Christus im Alten Testament
Essen (Ruhr), im Herbst 1950
An der Schwelle des Paradieses
Was auf der Schwelle des Paradieses
geschah
Jesus und seine müden Streiter
Wie ein Elender getröstet wurde
„Wie er dürstend rang um meine
Seele..."
Der Mann, den seine Brüder nicht
wollten
Das Kreuz macht die bitteren Wasser
süß
Aaron zwischen den Toten und Lebendigen
Das Kreuz – die große Scheidung
Christus – der geschlagene Fels
Ein Blick – und du hast ewiges Leben
Drei Fragen an einen, der sich um seine Rettung sorgt
Was das Denkmal am Jordan bedeutet
Das Kreuz Christi ist ein Grenzstein
Die Erlösung durch das Passah-Lamm
Als ich — ein
junger Theologe — die Universität verließ, hatte ich in den Vorlesungen über
das Alte Testament gelernt, dass man in den fünf Büchern Mose verschiedene
Quellen feststellen könne: den Jahwist und den Elohist... Ich hatte älteste und
jüngere Bestandteile unterscheiden gelernt... Ich hatte gehört, dass es einen
ersten und einen zweiten Jesaja gäbe . . . Man hatte mir gezeigt, wie man die
„unterchristliche Frömmigkeit" des Alten Testaments von der „Lehre
Jesu" unterscheiden könne . . .
Kurz — das Alte Testament war ein höchst zweifelhaftes
Erzeugnis religiöser jüdischer Literatur. So entließ mich die Universität in
eine große Gemeinde als „Prediger des Wortes Gottes". „Wort Gottes"?!
War das Alte Testament „Wort Gottes"? Man hatte uns gesagt, das Alte
Testament sei für uns gültig, „soweit es Christum treibe". Nun schön! Aber
— was „trieb denn hier Christum"? Selbst das große Kapitel Jesaja 53 war
ja — wie man uns gesagt hatte — gar nicht eine messianische Verheißung, sondern
es wurde hier „die Idee des stellvertretenden Leidens" ausgesprochen.
Es wurde mir klar: Das ganze Alte Testament war nichts als
eine einzige Verlegenheit.
Doch wie dankbar bin ich, dass mir aus dieser kritischen
Haltung herausgeholfen wurde durch allerlei Erlebnisse, die mir zeigten, dass
man auch ganz anders mit diesem Buche umgehen könne. Da sagte mir einst meine
liebe Mutter: „Ich habe so viel Segen vom 3. Buch Mose." Ich horchte auf:
Vom 3. Buch Mose?! Da standen doch nur längst überholte Kultvorschriften, deren
Ursprünge nach Ägypten oder Babylon oder wer weiß wohin wiesen!
Ich hielt eine Bibelstunde über die Geschichte, wie Mose
Wasser aus dem Felsen schlägt. Und da sagte ich schöne und herzbewegende Worte
über die Tatsache, dass Gott die Seinen nicht im Stiche lässt. Ich war
überzeugt, ich hätte sehr gut gesprochen. Aber da kam ein alter, erfahrener
Jünger Jesu auf mich zu und erklärte mir: „In meiner Bibel steht: ,Der
geistliche Fels, der nachfolgte, war Christus.' — Davon habe ich heute abend
bei Ihnen nichts gehört." Solche und ähnliche Erlebnisse zeigten mir, dass
ich das Eigentliche im Alten Testament noch gar nicht bemerkt hatte. Aber — wie
sollte ich dahin kommen?
Da gab mir bei einem Besuch in Berlin der damalige
Generalsekretär des CVJM, Heilmann, ein Buch von Spurgeon: „Alttestamentliche Bilder."
Ich verschlang dies Buch. Eine neue Welt ging mir auf. Nun forschte ich weiter.
Ich entdeckte F. W. Krummachers „Blicke in das Reich der Gnade". Und
schließlich fand ich das herrliche Buch von G. D. Krummacher
(Erweckungsprediger in Wuppertal): „Die Wanderungen Israels durch die Wüste
nach Kanaan." Die Beschäftigung mit Tersteegen brachte mich an die
Schriften der Madame de la Mothe-Guyon.
Bei meiner neuen Lektüre entdeckte ich: Es gab eine stille
Strömung in der Christenheit (wir nennen sie „Pietismus"), die allezeit
ein geistliches Verständnis des Alten Testamentes gepflegt hatte. Ich kann es
nicht aussprechen, wie viel ich diesen „Pietisten" verdanke. Von ihnen
habe ich die Schrift neu lesen gelernt. Und nun muss ich immer wieder an das
Wort des Herrn Jesu denken: „Suchet in der Schrift, denn sie ist's, die von mir
zeuget!" In diesem Buch wage ich es, einige Predigten zu bringen, die ich
in Essen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten habe. Es wäre mir
lieber, man würde meine Lehrmeister lesen. Aber ihre Bücher sind längst
vergriffen. So muss der Schüler eben seine sehr viel armseligeren Zeugnisse
vorlegen.
Man wende nicht ein, solche Sprache verstehe der moderne
Mensch nicht mehr. Die Gottesdienste waren von viel Jugend und auch von
gebildeten Leuten besucht. Wichtiger war mir, dass die gläubigen Kinder Gottes
hier Nahrung für ihr inneres Leben fanden. Meine theologisch gebildeten Brüder
werden von diesen Predigten sagen: „So geht's nicht!" Sie werden
einwenden, man dürfe nicht mit „Allegorie" und „doppeltem
Schriftsinn" auslegen. Da kann ich nur erklären: „Brüder, seht ihr nicht,
wie uns das Alte Testament verschlossen ist? Zeigt mir einen besseren Weg! Ich
bin überzeugt, dass es dem Heiligen Geist gefallen hat, überall im Alten
Testament verborgen das Kreuz Jesu Christi zu bezeugen." Dies Kreuz aber
ist die lebendige Quelle alles Heils.
Essen (Ruhr), im Herbst 1950
Wilhelm Busch
„Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe
Röcke von Fellen und kleidete sie."
1. Mose 3, 21
In dem Roman von F. v. Unruh „Der nie verlor" kommt ein
Kruzifix vor. Das stand einst an einer französischen Landstraße bei Verdun.
Dann brauste der Erste Weltkrieg darüber hin. Und da wurde dies hölzerne Bild
Christi verstümmelt. Um das Leidenshaupt hing ein Stück Stacheldraht.
Nun tritt dieses Bild einen langen Weg an. Es kommt zu einem
Antiquitätenhändler, der es, vor altem Brokat, im Laden ausstellt. Es gerät
in die Hände von Emigranten, die in ihm das zertretene Menschenantlitz sehen.
Es wird vor einer kommunistischen Demonstration hergetragen als das Urbild des
misshandelten Proletariers. Es steht auf dem Altar einer Kathedrale und wird
von Weihrauch umnebelt. Schließlich landet es in der Deutschen Botschaft. Da
wirft man's zum Brennholz.
Ja, das ist richtig gesehen. So ist es mit dem Kreuz
Christi! Die einen halten es für eine Antiquität, die keine Gegenwartsbedeutung
hat. Den andern ist es ein gewohnheitsmäßiger Kirchenschmuck. Viele sind
ergriffen von den rein menschlichen Leidenszügen. Und die meisten werfen es
weg.
Für unser Heil aber ist es notwendig, dass wir zu einem
biblischen Verständnis des Kreuzes kommen. Und ich bin überzeugt, dass Gott im
Alten Testament eine ununterbrochene Erziehung zum Kreuzes-Verständnis gegeben
hat. Hier im Anfang der Bibel lehrt Er
1. Kreuz und Sünde gehören zusammen
Nun muss ich zunächst erklären, in welchem Zusammenhang
unser Text steht.
Es liegt ein wundersamer Glanz über der
Schöpfungsgeschichte. „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe
da, es war sehr gut."
„Und Gott ruhte von seinen Werken." Im Mittelpunkt all
der Weltschönheit wandelt das erste Menschenpaar, strahlend als Ebenbild
Gottes.
Wie schön sind diese zwei ersten Kapitel der Bibel! Aber
dann kommt der Absturz. Der Mensch sündigt. Und von der Stunde an ist aller
Glanz ausgelöscht. Der Adam erschrickt vor sich selber, denn er sieht, dass er
nackt ist. Er versteckt sich vor Gott. Aber Gott lässt ihn nicht laufen. Er
holt ihn aus seinem Versteck. Und dann werden Adam und Eva ausgewiesen aus dem
Paradiese. Die Welt beginnt so zu sein, wie sie heute noch ist.
Doch ehe die Sünder hinaus müssen, ereignet sich noch etwas
Ergreifendes: Gott tötet Tiere und bekleidet mit ihren Fellen die beiden, die
schamvoll und zitternd vor Gott stehen.
Diese namenlosen Tiere, die Gott tötete, sind eine
Abschattung des Lammes Gottes, des gekreuzigten Herrn Jesus.
Welch ein Augenblick, als diese Tiere den Tod erlitten! Da
ging ein Wehlaut, ein Stöhnen durch die Schöpfung. Denn es war das allererste
Töten und Sterben. Und es zeigte erschreckend an, dass nicht mehr „alles sehr
gut war".
Und als Jesus starb, da ging ein Stöhnen durch die
himmlischen Räume. Denn Er, der Sohn, ist der Erste und Einzige aus der himmlischen
Welt, der den Tod erlitt.
Bei dem Tode der unschuldigen Tiere, bei diesem allerersten
Tod, wurde erschreckend deutlich, welch ein Unheil und welch eine furchtbare
Wirklichkeit die Sünde ist. Wenn der Sündenfall nicht gewesen wäre, hätten
diese Tiere nicht sterben müssen. Und wenn wir nicht gesündigt hätten, hätte
der Sohn Gottes nicht sterben müssen. Das Kreuz Jesu verkündigt: Die Sünde ist
die allerwirklichste Wirklichkeit. Seht, darum machen alle Philosophien, alle
politischen Heilslehren und Ideologien immer wieder Bankrott, weil sie diese
Wirklichkeit der Sünde nicht anerkennen wollen. Unser aller Sünde ist die
Ursache des Kreuzes Christi.
2. „Für mich" wurde das Kreuz aufgerichtet.
Das Kreuz Jesu Christi ist die tiefsinnigste und
geheimnisvollste Angelegenheit der Weltgeschichte. Es ist wie ein tausendfach
verschlungener Knoten, der die verlorene Welt mit dem starken Gott
zusammenhält. Kein Mensch wird das Geheimnis des Kreuzes ganz ergründen können.
Aber zu unserer Errettung wird es schon dienen, wenn wir das
ganz Einfache verstehen, fassen und glauben, das ich euch jetzt zeigen will:
Mit welch tiefem Erschrecken werden wohl Adam und Eva erlebt
haben, wie Gott diese Tiere tötete! Denkt doch — es war das erste Sterben. Und
diese beiden, welche die Welt vor dem Sündenfall gekannt hatten, begriffen,
welch eine Dissonanz das Sterben in der Schöpfung bedeutet.
Ich versuche, Adams Gedanken in diesem Augenblick zu
erfassen. Er erschauert, als er das Töten sieht, und denkt: „Wie schrecklich!
