint, sein Glaube sei ganz dahin. Er sagt da in Klagelieder 3: »Er hat
mich in Finsternis gelegt wie die, so längst tot sind. Und wenn ich gleich
schreie und rufe, so stopft er seine Ohren zu vor meinem Gebet... Meine
Hoffnung auf den Herrn ist dahin... « Nicht wahr, so spricht ein armer,
schwacher Glaube. Aber dann sieht Jeremia auf den Herrn. Ihr müsst das selbst
mal lesen, wie ihm da aufgeht, dass auch der schwache Glaube den starken Herrn
hat. Es ist, als wenn allmählich die Sonne aufgeht in dem dunklen Herzen:
»Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen bin ... Du wirst ja daran denken;
denn meine Seele sagt mir's. Das nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch. Die
Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind. Seine Barmherzigkeit hat
noch kein Ende... « Und immer mehr wird nun aus dem Jammer ein Loblied — auch
der schwache Glaube hat den starken Herrn. Wenn ich meine zitternde
Glaubenshand in Jesu durchgrabene Hand schiebe, habe ich dieselbe starke Hand
erfasst, die Moses so glaubensstark dort am Roten Meer ergriff.
3. Auch dem schwachen Glauben ist das Unmögliche möglich
Zinzendorf sagt: »Der Glaube bricht durch Stahl und Stein
und kann die Allmacht fassen, der Glaube wirket all's allein, wenn wir ihn
wirken lassen. Wenn einer nichts als glauben kann, so kann er alles machen, der
Erde Kräfte sieht er an als ganz geringe Sachen.« Das meint der Herr, wenn er
hier sagt: »Wenn du Glauben hast wie
ein Senfkorn, kannst du Bäume ausreißen.« Wenn nun allerdings der ungeistliche
Sinn über so ein Wort kommt, versteht er's natürlich falsch. So hörte ich von
einer Frau, die dies Wort auch vernommen hatte. Und da sagte sie: »Das wollen
wir gleich ausprobieren!« Und sie befahl einem Baum vor ihrem Haus, sich
während der Nacht ins Meer zu werfen. Als sie am nächsten Morgen aus dem Haus
trat, war der Baum noch da. »Ich hab's ja gleich gewusst!« sagte sie darauf.
Was wollen wir dazu sagen?
a) Das war kein Glaube, wenn sie es »gleich gewusst hat«.
b) Es lag keine Notwendigkeit vor, den Baum auszureißen. Der
Glaube macht keine Tollheiten, sondern er tut den Willen Gottes. Wir verstehen,
dass Jesus hier im Bilde redet: Da stehen die Nöte des Lebens vor dir wie so
ein riesiger Baum: jeder Ast eine Not, jedes Blättlein eine Sorge. Nun sprich
du getrost zu diesem Baum: »Reiß dich aus und wirf dich ins Meer! Denn ich
gehöre meinem Heiland, der sagt, dass ohne den Willen meines Vaters kein Haar
von meinem Haupt fällt.«
Oder da stehen die versuchlichen Mächte der Welt vor uns wie
so ein starker Baum. Jeder Ast ist eine Verlockung, jedes Blatt eine tödliche
Lust. Und der Baum rauscht: »Komm her zu mir, Geselle, hier findest du deine
Ruh.« Du sprich nur getrost zu diesem Baum: »Hinweg mit dir und ins Meer! Denn
mich hat der Sohn Gottes mit seinem Blut erkauft.« Und du wirst erfahren, auch
der schwächste Glaube vermag Großes, weil er den starken Erlöser ergreift.