Diese Tiere haben doch nichts Böses getan. Ich, ich habe doch gesündigt. Der
einzige Grund, dass sie sterben müssen, bin ich. Für mich sterben sie!"
Dies „Für mich!" steht groß über dem Sterben des
„Lammes Gottes". „Es quillt für mich dies teure Blut, / das glaub und
fasse ich..."
Ich kam vor kurzem in ein Heim für Jungbergleute. Kaum hatte
ich gesagt, wer ich bin, da wandte sich einer ab mit der Bemerkung: „Ich bin
aus der Kirche ausgetreten." Ich erwiderte: „Das ist mir ganz
gleichgültig. Aber das weiß ich, dass Jesus für dich gestorben ist." Da drehte
er sich um und fing an, mir zuzuhören. Ich kannte eine Frau, die ein schlechtes
Verhältnis zu ihrem heranwachsenden Sohn hatte. Und dann fiel dieser Junge im
Krieg. Nun geriet die Mutter in eine abgrundtiefe Verzweiflung. Es ging ihr
auf, was für eine schlechte Mutter sie gewesen war. „Und ich kann es nie, nie
mehr gutmachen", rief sie immer wieder. Was für ein Augenblick war das,
als ich ihr sagen konnte: „Für Sie starb Jesus." Ich kenne junge Männer,
die sich schrecklich quälen mit dunklen Gebundenheiten. Wie kann ich ihnen
helfen? Soll ich sagen: „Sündige ruhig weiter!"? Da sei Gott vor! Soll ich
raten: „Ändere dich!"? Nun, das kann keiner. Ich kann nur bezeugen: „Jesus
starb für dich! Das fasse du zuerst."
An einem nebligen Tag war ich einst am Genfer See. Dann
plötzlich verzogen sich die Nebel. Und eine unbeschreibliche Herrlichkeit enthüllte
sich: der blaue See und dahinter die Montblanc-Kette. So ist es, wenn die
Nebel, die das ungläubige Herz umgeben haben, fallen, und ich das Kreuz so
sehe: „Für mich!" Da strömt Gottes Herrlichkeit in mein Leben.
3. Ohne Kreuz keine Bekleidung vor Gott
In großer Beschämung standen Adam und Eva vor Gott. In
solcher entsetzlichen Nacktheit, wo nichts mehr, kein böser Gedanke, verborgen
werden kann, muss jeder Mensch einmal vor Gott stehen. Wer vor Ihm flieht bis
zum Jüngsten Tag, wird es dann erleben. Wer sich jetzt den Augen Gottes stellt,
macht es jetzt durch. Da versteht man Luthers Vers: „...es war kein Gut's am
Leben mein..."
Nun ist es fast rührend, wie Gott selber dem beschämten Adam
hilft. Wirklich, da ist Er der „liebe Gott". Er sorgt als rechter Vater
für die bedeckende Bekleidung. Und Er nimmt dazu die Felle der unschuldig
getöteten Tiere.
Mit dem Tode des Lammes Gottes hat Gott auch für uns eine
Bekleidung gewirkt, die alle Scham wegnimmt und uns zu freudigen Kindern
Gottes macht. Immer wieder sagt die Bibel, dass Jesu Gerechtigkeit unser
Gewand sein soll. Dass doch viele von uns mit Zinzendorf sprechen könnten:
„Christi Blut und Gerechtigkeit, / das ist mein Schmuck und Ehrenkleid."
„Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe
Röcke von Fellen und kleidete sie."
1. Mose 3, 21
Vor kurzem bekam
ich einen Brief aus Berlin. Darin schreibt ein mir unbekannter junger Mann:
„Seit Mitte November bin ich zurück aus russischer Gefangenschaft. In unser
Lager gelangte ein Exemplar Ihres Schriftchens ,Wie kann Gott das alles
zulassen?'. Wir haben diese Schrift eingehend besprochen. Und sie ging so lange
von Hand zu Hand, bis sie sich ganz auflöste. Jeder wollte sie lesen. Denn sie
warf eine Frage auf, die viele beschäftigte . .."
Was sagt denn die Bibel? Sie berichtet, dass die Welt sehr
gut war, als Gott sie schuf. Aber dann wurde alles anders durch den Sündenfall.
Der Mensch wählte seinen eigenen Weg. Deshalb verfluchte Gott den Acker der
Welt und trieb den Menschen aus dem Paradies. Nun leben wir in der gefallenen
Welt.
Aber als Gott den Menschen austrieb, geschah auf der
Schwelle des Paradieses etwas sehr Wichtiges. Das wollen wir betrachten.
1. Da zeigt sich unser Unvermögen
Es ist ein ergreifendes Bild: Adam und Eva stehen in
erbärmlicher Nacktheit, in Scham und Schande vor den heiligen Augen Gottes. Sie
haben sich selber helfen wollen, indem sie sich aus Blättern Schürzen flochten.
Aber diese kümmerliche Bekleidung war nur lächerlich und reichte in keiner
Weise aus.
Hier wird uns deutlich, was wir brauchen: eine Bedeckung,
ein Gewand. Wir müssen allerdings verstehen, dass es sich dabei um geistliche
Dinge handelt.
Das ist der erschreckendste Augenblick im Leben eines
Menschen, wenn er entdeckt, wie er vor Gottes Augen aussieht. Wir sind ungehorsame
Sünder — wie Adam und Eva. Und wir wissen ganz genau, dass wir eine Bedeckung
unserer Blöße und Schande brauchen. Da macht es der Mensch wie Adam: Er macht
sich selber eine armselige Schürze. Solche kümmerlichen Feigenblätter sind alle
Ausdrücke unserer Selbstgerechtigkeit. O wie kennen wir diese Blätter! „Ich
tue recht und scheue niemand!" Oder: „Mir kann doch keiner was nachsagen!"
Oder: „Ich habe immer meine Pflicht getan!" Oder: „So gut wie andere bin
ich bestimmt!"
Wollen wir wirklich mit dieser armseligen Bekleidung vor den
Flammenaugen Gottes bestehen? „Der im Himmel sitzt, lacht ihrer", das
gilt auch hier.
Wir brauchen notwendig ein Kleid der Gerechtigkeit, das Gott
selber uns anlegt und schenkt: Das ist die Gerechtigkeit Jesu Christi.
2. Was da geschieht, ist schrecklich und herrlich
Es ist mir in meiner Seelsorge immer wieder eine betrübliche
Erfahrung, wie wenig wir Menschen dafür Verständnis haben und wie wenig wir
ein Verlangen verspüren nach diesem Kleid der Gerechtigkeit, das Gott den
Sündern in ihrer Blöße schenken will. Wir wollen ganz andre Dinge von Gott.
Das ging mir am meisten auf bei meinen Besuchen im Krankenhaus. Wenn ich da ins
Zimmer trat, empfing mich bestimmt einer der Kranken mit den Worten: „Na, haben
Sie auch Zigaretten mitgebracht oder Schnaps?" So sind wir im Grunde alle.
Fragt euch doch einmal, was ihr von Gott wollt! Gesundheit oder Gelingen im
Alltagsgeschäft oder Geld oder Trost. Aber wenn vom „Kleid der
Gerechtigkeit" die Rede ist, dann haben wir gleich das Gefühl: Ach, das
sind so dogmatische Sachen, die nur ein Theologe versteht. Diese Prediger
sollten mehr praktisch predigen!
Wir sind wie
jener Junge, der sich zu Weihnachten ein Fahrrad wünschte. Die sehr armen
Eltern aber sahen seine zerrissenen Hosen an und schenkten ihm einen
Anzug. Nun war er sehr verdrießlich: „Ich will doch ein Fahrrad!" Die
Mutter wendete ein. „Aber du brauchst doch einen Anzug." Hartnäckig blieb
er dabei: „Ich will das Fahrrad."
Wollen wir nicht auf Gott hören, der uns sagt: „Du Sünder
brauchst nichts nötiger als eine Bedeckung, ein Kleid der Gerechtigkeit"?
Wie muss uns das erst wichtig werden, wenn wir sehen, wie kostbar dies Gewand
ist! Als Gott den Adam kleidete, da tötete Er fremdes Leben — dem Adam zugute.
Wie mag dem Gott, der das Leben und die Quelle alles Lebens ist, das Herz geblutet
haben, als Er töten musste! Zum ersten Male floss in der Schöpfung Blut! Gott
hat noch viel schrecklicher getötet, als Er uns Sündern ein Gewand beschaffen
wollte: Er hat Seinen eingeborenen Sohn getötet. So viel hat Gott es sich
kosten lassen, um uns ein Kleid der Gerechtigkeit zu verschaffen. So gewaltig
hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle,
die an den glauben, im Glauben in Gerechtigkeit gekleidet und Erben des ewigen
Lebens seien.
Blut wurde vergossen, kostbares Blut, damit geschrieben
werden kann: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von
aller Sünde." Das ist das Kleid der Gerechtigkeit.
3. Es soll sich in unserem Leben wiederholen
Sehen wir uns doch einmal Adam und Eva an! Da naht sich der
heilige Gott, der eben so hart über ihre Sünde gerichtet hat. Und in Seinen
erbarmenden Händen bringt Er die neuen Kleider. Wie reagieren die beiden
darauf? Es wird nicht viel gesagt. Aber ich glaube, es gingen ihnen die Augen
über; genau so wie jedem Sünder, der sich von Gott verurteilt und gerichtet
weiß, die Augen übergehen beim Anblick des gekreuzigten Sohnes Gottes. Und
dann haben Adam und Eva die Gewänder angelegt und haben gewiss dem barmherzigen
Vater gedankt. Einen anderen Weg weiß ich auch für uns nicht. Was sollen wir
tun?
Wir sollen uns dem verurteilenden Richtspruch Gottes über
unser Leben in Sünde und Gottlosigkeit stellen. Dann dürfen wir ohne langes
Zieren im Glauben das Gewand der Gerechtigkeit anlegen, das Jesus uns durch
Sein Sterben erworben hat. Und dann einfach danken! Annehmen und danken! Das
ist es!
Wie wünschte ich es, dass wir nicht länger solche wären,
die sich mit dem Christentum herumquälen! dass wir doch Leute würden, die mit
Jesaja jubelnd bekennen: „Ich freue mich im Herrn... denn er hat mich angezogen
mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der Gerechtigkeit gekleidet."
„Und es begab
sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und
schlug ihn tot."
1. Mose 4, 8b
Man hat mich gewarnt: „Die alttestamentlichen Vorbilder des
Kreuzes Christi interessieren den modernen Menschen nicht." Nun, dann
muss ich das tragen! Um so mehr hoffe ich, dass geistlich gerichtete Menschen
einen Gewinn davon haben.
Im Alten Testament lebt Christus. So ist das Erleben vieler
Personen dieses Buches ein heimlicher Hinweis auf Seinen Tod am Kreuz. Das will
ich heute an Abel zeigen.
1. Sein Tod ist das Wichtigste, was von ihm zu sagen ist
Das erste Menschenpaar hat gesündigt und ist aus dem
Paradies vertrieben worden. Adam baut seinen Acker im Schweiße seines Angesichts.
Eine große Kinderschar (1. Mose 5, 4) umgibt ihn. Aber nur von Zweien wird uns
etwas berichtet: von Kain und Abel. Welch ein Gegensatz zwischen diesen
Brüdern: Abel — ein stiller Knecht Gottes. Wir hören kein Wort aus seinem
Munde. Nur von einer stillen Opferhandlung wird uns erzählt.
Kain — ein roher Mensch, der sich verschließt gegen alles
Anklopfen Gottes an seinem Herzen. In ihm lebt ein abgrundtiefer Hass gegen Abel.
Und eines Tages schlägt er ihn tot.
Himmel und Erde halten den Atem an: Der erste Mensch, der
den Tod erleidet, ist ein Erschlagener, ein Ermordeter! Jahrtausende vergehen. Und wieder wird einer
ermordet: „Jesus neigte sein Haupt und verschied." Wieder halten
Himmel und Erde den Atem an. Denn der da am Kreuze stirbt, ist auch ein Erster:
der Erste dem Range nach. Er ist der, durch den Gott Himmel und Erde geschaffen
hat, der eingeborene Sohn Gottes. Er wird gewaltsam getötet. —
Nun ist es mir bei den Berichten über Abel aufgefallen, dass
nicht viel anderes von ihm erzählt wird als sein Tod. Wie gerne möchte ich
manches wissen aus seinem frommen Leben! Aber nur sein Tod ist der Bibel
wichtig. Das ist mir ein klarer Hinweis auf Jesus. Sein Sterben ist das
Wichtigste. Vor einiger Zeit hat ein bedeutender Mann gesagt: „Man soll uns
doch nicht immer vom Kreuzestod Jesu reden. Viel wichtiger ist das Leben Jesu,
Seine Reden und Taten."
Die Bibel ist anderer Ansicht. Achtet einmal darauf, welch
unverhältnismäßig großen Raum in den Evangelien der Tod Jesu einnimmt! Während
alles andere nur wie im Fluge erzählt wird, wird das Sterben des Heilandes
ganz ausführlich berichtet. Ja, als in der Offenbarung der Apostel Johannes
den erhöhten Herrn schauen durfte, sah er Ihn „wie ein Lamm, das erwürget
ist". Und bei der Schilderung Seiner Wiederkunft wird gesagt, dass „Sein
Kleid mit Blut besprengt ist".
Jesu Kreuz und Tod ist vor allem wichtig. Denn dieser Tod
ist die Versöhnung der Sünder mit Gott. Dieser Tod ist unser Leben. Dieser Tod
ist unser Loskauf. Vom Kreuze Jesu gehen Ströme des Friedens aus. Ich wüsste
nicht, was tröstlicher wäre für Herz und Gewissen als ein Blick auf Jesu
Kreuz.
2. Das Blut gibt keine Ruhe
Wie viel Leichen Erschlagener haben auf dem Erdboden
gelegen! Das Blut von Millionen hat die Erde getrunken. Ist es da nicht merkwürdig,
dass darüber dieser erste Erschlagene nicht in Vergessenheit geriet?
Jahrtausende waren nach seinem Tode vergangen. Da fing Jesus an, von ihm zu
sprechen. Und wieder nach Jahrzehnten wird dieser Abel erwähnt von dem
unbekannten Schreiber des Hebräerbriefes. Bis in die Gegenwart hinein wird von
ihm geredet. Kann denn dies Blut nicht zur Ruhe kommen?
Nein! Gleich nach der Tat hat Gott den Kain gestellt und hat
ihm etwas Seltsames gesagt: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu
mir von der Erde." Und ebenso heißt es im Hebräerbrief, dass das Blut
Abels „rede".
Blut, das redet! Blut, das schreit! Blut, das zeugt!
Der Schreiber des Hebräerbriefes schaut an dieser Stelle
(12, 24) hinüber zum Kreuze Jesu und sagt: Auch das Blut des Sohnes Gottes,
das am Kreuz vergossen wurde, redet. Ja, hier steht etwas, was überaus
tröstlich ist. Da heißt es: „Das Blut Jesu redet besser als das Blut
Abels." Seine Sprache ist lauter, eindrücklicher, stärker. Und das ist
gut.
Was schreit denn Abels Blut? Es schreit: „Strafe! Rache! Vergeltung!" Und so
schreit alles vergossene Blut auf der Erde. Und was redet Jesu Blut? Es
schreit: „Gnade!"
Welch eine herrliche Tatsache! Sooft mein Gewissen mir
bezeugt, dass ich vor dem heiligen Gott nicht bestehen kann, flüchte ich mich
im Glauben unter Jesu Kreuz. Da ruft Sein Blut „Gnade!" für mich. Und es
schreit so, dass Gott die Ohren davor nicht verstopfen kann. Wie ist es gut,
dass auch Jesu Blut nicht zur Ruhe kommt! dass es heute noch ebenso
„Gnade!" schreit wie zu der Zeit, als Johannes schrieb: „Das Blut Jesu
Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde." Da brauche
ich nur das Bekenntnis zu bringen: „Ich bin nichts als ein Sünder." Das
Blut Jesu Christi vertritt mich völlig.
Dies redende Blut ist ein großes Geheimnis. Die Welt meint,
es sei in den Sand von Golgatha geronnen. Sie hört es nicht, so wie Kain auch
die Stimme von Abels Blut nicht hörte. Die Welt ist betäubt von ihrem eigenen
Lärm. Vor Gott aber ist der Weltlärm gering. Doch laut schreit vor Seinem
Throne Jesu Blut „Gnade!" für alle, die es annehmen. Ja, für alle Welt!
3. Der Hass kommt nicht zur Ruhe
Als Kain seinen Bruder erschlagen hatte, trat ihm Gott in den
Weg: „Wo ist dein Bruder Abel?" Da gibt Kain eine Antwort, die zeigt: Er
will auch mit dem toten Abel nichts zu schaffen haben. Er will nicht an ihn
erinnert werden. Sein Hass geht weiter.
Ist es nicht so mit Jesus? Nichts ist dem natürlichen Wesen
des Menschen verhasster als das Kreuz Christi. Religion will der Mensch wohl
noch gelten lassen. Aber nicht das Kreuz des Sohnes Gottes. Am liebsten möchte
er darüber zur Tagesordnung übergehen. Kain hasst auch den toten Abel. Und der
Geist der Welt hasst den gekreuzigten Christus. — Als ich in den zwanziger
Jahren im Norden Essens Pfarrer war, hielt ich in einem kleinen Kreis meine
Bezirksbibelstunde, die immer wieder gestört wurde. Es war, als ob die kleine
Schar, die sich um Jesu Kreuz sammelte, das ganze Viertel in Unruhe brächte.
Eines Tages war es besonders toll. Ganze Horden von Männern tobten vor unserm
Sälchen, bis man plötzlich einen schweren Fall hörte. Dann lief alles fort. Ich
stürmte hinaus. Da lag vor der Tür im Schmutz ein großes, eisernes Kruzifix.
Das hatten sie irgendwo ausgerissen und uns hingeworfen. O wie dies Kreuzesbild
im Schmutz redete von Kains Hass gegen Jesus!
Der Kampf zwischen Kain und Abel geht mitten durch unser
Herz. Der Abel-Geist in uns sagt: „In meines Herzens Grunde / dein Nam und
Kreuz allein / funkelt all Zeit und Stunde..." Der Kains-Geist in uns aber
will andre Bilder im Herzen funkeln sehen. Er will von dem toten Abel, dem
gekreuzigten Heiland, nichts wissen. Der Herr schenke uns, dass der Kains-Geist
in uns ganz vertrieben werde!
„Da ging Noah in den Kasten... und der Herr schloss hinter
ihm zu."
1. Mose 7, 13 und 16
Die Bibel ist einer gewaltigen Symphonie zu vergleichen, in
der eine reiche Tonfülle ein einfaches Thema umgibt. Schon gleich am Anfang
der Bibel wird dies Thema angeschlagen. Die Geschichte von der Sintflut beginnt
mit der Feststellung: „Gott sprach: Die Menschen wollen sich von meinem Geist
nicht mehr strafen lassen... Darum ist alles Fleisches Ende bei mir
beschlossen." Das ist der eine Ton: Gottes Zorn und Gericht. Nun würde man
ja erwarten, dass nach dieser Ankündigung die Gerichte hereinbrechen. Aber es
kommt ganz anders: Ausführlich trifft Gott Anstalten zur Errettung des Noah und
der Seinigen. Er lässt den Noah einen riesigen Kasten bauen, eine Art von
ungefügem Schiff. Wir nennen es die Arche.
Und das ist der andere Ton des Themas: die Errettung. Vom
Anfang bis zum Schluss geht dies Thema durch die Bibel: Gericht und Errettung.
Wenn ihr die letzten Kapitel der Bibel aufschlagt, findet ihr eine
schreckliche Schilderung vom Ende
dieses Erdzeitalters. Mitten hinein aber klingen die Lobgesänge der
Erretteten. Was war die Arche, durch die sie errettet wurden? Das Kreuz von
Golgatha. So ist die Arche ein Vorbild auf das Kreuz. Und wir bekommen Licht
über Jesu Kreuz, wenn wir die Arche betrachten.
1. Das Unzeitgemäße der Arche
Im Geist habe ich den Noah gesehen, wie er mitten auf der
Steppe die Arche baute. Neugierig kamen die Leute und fragten verwundert: „Wozu
baust du das?" Antwort: „Zur Errettung vor Gottes Gericht." Da
lächelten die Leute mitleidig. Man lebte doch in einer fortgeschrittenen Welt,
wo solche primitiven Vorstellungen wie „Gericht Gottes" längst überwunden
waren! „Ja, früher", so hieß es, „haben die Menschen so etwas gefürchtet.
Aber nun haben wir doch so gereinigte Gottesvorstellungen, dass uns das komisch
vorkommt." Die Arche erschien also als eine Errettung vor einer Gefahr,
die gar nicht vorhanden war. Sie war darum völlig unzeitgemäß. So steht es mit
dem Kreuz Christi. Was soll die Errettung im Kreuz zu einer Zeit, wo man Gott
gar nicht mehr fürchtet und über die „primitive Vorstellung" vom Zorn
Gottes erhaben ist? Da werde ich gefragt: „Das Kreuz ist Errettung? Rettet es
Sie vor Atombomben? Vor Hunger? Vor Kälte?" — „Nein! Es rettet mich vor
den Folgen meiner Sündenschuld, vor der Hölle, vor dem Teufel, vor dem Zorne
Gottes."
Nun lächelt der moderne Mensch mitleidig und denkt: „Das
sind ja alles eingebildete Gefahren." Ja, wenn der Zorn Gottes eine eingebildete
Gefahr ist, dann ist allerdings die Botschaft vom Kreuz unzeitgemäß wie die
Arche des Noah.
Über der Kanzel der zerstörten Marktkirche in Essen stand in
Goldbuchstaben das Bibelwort: „Predige zur Zeit und zur Unzeit." Wie oft
habe ich bei diesem Wort denken müssen: Es ist immer Unzeit für die Predigt von
der Rettungs-Arche, weil die Menschen zu allen Zeiten den Zorn Gottes für eine
eingebildete Gefahr halten. Ihr kennt doch Dürers berühmten Kupferstich, auf
dem man einen Ritter furchtlos zwischen zwei schrecklichen Gestalten, Tod und
Teufel, daherreiten sieht. Als ich kürzlich das Bild betrachtete, dachte ich:
Es gibt noch eine andere Gestalt, die furchtlos zwischen Tod und Teufel wandert
— nämlich ein blinder Narr. Der würde sagen: „Ich sehe keine Gefahr."
So blinde Narren waren die Menschen zu Noahs Zeit. Und sie
sind es bis heute geblieben. Darum wird die Botschaft von der Rettungs-Arche
des Kreuzes immer unzeitgemäß sein.
2. Die Sicherheit der Arche
Mit lapidaren Sätzen schildert nun die Bibel den Beginn der
Sintflut: „Da brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf, und es taten sich auf
die Fenster des Himmels... Und das Gewässer nahm Überhand und wuchs so sehr auf
Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden... Da ging
alles Fleisch unter... Und das Gewässer stand auf Erden 150 Tage." Welch
eine schreckliche Stille nach den grauenvollen Ereignissen!
Durch diese Stille schwebt die Arche. Sie allein birgt noch
Leben. Nur ein paar Zentimeter Holz trennen die Menschen darin von dem Verderben.
Aber — sie sind sicher geborgen.
Welch herrliches Gleichnis für das Kreuz des Heilandes! Wer
sich durch Gottes Gebot von seinem verlorenen und bösen Herzenszustand
überführen lässt, wer nun nichts mehr zu seiner Entschuldigung sagt, sich
vielmehr vor Gott ganz und gar schuldig gibt — wer aber dann im Gehorsam des
Glaubens Jesus, den Gekreuzigten, annimmt als den Versöhner, wer an Ihn glaubt
als den, der Sünder gerecht spricht, — kurz: wer diesen von Gott selbst
verordneten Heilsweg in der Wahrheit geht, der ist in die Arche aufgenommen.
Der ist geborgen im Frieden mit Gott. Der weiß sich gerettet vor dem
Zorngericht Gottes. Und er singt mit dem 46. Psalm: „Wenngleich die Welt
unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, — dennoch soll die Stadt
Gottes fein lustig bleiben..." Ja, die Welt wird untergehen in Gottes
Gericht. Sie wird ertrinken im Meer ihrer Schuld und verbrennen in den Flammen
des Zorns. Aber von der Stadt Gottes heißt es Jesaja 33, 24: „Das Volk, das
darin wohnt, wird Vergebung der Sünden haben." Welch sichere Arche bietet
Gott uns an im Kreuz!
3. Der Entscheidungs-Charakter der Arche
„Da ging Noah in die
Arche..." Und nun folgt ein seltsames Sätzchen: „...und der Herr schloss
hinter ihm zu."
Was heißt denn das? Nun machte Gott selbst einen Unterschied
zwischen drinnen und draußen. Noah war gerettet und konnte nicht mehr heraus.
Und die andern waren verloren, und die Arche konnte sie nicht mehr aufnehmen.
„Gott schloss hinter
ihm zu." Das gibt es auch bei der neutestamentlichen Kreuzesarche.
Irgendwann müssen wir uns einmal klar für den Herrn entscheiden. Das ist unser
Schritt. Aber selige Stunde, wenn dann Gott Seinen Schritt tut und zuschließt.
Paulus drückt das so aus: „Der Geist gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes
Kinder sind." Die Bibel nennt das „Versiegelung mit dem Heiligen
Geist". Da ist man seines Heils gewiss. Da erlebt man wohl noch Kämpfe,
Niederlagen und Nöte. Aber — man kann nicht mehr herausfallen aus dem Heil.
„Gott schloss
hinter ihm zu." Das heißt aber weiter: Die draußen konnten auch nicht mehr
hinein. Vielleicht waren da Bekannte des Noah. Als die Sintflut losbrach,
erinnerten sie sich seiner, nahmen einen Kahn und klopften an der Arche an.
Aber die blieb verschlossen, und der Sturm riss den Kahn in die Tiefe. Es
rettet uns einmal nicht die Bekanntschaft mit Christen. Wir müssen selbst in
der Arche geborgen sein.
Und da waren wohl auch Leute, die hatten an der Arche
mitgebaut. O, wie mögen sie angeklopft haben! Aber sie kamen um. Man kann als
Pfarrer und Mithelfer in der Arbeit des Reiches Gottes am Bau der Arche
beteiligt gewesen sein — und geht doch verloren, weil man selbst die Rettung
nicht angenommen hat.
Als die Sintflut hereinbrach, war die Arche plötzlich nicht
mehr unzeitgemäß. Und wer weise ist, der weiß, dass es heute nichts Wichtigeres
gibt als Jesu Sterben für uns.
Darum freue ich mich, zum Schluss sagen zu dürfen: Die Rettungs-Arche im Kreuze Jesu steht für uns alle heute offen.
„Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein
hervor. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten. Und er segnete den
Abram."
1. Mose 14, 18 und 19a
Diese Predigt beginne ich mit widersprechenden Gefühlen. Ich
bin voll großer Freude, weil wir hier eine so herrliche und tiefsinnige
Geschichte des Alten Testaments vor uns haben. Sie hat auch die Psalmdichter
und den Schreiber des Hebräerbriefes nicht losgelassen. Zugleich aber bedrückt
es mich, dass sie nicht allgemein verständlich ist, sondern dass dies eine
Geschichte nur für Christenleute ist, für wirkliche Streiter des Herrn, für
solche, die in den „Fußtapfen des Glaubens des Vaters Abraham" wandeln.
Vor kurzem wollte ich am Jungfernstieg in Hamburg in ein
großes Hotel gehen. Doch da las ich am Eingang ein Schild: „Nur für englische
Offiziere." — So steht gleichsam über unsrer Geschichte: „Nur für solche,
die Jesus angehören." Wir überschreiben den Text:
1. Das Kampfgetümmel
Der Gottesmann Abraham liebte die Stille. Aber es ging ihm
wie den Knechten Gottes zu allen Zeiten: Immer wieder wurde er aus der Stille
herausgerissen.
Da kam eines Tages ein schweißbedeckter Bote angestürzt:
„Feinde haben die Stadt Sodom überfallen, alles geraubt und die Bewohner als
Sklaven mitgenommen. Auch dein Neffe Lot ist verschleppt!" Armer Abraham!
Es gibt in dieser Welt keine Ruhe für die Streiter des Herrn. Abraham weiß das.
Darum rüstet er sofort 318 Knechte und zieht mit ihnen los, Lot zu befreien.
Es muss jedem auffallen, dass Abraham so viele Waffen zur Hand
hatte und dass er so schnell gerüstet war.
Das ist ein gutes Bild für die Streiter des Herrn: Sie
lieben die Stille, aber sie wissen auch: „Wir sind im Kampfe Tag und
Nacht.." Ja, sie sind im Kampfe Tag und Nacht! Der Alltag bedrückt die Kinder
Gottes genauso wie die Weltmenschen. Wenn auch die Streiter des Herrn im Gebet
herrliche Durchhilfe erfahren dürfen, so gefällt es dem Herrn doch oft, sie
gerade in äußeren Dingen durch besondere Nöte und Stürme zu führen. Es bleibt
ihnen von den Kämpfen und Sorgen dieser Welt nichts erspart.
Aber sie haben einen noch härteren Kampf zu führen, nämlich
den Kampf gegen das eigene Herz, gegen Fleisch und Blut. Wer dem Herrn Jesus,
seinem Erlöser, angehört, der möchte Ihm ganz gehören, der will dem Geiste
Gottes gehorsam werden. Fleisch und Blut aber stehen gegen den Heiligen Geist.
Unser Herz will uns bald zur Selbstgerechtigkeit und zum Hochmut verführen,
bald will es uns auf die breiten Sündenstraßen der Welt locken. Da muss ein
Christenherz den Kampf aufnehmen und es lernen, „mit Christus gekreuzigt
sein". Da fleht man um Seine Hilfe: „Herr Jesus, halte die Nägel fest, mit
denen mein alter Mensch mit Dir gekreuzigt ist!" Es gibt im Alten
Testament eine sehr lehrreiche Geschichte, in der uns erzählt wird, dass Israel
das Land Kanaan einnahm und die heidnischen Kanaaniter vertrieb. Aber es
wurden nicht alle Ureinwohner verjagt. Wir lesen im Richterbuch: „Der Herr ließ
die Heiden bleiben, auf dass die Geschlechter der Kinder Israel streiten
lernten." So lässt der Herr, solange wir leben, unsre alte, widergöttliche
und ungeistliche Natur rumoren, damit wir streiten lernen. Aber mit all dem ist
die ganze Schwere des Kampfgetümmels, in das ein Streiter Jesu gestellt wird,
noch nicht ausgesprochen. Der Apostel Paulus sagt im Epheserbrief, dass wir
nicht mit Fleisch und Blut allein, sondern mit den Mächten der Finsternis zu
kämpfen haben. Christen wissen etwas von der heimlichen Macht Satans. Und darum
halten sie es wie Abraham, der seine Waffenrüstung immer bereit hatte. Sie
legen den Schild des Glaubens und das Schwert des Wortes Gottes nicht aus der
Hand.
2. Eine herrliche Begegnung
Abraham hat mit seinen 318 Knechten in der Nacht die Feinde
überfallen, sie besiegt und seinen Neffen Lot befreit. Er ist ein müder Mann,
als die Sonne aufgeht. Stellen wir uns einmal vor, was es für den Alten
bedeutet: der Marsch, die geopferte Nachtruhe, der heiße Kampf in der
Dunkelheit!
Nun kommt er ermattet aus dem Kampf. Da tritt ihm eine
geheimnisvolle Person entgegen: Melchisedek, der König von Salem. Melchisedek
heißt auf deutsch: König der Gerechtigkeit. Und Salem heißt: Frieden. Der
Hebräerbrief sagt uns deutlich, dass dieser König der Gerechtigkeit in dem
Reiche des Friedens Jesus ist. Der Sohn Gottes, der — als die Zeit erfüllt war
— Fleisch und Blut annahm und unser Bruder wurde, war vordem von Ewigkeit her
beim Vater. Er selbst tritt dem Abraham entgegen.
Nicht anders geht es heute zu. Er selbst, der König des
Friedens, macht sich auf, Seine müden und ermatteten Streiter zu stärken. Sein
Reich ist wirklich ein Reich des Friedens. Dieser Friede geht über alles
Begreifen. Die Bibel sagt: Er ist „höher als alle Vernunft". Es hat noch
selten so viel nervöse, zerrüttete, angeschlagene Leute gegeben wie heute.
Unser Kopf gleicht einem Radio. Wenn man das andreht, ertönt alles wild
durcheinander: Tanzmusik, Gottesdienst, Politik, Karnevalsschlager. Jawohl, so
ist auch unser zerquälter Kopf. Und wir können uns nicht vor uns selber retten.
Aber nun tritt Jesus zu uns, und da heißt es: „Ach mein Herr Jesu, dein
Nahesein / bringt großen Frieden ins Herz hinein..."
Die Bibel berichtet nicht viel über die Begegnung zwischen
Abraham und Melchisedek. Aber wir spüren zwischen den Zeilen, welch eine
unsagbare Erquickung diese Begegnung für Abraham bedeutete. Ich habe in meinem
Bücherschrank eine Menge Lebensbeschreibungen von großen und kleinen Kindern
Gottes. Es ist wohl keine darunter, die nicht von solchen Erquickungsstunden
nach heißem Kampf äußerer und innerer Anfechtung berichten kann.
„...und Melchisedek segnete den Abraham." So segnete
Jesus Seine
Jünger, ehe Er gen Himmel fuhr, nach all den Stürmen des
Karfreitag. Diesen Segen wünscht Paulus den verfolgten Christen hin und her im
Lande. Den durfte er auch selbst erfahren, als er im Gefängnis in Rom schrieb:
„...der uns gesegnet hat mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen
Gütern."
3. Die Gaben des Melchisedek
In unserer Geschichte heißt es :„Er trug Brot und Wein
hervor." Das ist seltsam und muss uns geradezu befremden. Wenn es sich bei
dem Melchisedek um irgendeinen der eingeborenen Fürsten gehandelt hätte, dann
hätte er ganz bestimmt nicht Brot und Wein hervorgebracht, sondern erst einmal
ein paar fette Hammel. So pflegte man nämlich damals seine Gäste zu bewirten.
Vielleicht hätte man auch einen Ochsen an den Spieß gesteckt.
Dass Melchisedek
Brot und Wein brachte, um den Abraham zu erquicken, gibt den Streitern Jesu
Christi einen wichtigen Hinweis. „Brot und Wein" — das kommt in der Bibel
noch einmal vor, und zwar in der Geschichte von der Einsetzung des Abendmahles:
„Jesus nahm das Brot, brach's, gab's seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und
esset. Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird." Das Brot, das
gebrochen wird, ist der Hinweis auf den Leib Jesu Christi, der für uns in den
Tod gegeben wurde zur Versöhnung der Sünder mit Gott. „Desgleichen nahm er auch
den Kelch, dankte, gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle
daraus. Das ist der Kelch des neuen Bundes mit Gott in meinem Blute, das für
euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden." Der Wein
deutet auf das Blut Jesu Christi hin, das am Kreuze auf Golgatha vergossen
wurde. Es ist mächtig, dies Blut! Denn von ihm sagt Gottes Wort: „Das Blut Jesu
Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde."
Hier wird nun deutlich gesagt, wodurch der Herr Seine müden
Streiter erquickt: durch das Wort von der Versöhnung, durch das Blut, das
Vergebung der Sünden schenkt. Es gibt keine stärkere Erquickung für Kinder
Gottes als den Blick auf das Kreuz Jesu, in dem uns all dies gegeben wird. Von
ihm steht im 34. Psalm: „Welche auf ihn sehen (wie Er für uns am Kreuze hängt),
die werden erquickt."
„Und Gott sprach zu Abraham: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde."
1. Mose 22, 2
Manchmal packt mich die Angst, Gott und wir könnten aneinander vorbeireden. Wir schreien unsre Not zu Gott, dass Er uns helfe. Aber Gottes Wort antwortet: „Ich habe euch Heil gegeben in Jesus. In Ihm ist euch geholfen. Wie unter euren heidnischen Vorfahren das Kreuz aufgerichtet wurde, so muss es bei euch wieder geschehen." — Darauf antworten wir: „Ach nein, nicht das Kreuz! Wir brauchen Geld und Wohnungen und Gesundheit." Gottes Wort aber sagt: „Es ist in keinem andern Heil als in Christus, dem Gekreuzigten." Ob nicht alle unsre Heil-Losigkeit daher kommt, dass das Kreuz nicht in unsern Herzen aufgerichtet ist?
Darum wollen wir uns mühen um das Verständnis des Kreuzes Christi, weil wir glauben, dass das not-wendig ist, d. h. dass es die Not wendet.
1. Also hat Abraham Gott geliebt, dass er seinen Sohn gab
Da fordert Gott eines Tages von Abraham: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berg, den ich dir sagen werde."
Die Bibel gibt nun keine psychologische Darstellung des Seelenschmerzes. Sie berichtet nur: „Da machte sich Abraham frühe auf..." Wir sehen ihn schweigend ins Land Morija ziehen, begleitet von seinem Sohn und einem Knecht, der den Esel führt. Und der Esel trägt nicht nur den Proviant, sondern auch das Holz zum Opfer. Als sie an dem Fuß des geheimnisvollen Berges angelangt sind, lässt Abraham den Knecht mit dem Esel zurück, legt das Holz auf den Sohn, nimmt das Messer und das Feuer. Und dann gehen sie miteinander.
Welch ein Weg! Einmal unterbricht der Sohn das Schweigen: „Mein Vater! Hier ist Feuer und Holz. Aber wo ist das Schaf zum Brandopfer?" Was geht wohl in Abrahams Seele vor, als er antwortet: „Gott wird sich ein Opfer ersehen", — und als sie dann miteinander den Steinaltar bauen, — und als er seinen Sohn bindet? Das war ja ein besonderer Sohn. Gott hatte ihn verheißen, als Abraham noch jung war. Und ein langes Leben hindurch hatte Abraham auf diesen Sohn gewartet. Mit ihm sein Weib Sara. Doch erst, als sie alt waren und die Vernunft nicht mehr hoffte, da hatte ihnen Gott den Sohn gegeben. Ganz besondere Verheißungen ruhten auf ihm. Und nun ist Abraham bereit, ihn zu opfern, als Gott ihn fordert. Wie muss er Gott lieb haben!
Wir fordern nur immer etwas von Gott: Hilfe, Erlösung, Trost, Gaben. Und auch Rechenschaft verlangen wir von Gott, wenn Er tut, was wir nicht begreifen.
Abraham aber ist
bereit, sein Liebstes zu opfern. Was für eine unermessliche Liebe zu Gott muss
das sein!
2. Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab
Jahrtausende sind seit dieser Geschichte ins Land gegangen. Das Land Morija — es ist die Gegend um Jerusalem her — hat manche Veränderung erfahren. Da wird auf jenem geheimnisvollen Berg — es ist der Berg Golgatha — wieder ein Altar aufgerichtet. Und wieder schickt sich ein Vater an, seinen geliebten Sohn zu opfern. Diesmal ist der opfernde Vater der heilige Gott selbst. Und das Opfer ist Jesus Christus, der Sohn Gottes. Wo einst Abraham seinen Isaak band, da steht nun Jesus, gebunden, bereit zum Opfer. So ist Isaak ein Vorbild auf den gekreuzigten Christus. Aber — wie viel wunderbarer ist das, was in Jesus geschieht! Zwar tat Abraham etwas, was uns unfassbar groß erscheint: Er opfert sein Liebstes Gott. Aber eben doch dem Gott, der es wert ist, dass man Ihm alles gibt, dem Gott, der Abraham gesegnet und geliebt hatte, dem Gott, der Abraham tausendmal das Herz abgewonnen hatte. Gott aber opferte Sein Liebstes einer Welt, die Ihn verachtet und beleidigt hat; einer Welt, die Ihn hasst und verspottet, die Ihn vergisst oder wie einen bösen Knecht behandelt, einer Welt, die nicht wert ist, dass man sie liebt, einer Welt, die bestialisch, gemein, niedrig, entsetzlich ist, die so ist, wie wir sind. „Also hat Gott diese Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab ..." Was für eine unermessliche Liebe muss das sein! Wenn die Menschen auf den Jammer der Welt zeigen und rufen: „Da seht, Gott liebt uns nicht mehr!", dann weisen wir auf das Kreuz und rufen: „O seht, wie sehr Er uns liebt!"
Es ist nicht Spielerei, wenn ich euch von Isaaks Opferung zum Kreuze Jesu führe. Ein Größerer hat das schon getan: Paulus. In der alttestamentlichen Geschichte lobt Gott den Abraham: „Du hast deines einzigen Sohnes nicht verschont." Das gleiche Wort braucht Paulus in Römer 8, 32 und sagt: „Gott hat seines eingeborenen Sohnes nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben." Und dann fährt er fort: „Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken!" Das heißt: Nimm jetzt nur erst einmal diesen fundamentalen Liebesbeweis Gottes im Glauben an! Von da aus lösen sich alle Fragen und Nöte.
Darum sagen wir: Der Blick auf das Kreuz ist not-wendig. Er wendet die Not deines Lebens.
Ein Missionar
berichtet von einem Hottentotten. Der hatte mit Mühe Johannes 3, 16 gelernt:
„Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab..."
Eines Tages trat er reisefertig vor den Missionar: „Sende mich! Ich muss gehen
und die gute Botschaft allen verkünden!" Der Missionar wandte ein: „Du
kannst ja nichts als nur den einen Spruch." „Ist das nicht genug?"
rief der Schwarze. „Werden die Leute sich nicht freuen und Herz und Ohr
öffnen, wenn sie hören, dass Gott auch sie liebt?!"
3. Im Opfer ist die
Versöhnung für unsere Sünden
Nun müssen wir auf
die Abrahamsgeschichte zurückkommen. Ich habe sie noch nicht zu Ende erzählt:
Abraham hatte seinen Sohn auf den Altar gelegt. Er ergriff das Messer, um ihn
zu opfern. Da rief ihm der Engel des Herrn zu: „Lege deine Hand nicht an den
Knaben! Nun sehe ich, dass du Gott fürchtest."
„Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder in der Hecke mit den Hörnern hangen. Und er nahm den Widder und opferte ihn."
Dieses Opfer hat mich beschäftigt. Man kann ja wirklich nicht sagen, dass dem Abraham dies Opfer ein gleichwertiger Ersatz für seinen Sohn war. Denn der Widder kostete ihn gar nichts. Den fand er. Was soll also dies Opfer noch?
Seht, in dieser Stunde stand Abraham in erschütternder Weise
vor Gott. Und da wusste er, was jeder in solcher Lage weiß, dass ein Sünder
vor Gott nicht bleiben kann ohne Versöhnung. Die Bibel erzählt auch von
Abrahams Sünde. Die stand in dieser Stunde groß vor ihm. Für die brauchte er
jetzt die Versöhnung. Darum flüchtete er zum Opfer. Dies Widderopfer war dem
Manne Gottes nur ein Hinweis auf das kommende, große Versöhnungsopfer Jesu am
Kreuz. So können wir sagen: Er stellte sich unter das Kreuz, in die Versöhnung
mit Gott. Da wurde ihm der Friede Gottes geschenkt. Das brauchen auch wir vor
allem, diesen Frieden Gottes, der aus der Versöhnung kommt. Stürme gehen über
die Welt. Wenn der Sturm den Ozean peitscht, bleibt doch die Tiefe des Meeres
ganz ruhig. So ist einer, der im Frieden Gottes steht. Sein Leben ruht in Gott.
Wie wünsche ich uns das!
„Jakob sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts
anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels."
1. Mose 28, 17
Haltet es bitte nicht für eine Spielerei, wenn wir in der
Passionszeit den alttestamentlichen Vorbildern des Kreuzes Christi nachdenken.
Ich bin gewiss, dass es dem Heiligen Geist gefallen hat, auch schon durch das
Wort des Alten Bundes das Kreuz Christi zu verkündigen. Allerdings in
verhüllter Form. Und wenn wir uns die Mühe machen, durch die Verhüllung
durchzuschauen, dann wird uns durch diese alt-testamentliche Kreuzespredigt
manches Wichtige über unser Heil in Christus geoffenbart werden.
So lasst es euch denn gefallen, dass wir darin fortfahren.
Wir wollen heute an Jakob sehen:
1. Die große
Verlassenheit
Durch die einsame Steppe im Norden Palästinas wandert ein
junger Mann. Ringsum grauenvolle Öde: kein Haus und kein Mensch, so weit das
Auge schaut.
Hier zieht nicht ein kühner Forscher mit starkem Herzen in
unbekannte Lande. Hier ist auch nicht ein junger Mann, der gern Freiheit und
Abenteuer kosten möchte. Von diesem Jakob heißt es in Kapitel 25: „Er war ein
sanfter Mann und blieb in den Hütten." Dieser junge Mann war
herausgerissen aus seiner sicheren Welt. Ihm war gleichsam der Boden unter den
Füßen weggezogen worden. So ist der Jakob recht ein Abbild vom Menschen unserer
Tage, der aus aller Sicherheit gerissen ist und ohne Halt durch eine zertrümmerte
Welt geht.
Aber warum war der Jakob aus den Zelten des Vaters
ausgezogen? Er hatte seinen Bruder betrogen. Nun musste er vor dessen Rache
fliehen. Die Schuld war das unsichtbare, schwere Gepäck, das Jakob
mitschleppte. Und darin gleicht er anderen biblischen Gestalten. So wanderte
Adam über den Acker, der Dornen und Disteln trug, entwurzelt und vereinsamt
durch Schuld. So zog Kain „von dem Angesicht des Herrn in das Land Nod",
ein schuldbeladener Mann.
Wir tragen alle in irgendeiner Weise dies Bild Adams an uns:
aus dem Frieden verjagt durch Schuld vor Gott. So also zog nun auch Jakob durch
die Einsamkeit. Und dann brach eine Nacht herein. Die Bibel spricht von dem
„Grauen der Nacht". Jakob bettete sich auf einen Stein. Über ihm
leuchteten kalt die Sterne. Und der Himmel war so fern! So fern!
Ja, das ist der Grund für die grenzenlose Verlassenheit bei
den Menschen unserer Tage: Gott und der Himmel sind so fern. Die Oberflächlichen
suchen sich zu helfen: „Nun müssen wir eben ohne den Himmel fertig
werden." Und die ernsten Herzen bekümmern sich: „Wie sollte Gott auch zu
unserm schuldbeladenen Leben sich herabneigen!"
2. Der offene Himmel
Ich denke, Jakob hat lange zu dem fernen, verschlossenen
Himmel aufgeschaut. Schließlich fielen ihm die müden, brennenden Augen zu.
Und nun schenkte ihm Gott einen wundersamen Traum. Der Himmel
tat sich auf: Neben dem Schlafenden erhob sich eine Treppe, deren „Spitze bis
an den Himmel reichte". Und die Engel Gottes stiegen daran auf und ab. Der
Himmel stand offen; Himmel und Erde waren verbunden.
Ist das nicht eine herrliche Darstellung des Kreuzes Jesu
Christi? Ja, so steht es mit dem Kreuz: Es ist die einzige Verbindung zwischen
der Welt Gottes und dem Menschen. Es ist die Treppe, auf der die Kräfte der
unsichtbaren Welt in diese Todeswelt einströmen. Es ist die Leiter, auf der
verlorene Sünder in den Himmel kommen. In der wunderbaren Schilderung vom Traum
Jakobs heißt es: „Er sah eine Leiter, die rührte mit der Spitze an den
Himmel." Kenner der Bibel denken hier sofort an eine andre Geschichte, in
der auch davon die Rede ist, dass eine Leiter gebaut werden soll, deren Spitze
an den Himmel reiche. Ich meine den Turmbau zu Babel. Nun, aus dieser Treppe
wurde nichts. Solch eine Treppe kann nicht von unten nach oben, sondern nur von
oben nach unten gebaut werden. Und das ist die Herrlichkeit des Kreuzes, dass
hier nicht Menschen etwas Vergebliches versucht haben. Nein! Gott selbst hat
diese Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde hergestellt. F. v.
Bodelschwingh hat einmal gesagt: „Wenn man an keinem andern Ort etwas merken
sollte — unter dem Kreuz von Golgatha kann man es studieren, wie herrlich Gott
den Elenden hilft."
„Hier ist die Pforte des Himmels", sagte Jakob, als er
die Leiter gesehen hatte. „Hier ist die Pforte des Himmels", sagen wir
unter dem Kreuze Jesu. Ich habe mir vorgestellt, wie Adam nach dem Sündenfall
manchmal um das verschlossene Paradies geirrt ist und eine Tür gesucht hat.
Hier unter dem Kreuz geht die Türe auf. Jesus sagt in Johannes 10, 9: „Ich bin
die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden."
„Hier ist das Haus Gottes", sagte Jakob, als er die
Himmelsleiter gesehen hatte. „Hier wohnt Gott auf Erden", sagen wir unter
dem Kreuze Christi. Das ist wichtig! Wo ist Gottes Haus? Ich habe Dome gesehen,
die Gotteshäuser genannt wurden. Aber mit ihren Bildern und Altären glichen sie
eher Götzentempeln. Hier beim Kreuz von Golgatha ist Gottes Wohnung. Da
begegnen wir dem lebendigen Gott. Hier schauen wir in den geöffneten Himmel.
Hier walten die Engel, die Mächte und Kräfte der unsichtbaren Welt.
3. Das Gnadenwort
Jakob hat in jener Nacht große Dinge nicht nur gesehen,
sondern auch gehört. Der Herr stand oben an der Leiter und verhieß ihm: „Ich
bin mit dir!"
Welch ein Wort! Der „Hohe und Erhabene" schließt einen
Bund mit dem Staube. Und die Schuld Jakobs? Ja, gerade hieran wird deutlich,
wie sehr diese Himmelsleiter ein Abbild des Kreuzes Jesu ist: Im Kreuz schließt
Gott einen Bund mit dem Sünder. Und die Schuld? „Wo sind die Sündenschulden
all? / Im Meer des Bluts versenkt! / Ich weiß, dass er von ihrer Zahl / nicht
einer mehr gedenkt." — Jakob ist an dem Morgen nach dieser Nacht
weitergewandert. Er war immer noch einsam. Und es war noch dieselbe Wüste,
durch die er zog. Und doch — alles war anders geworden. „Ich bin mit dir!"
Im Bunde mit Gott durch Vergebung der Sünden. Welch ein frohes Wandern wurde
das nun!
Ich habe keine Hoffnung, dass die Welt, in der wir leben
müssen, sich bald verändern wird. Wir werden noch manchen sauren Tritt tun
müssen. Aber wie ist doch alles verändert, wenn wir die Himmelsleiter von
Golgatha kennen! Im Frieden mit Gott durch Vergebung der Sünden kann man
fröhlich und getrost seine Straße ziehen — und wenn sie nur durch Trümmer
führte.
„Also diente Jakob um Rahel sieben Jahre."
1. Mose 29, 20a
Es gibt so viele einsame Menschen.
Das klingt im ersten Augenblick verwunderlich. Denn noch nie
haben Menschen so dicht aufeinander gewohnt wie wir heute in Deutschland. Aber
— je dichter die Menschen beieinander sind — je mehr wir einander von unsern
Nöten und alltäglichen Schwierigkeiten vorreden — desto einsamer werden wir
innerlich.
AU den einsamen Leuten unter uns möchte ich jetzt sagen:
Warum erwarten wir etwas von Menschen, was sie uns doch nicht geben können?
Jesus ist der, welcher unsre hungrige Seele sättigen kann. Hast du schon einmal
darüber nachgedacht, wie stark der Seelenfreund und Herzenskündiger Jesus um
dich wirbt?
Sein ganzes Leben war ein Ringen um die Seele der Menschen.
Und auch jetzt sucht Er als der Lebendige durch den Heiligen Geist, uns zu
gewinnen. Am stärksten aber hat Er um uns geworben, als Er am Kreuze starb.
Davon singt eines der beliebtesten Passionslieder:
Dies Werben Jesu will ich deutlich machen an einer Geschichte aus dem Leben Jakobs.
1. Die Geschichte einer ganz großen Liebe
Der junge Jakob war auf seiner Wanderung in das Haus eines Mannes namens Laban geführt worden. Dort sah er Labans Tochter Rahel. Die gewann er so lieb, dass er um sie warb. Der Laban aber war ein harter und geiziger Mann. So gab das eine lange Verhandlung. Das Ende war, dass Jakob sich erbot, er wolle sieben Jahre als Knecht dienen, um Rahel zur Frau zu bekommen. Und so geschah es. Nun denkt einmal: Dieser Jakob stammte aus einer sehr reichen Familie. Er war der verwöhnte Sohn seiner Eltern gewesen. Der macht sich nun selber zum niedrigen Knecht, zum Sklaven, um die Braut zu gewinnen.
Und als die sieben Jahre um waren, betrog ihn Laban. Da musste er noch weitere sieben Jahre um Rahel dienen. Sollte er vor dieser schweren Belastung nicht den Mut verlieren? O nein! Er nahm auch diese weiteren sieben Jahre auf sich. „So lieb hatte er sie." Das ist eine ergreifende Liebesgeschichte, die unserer oberflächlichen Zeit wie ein Märchen vorkommen mag. In Düsseldorf hörte ich einst den albernen Karnevalsschlager von dem treuen Husar: „Er liebt sie schon ein Jahr und mehr. / Wo nimmt denn bloß der Kerl die Liebe her!" Ein Geschlecht, das die Liebe so billig gemacht hat, wird kaum ein Verständnis haben für diese ganz große Liebe des Jakob. Und so kann die Geschichte eine Anklage werden für manchen jungen Mann, der mit der Liebe schändlich spielt; und für manche Ehe, wo man es von vornherein nicht so ernst nahm wie Jakob. Und die Ehe wurde dann auch danach!
Aber wir haben in dieser Erzählung mehr vor uns als eine ergreifende Liebesgeschichte. dass ein Mann vierzehn Jahre Sklave wird, um eine Braut zu gewinnen, ist so unerhört, dass wir mehr dahinter vermuten dürfen.
2. Der Knecht
Ich sehe im Geist den Jakob vor mir, der Jahr um Jahr sich erniedrigt, der harte Dienste als Knecht tut. „Knecht"!
Jeder Kenner der Bibel horcht hier auf. „Knecht", das ist ja der Name, den schon das Alte Testament dem kommenden Heiland und Erlöser gibt! Er wird da genannt der „Knecht Gottes". So sagt Gott Jesaja 42, 1: „Siehe, das ist mein Knecht, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat." Oder Jesaja 53, 13: „Siehe, mein Knecht wird erhöht und sehr hoch erhaben sein."
In diesem Kapitel ist auch die Rede von Seiner Knechtsarbeit: „Darum, dass seine Seele gearbeitet hat..." Und als ein Lastträger wird Er uns da gezeigt: „Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn." Welch ein Lastträger!
Ich sah vor kurzem in einer Kirche ein ergreifendes Passionsbild. Es war dargestellt, wie der Herr unter dem Kreuz zusammenbricht. Wie ein Schwerstarbeiter sah Er aus, der bis zum letzten die Kraft angespannt hat. Die größte Arbeit aber tat Er, als Er völlig erniedrigt an diesem Kreuz hing. Wieder spricht ein alttestamentliches Wort von Seiner Knechtsarbeit: „Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten." Seht, da ist der „Knecht Gottes" unser Knecht geworden. Die Jünger haben ja — bis ihre Augen erleuchtet wurden — sich immer an dieser Knechtsgestalt Jesu gestoßen. Und immer wieder hat Er ihnen gesagt, dass Er gekommen sei, „nicht dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zur Bezahlung für viele". Seht nun, wie der Jakob den Heiland vorgebildet hat! Er war der geliebte Sohn in seines Vaters Haus. Noch viel mehr war es so mit Jesus. Im hohenpriesterlichen Gebet lässt Er uns wie durch ein Fensterchen einen Blick tun in jene Stellung beim Vater, wenn Er da spricht von der Klarheit, die Er beim Vater hatte, ehe die Welt war.
Und wie Jakob ist Er aus dieser Herrlichkeit herausgegangen und ein dienender, niedriger Knecht geworden, um sich eine Braut zu erwerben und zu verdienen.
Jawohl, um die geliebte Braut zu verdienen — darum wurde Jakob ein Knecht, und darum wurde Jesus der niedrige Knecht, der sterbend am Kreuz Lastträger wurde und mit der Seele arbeitete. Wer ist denn die Braut, um die Jesus durch Seinen Knechtsdienst werben wollte?
3. Die Braut
Wie glücklich muss die Rahel gewesen sein, dass der verwöhnte Jakob um ihretwillen die schwere Knechtsarbeit auf sich nahm! Es ist schön, mit solcher Liebe geliebt zu werden. Wie selig aber muss erst die Braut sein, die der Sohn Gottes mit einer Knechtsarbeit, die zum Tode führte, erwerben wollte! Wer ist die glückliche Braut, die so überschwenglich geliebt wird?
Die Bibel sagt: Diese Braut ist die Gemeinde der Auserwählten. Aber weil diese Gemeinde eben nicht ein Kollektiv ist, sondern eine Schar von lauter Einzelnen, darf jetzt jeder von euch für sich fest glauben: Die Braut, um die der Herr Jesus so unendlich hart geworben und gedient hat, ist meine Seele.
O seht nur recht auf das Kreuz! Seht den Mann mit der Dornenkrone genau an! Lasst nicht den Blick von dem Haupt voll Blut und Wunden, bis es euch aufgeht: Hier wirbt Er um mich. Meine Seele soll sich Ihm verloben, Ihm, der hier um meinetwillen so niedrig wurde. Seine Dornenkrone, Sein gemarterter Leib, die blutigen Nägel, Seine arbeitende Seele, Sein Todesschrei — alles, alles redet die werbenden Worte, die wir Hosea 2, 21 lesen: „Ich will mich dir verloben in Ewigkeit."
Rahels Herz fliegt ihrem Bräutigam entgegen. Sollte nicht auch unser Herz diesem Liebeswerben sich ergeben? O wie hart ist unser Herz! dass wir doch sprechen lernten: „Liebe, dir ergeb ich mich, / dein zu bleiben ewiglich!"
„Da sprach Jakob zu seinem Hause und zu allen, die mit ihm
waren: Tut von euch die fremden Götter, so unter euch sind, und reinigt euch,
und ändert eure Kleider... Da gaben sie ihm alle fremden Götter, die unter
ihren Händen waren, und ihre Ohrenspangen; und er vergrub sie unter einer
Eiche, die neben Sichern stand."
1. Mose 35, 2 und 4
Heute wollen wir von einem Grab sprechen.
Bei diesem Grabe handelt es sich aber nicht um eine
betrübliche, sondern vielmehr um eine sehr frohe Geschichte. Es geht da auch
gar nicht kümmerlich, sondern herrlich und großartig zu. Wir überschreiben die
Geschichte:
1. Wie es zu diesem Grabe kam
Unsre Textgeschichte erzählt von dem großen Gottesmann
Jakob. Aus dem armen Jüngling war ein reicher Mann geworden. Ihn umgab ein
Gewimmel von Kindern, Enkeln, Knechten und Herden. Da hatte er jeden Tag unendlich
viel zu tun und zu regeln. Jakob wird wahrscheinlich oft ein geplagter und
gehetzter Mann gewesen sein.
Aber — es war merkwürdig —: Je mehr Jakob sich nun mühte,
desto schwieriger wurden die Verhältnisse, desto mehr drang auf ihn ein.
Und dann auf einmal — geradezu unmotiviert — steht da in der
Geschichte: „Und Gott sprach zu Jakob: Mache dich auf und ziehe nach Bethel und
mache daselbst einen Altar dem Gott, der dir einst erschien!"
Gott redet nur in der Stille. So müssen wir annehmen, dass
Jakob aus aller Verworrenheit seines Lebens, aus allen Nöten und aus aller
Unruhe in die Stille geflüchtet ist. Und da redet Gott! Es wird uns lange nicht
alles berichtet, was Gott Jakob in dieser Stunde aufdeckte. Es liegt immer ein
großes Geheimnis über solchen Stunden, wo Gott mit einer Seele allein redet.
Aber wir können Einiges ahnen:
Gott sagt etwa so: „Sieh, Jakob! Es ist nicht von ungefähr,
dass dein Leben so hart und unruhig geworden ist. Denn in deinem Leben und in
deinem Hause ist nicht mehr alles, wie es sein sollte. Da haben sich
heidnisches Wesen und weltliche Eitelkeit eingeschlichen. Da wird der Heilige
Geist betrübt. Das Geisteswesen hat nicht mehr die Oberhand."
Diese stille Stunde mit Gott wurde für das Leben Jakobs
entscheidend. Und wer aufmerksam die Bibel liest, wird bald entdecken, dass
solche Gottesstunden das Wichtigste im Leben aller Knechte Gottes sind.
Haben wir noch die Fähigkeit zur Stille vor Gott? Zu solcher
schöpferischen Pause? Der katholische Professor Pieper hat in einer bedeutsamen
Schrift dargestellt, dass — ganz anders als in anderen Erdteilen und Rassen —
das Kennzeichen der abendländischen Kultur ein eiserner und verbissener
Arbeitsdrang ist. Der Preis, den wir dafür bezahlt haben, ist ungeheuerlich: Es
fehlt uns das Atemholen des inneren Menschen.
Dazu kommt der Wahnsinn unsres sogenannten Kulturlebens.
Jeder ist beständig einem Hagel von äußeren Eindrücken ausgesetzt: von
Fernsehen und Sensationen, von Zeitungen und Politik, von Radio und
Unterhaltung. Der Mensch lebt nur noch von dem, was von außen auf ihn gepresst
wird.
Und da hinein tönt wie eine tiefe Glocke das Wort des 46.
Psalms: „Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin!" Die griechische
Bibel übersetzt: „Habt musse und erkennt, dass ich Gott bin!"
2. Wie das seltsame Begräbnis stattfand
Kehren wir zu Jakob zurück, nachdem wir festgestellt haben,
dass
seine Lebensprobleme im Grunde die gleichen waren wie die
des
modernen Menschen.
Jakob tritt unter seine Leute und fordert sie auf: „Tut von
euch die
fremden Götter, so unter euch sind, und reinigt euch!"
Da gaben sie
ihm die Götzen und Ohrenspangen; und er vergrub sie unter
einer
Eiche zu Sichern.
Das war eine Stunde! Ich sehe im Geist, wie der Jakob unter
der alten Terebinthe das Grab geschaufelt hat. Und nun tritt einer nach dem
andern vor und wirft in die Grube, was Gott nicht gefällt. Da waren solche, die
sprangen freudig herbei. Auf ihren Gesichtern stand: „Endlich kommt mein Leben
in Ordnung!" Und da standen andre, deren Gesichter waren blass. Sie sahen die
Götzenbilder in ihren Händen an, wie süß und lieblich und wertvoll sie waren.
Was gab es da für ein Ringen in den Herzen! Und dann traten sie vor und warfen
— mit Tränen in den Augen. Aber sie warfen! Solch eine Grube sollten wir haben!
Aber — so möchte ich fragen — genügt ein Grab, in dem die äußeren Zeichen
meiner Weltliebe und Sünde versinken? Ich müsste ein Grab haben, in das mein
böses Herz und mein ungeistliches Wesen versenkt werden könnten. Wenn es doch
solch ein Grab gäbe!
Freunde! Das gibt es! Es ist das Kreuz des Sohnes Gottes auf
Golgatha, das für alle Zeiten und für alle Menschen aufgerichtet worden ist.
Ich sehe im Geist, wie durch die Jahrhunderte hindurch alle Knechte und Mägde
Gottes — ach nein! alle Kinder Gottes zu diesem Kreuze pilgern und dort ihre
Lieblingssünden, ja, ihre alte, böse Natur in den Tod geben; wie sie unter dem
Kreuze stehen und flehen: „Liebe, zieh uns in dein Sterben, / lass mit dir
gekreuzigt sein, / was dein Reich nicht kann ererben! / Führ' ins Paradies uns
ein." dass wir doch die Botschaft vom Kreuz recht erfassen wollten! Das
Kreuz Jesu ist die Versöhnung mit Gott. Aber es ist mehr! Paulus sagt: „Jesus
Christus ist uns von Gott gemacht zur Heiligung." Das Kreuz ist das Grab
unserer Liebe zur Welt und zur Sünde. Das Kreuz ist das Grab, wo unsere alte,
ungeistliche Natur in den Tod gegeben wird. Bildet euch nicht ein, ihr wüsstet
etwas vom Christenstand, wenn ihr nicht versteht, was das heißt: „Ich bin mit
Christo gekreuzigt." Oder: „Durch ihn ist mir die Welt gekreuzigt und ich
der Welt."
O Freunde! Seid stille und erkennt, wer Gott ist und wie es
um uns steht! Und dann lasst uns unser Leben unter Jesu Kreuz gründlich in
Ordnung bringen! Lasst uns zu Gott schreien wie der Liederdichter Gottfried
Arnold in dem Verse: „Herr, zermalme, brich, vernichte / alle Macht der
Finsternis, / unterwirf sie dem Gerichte, / mach des Sieges uns gewiss. / Heb
uns aus dem Staub der Sünden, / wirf die Schlangenbrut hinaus, / lass uns wahre
Freiheit finden / droben in des Vaters Haus."
3. Wie der ganze Vorgang zu einer Bereicherung führte
Kehren wir noch einmal zu Jakob zurück! Glaubt mir, es waren
in jenes Grab Dinge versenkt worden, die einen großen Wert darstellten. Und
ein Volkswirtschaftler könnte sich ausrechnen, um wie viel ärmer das Volk des
Jakob nun war.
Aber am Ende hätte er sich doch verrechnet. Denn wenn wir
die folgenden Verse in der Bibel lesen, dann erfahren wir mit Erstaunen, dass
das Heer Jakobs unendlich reich geworden war. In Friede und Freude zogen sie
nach Bethel. Die Furcht des Herrn fiel auf alle Heiden ringsum, die ihnen Not
gemacht hatten.
Das ist das
geheimnisvolle Gesetz im Christenstand: Je mehr ich mich entäußere von dem, was
Gott nicht gefällt, je mehr ich mit Jesus sterbe, je ärmer ich in mir selbst
werde, je mehr ich opfere — desto reicher werde ich an allen Gaben des Heiligen
Geistes: an Freude, Frieden, Hoffnung, Vollmacht. Nur der Mensch, der in der
Stille vor Gott lebt, der geistlich gesinnt ist, den die Welt einen armen
Narren heißt, der ist in Wahrheit reich in Gott.
„Als nun Joseph zu seinen Brüdern kam, zogen sie ihm seinen Rock, den bunten Rock, aus, den er anhatte, und nahmen ihn und warfen ihn in die Grube; aber die Grube war leer und kein Wasser darin."
1. Mose 37, 23-24
Es ist eine bedrückende Geschichte, von der uns hier das Alte Testament berichtet: Im Hochland bei Dothan ist ein großes Nomadenlager aufgeschlagen. Zehn Söhne des frommen Jakob weiden hier ihre Herde. Aber vom Geist ihres Vaters ist im Lager wenig zu spüren. Sie sind gottlose Gesellen. Und darum sind sie auch froh, dass ihr Bruder Joseph nicht bei ihnen ist. Sie hassen diesen Joseph, der es mit dem Vater hält, der ein junger Mann voll Heiligen Geistes ist und der auf Gottes Wegen geht.
Eines Tages taucht Joseph bei seinen Brüdern auf, vom Vater zu ihnen gesandt. Ich sehe ihn im Geist, wie er voll Liebe über die Berge herzueilt.
Aber als die Brüder ihn sehen, bricht ihr Hass lodernd aus: „Kommt, lasst uns ihn erwürgen!" Und als er freundlich unter sie tritt, umringen sie ihn. Harte Fäuste reißen ihm den bunten Rock, den ihm der Vater geschenkt hat, herunter. Er wird gefesselt und in eine leere Zisterne geworfen.
Nun könnte jemand einwenden: „Wir haben schlimmere Beispiele von Bruderhass erlebt! Was geht uns diese alte Sache an!" Sagt das nicht! Denn diese Geschichte steht im Alten Testament, von dem einmal jemand sehr richtig gesagt hat: „Das Alte Testament ist das Bilderbuch zum Neuen Testament." — Dieser Joseph in seiner Grube ist ein Vorbild auf den gekreuzigten Gottessohn.
1. Der Hass
Je mehr ich mich in die Josephsgeschichte versenkte, desto heller ging mir auf, wie hier im Grunde von Jesus erzählt wird. Die Parallelen sind erstaunlich:
„Als nun Joseph zu seinen Brüdern kam..." Er verließ die reichen Zelte seines Vaters und ging zu seinen Brüdern, die in der heißen Steppe unter großen Nöten und Gefahren lebten — und die so böse waren. So kam der Sohn Gottes zu uns. Paulus sagt: „Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an..." (Philipper 2, 6-7) Er kam wie Joseph, voll Liebe und mit ausgestreckten Händen.
...da zogen sie ihm den Rock aus ..." Gerade dieser Zug spielt in der Leidensgeschichte Jesu eine besondere Rolle. Auch der Sohn Gottes wurde erniedrigt, indem man Ihm die Kleider abriss. Nachher, als sie Ihn gekreuzigt hatten, saßen die Kriegsknechte und würfelten um seinen Rock (Johannes 19, 23-24).
„...und warfen ihn in die Grube, darin kein Wasser war." So haben rohe Fäuste den Sohn Gottes ergriffen und an das Kreuz genagelt. Und ich höre den Ruf des Verschmachtenden: „Mich dürstet!" (Johannes 19, 28). Wir finden in der Bibel eine Andeutung, warum die Brüder den Joseph so hassten: Gott hatte dem Joseph in einem Traum gezeigt, dass er der Herr seiner Brüder sein werde. Dieser Traum hatte die Brüder zur Weißglut erregt: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche!" Und nun sehe ich im Geiste eine parallele Szene: Jesus steht in der Nacht vor dem Karfreitag vor dem Hohenrat. Da springt der Hohepriester auf: „Ich beschwöre dich, dass du uns sagest, ob du seist Christus." Und Jesus antwortet hoheitsvoll: „Von nun an wird's geschehen, dass ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft." (Lukas 22, 66-69). In diesem Augenblick bricht der Hass heraus: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche!"
Die Brüder Josephs haben sich nicht viel Gedanken gemacht. Wenn sie aber über ihren Hass nachgedacht hätten, wären sie darauf gekommen, dass dieser im Grunde dem frommen Vater galt. Sie hassten den Joseph, weil sie den Vater hassten. Genauso steht's mit uns: Der natürliche Mensch will Jesus nicht, weil er Gott nicht will. Das Kreuz sagt uns: Der Mensch hasst Gott. Er will Ihn nicht. Trotz allen Christentums und aller Religiosität — er will Gott nicht! Im Jahre 1775 erschien ein sonderbares Buch: „Beweis, dass diejenigen, so Christum gekreuzigt, Westfälinger gewesen seien." O Freunde, nicht nur Westfälinger! Wir alle sind beteiligt. Der Heidelberger Katechismus übertreibt nicht, wenn er sagt: „Ich bin von Natur geneigt, Gott... zu hassen."
Im Grunde unsrer Seele sagen wir zu Jesus: „Ich will Dich nicht. Du bist der, den meine Seele hasst, denn ich will mein eigener Herr sein!" Welch eine tiefgreifende Umwandlung muss mit uns geschehen — ja, eine neue Geburt, bis wir zu Jesus sagen lernen: „Du bist der, den meine Seele liebt."
2. Die vertauschten Rollen
Ich sehe im Geiste die Szene vor mir, wie die Brüder um die Zisterne
stehen und voll Verachtung auf ihren Bruder hinabblicken, den sie
einmütig verurteilt haben.
Man greift sich an den Kopf: Wenn jemand in diese Grube gehörte,
dann waren es die Brüder. Und wenn einer Richter sein konnte, dann
war es Joseph. Die Rollen waren geradezu sinnlos vertauscht. Und
nun lasst uns unter Jesu Kreuz treten. Denn niemals wieder in der
Welt werden so unglaublich die Rollen vertauscht wie dort.
Jesus, dem der Vater alles Gericht übergeben hat, ist verurteilt. Und
wir, die Verurteilten, stehen um das Kreuz her.
Wenn man das Kreuz recht verstehen will, muss man erst begreifen
lernen, dass wir die Verurteilten sind.
Ach, dass wir aufhören wollten, zu faseln von unserem guten Herzen
und von unseren edlen Absichten! Vor Gott sind wir Verurteilte!
Sünder! Zur Hölle Verdammte!
Es ist seltsam und erschreckend, wie unsre Zeit das Organ für diese
Erkenntnis verloren hat. Man redet wohl viel von Schuld: Die Nazis
sind schuldig geworden am deutschen Volke, das deutsche Volk an
der Welt, die Welt wieder an uns. Die Bauern haben sich versündigt
an den hungrigen Städtern, die Besitzenden an den Flüchtlingen ...
Wie anders aber die Welt der Bibel: Als David an Uria schuldig geworden war, schrie er zu Gott: „An dir allein habe ich gesündigt!"
Wer endlich lernt, das zu sagen, der betet staunend an unter dem Kreuze: Der Unschuldige ist verurteilt — und ich bin frei! Die vertauschten Rollen sind unsre Errettung. „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten", bezeugt Jesaja.
3. Was Gott daraus macht
Josephs Weg ist ein Kunstwerk Gottes. Die Brüder wollten Joseph endgültig los sein. Darum verkauften sie ihn als Sklaven nach Ägypten. Dann brach eine schreckliche Hungersnot herein. Da wären nicht nur die Ägypter, sondern auch Josephs Brüder verhungert, wenn nicht Joseph, der inzwischen Herr in Ägypten geworden war, eingegriffen und eine Errettung geschaffen hätte.
Hätten die Brüder den Joseph nicht verworfen, dann hätte es keine Errettung gegeben. Und — so machen wir weiter — hätte der Hass der Menschen den Sohn Gottes nicht gekreuzigt, dann gäbe es in Zeit und Ewigkeit kein Heil für uns. So seltsam sind Gottes Wege.
Die Grube bei Dothan wurde der Anfang eines großen Heus. Wie ehr ist doch diese Grube ein Bild des Kreuzes, in dem unser völliges Heil liegt!
Als der erst dreißigjährige, gewaltige Erweckungsprediger Hofacker im Sterben lag, sagte er laut im Blick auf den Heiland am Kreuz: Das ist mein Mann! Wüsste ich nicht gewiss, dass Seine Liebe zu uns unendlich ist, dann müsste ich verzagen. Nur auf Ihn verlasse ich mich!" Und ich schließe: Was im Tode so getrost macht, ist doch wohl auch für unser Leben das Beste. „Am Kreuze meines Heilands, da ist mein sichrer Stand..."
„Und da die Midianmiter, die Kaufleute, vorüberreisten, zogen sie Joseph heraus aus der Grube und verkauften ihn den Ismaeliten um zwanzig Silberlinge; die brachten ihn nach. Ägypten."
1. Mose 37, 28
Wir beschäftigen uns hier ausschließlich mit Jesus. Ich könnte mir denken, dass es eine Menge Menschen gibt, die das für eine sehr nutzlose Tätigkeit halten.
Aber stelle dir vor, du lägst im Sterben. Welcher Wunsch wird da deine Seele erfüllen? Etwa der, dass du mehr Geld zusammengebracht hättest in deinem Leben? Ach nein! In dieser Stunde wird dir aller Besitz sehr gleichgültig sein. — Wirst du wünschen, dass du mehr Ehre unter den Menschen gehabt hättest? Ach nein! Da wird es dich nicht mehr interessieren, was die Menschen von dir denken. Da geht es nur noch um die Frage: „Was denkt Gott von mir?" — Wirst du wünschen, du hättest mehr gearbeitet? Ich bin sicher, dass uns da vieles sehr fragwürdig erscheinen wird, an das wir unsere Kraft rückten.
Du wirst nur eine einzige Sehnsucht haben: dass der dir zur Seite steht, der dich vor Gott rechtfertigt — Jesus. Darum ist jede Stunde unseres Lebens, in der wir uns mit Jesus beschäftigen, wohl angewandt.
Wir lassen uns bei der Betrachtung des Heils in Jesus wieder von einem alttestamentlichen Vorbild leiten, von Joseph.
1. Der Fremdling unter den Brüdern
Es wird uns berichtet, dass der Patriarch Jakob zwölf Söhne hatte. Unter diesen jungen Männern spielte Joseph eine besondere Rolle. „Sein Vater hatte ihn lieber als alle seine Kinder." Da ist es uns schon, als hörten wir von Jesus reden.
Gott ist die Liebe. Er liebt alle Menschen, auch die bösesten. Aber den Einen liebt Er anders und besonders, den Einen, Jesus, dem Er einst am Jordan vom Himmel her zurief: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe."
Dieser Joseph nun war anders als seine Brüder. Die waren roh, er war edel. Sie hassten ihn, er antwortete mit Liebe. Achtet darauf, wie alles, was ich euch von Joseph sage, eigentlich eine Schilderung Jesu ist.
Die Brüder misshandelten und verkauften ihn. Er sagte kein Wort und litt still „wie ein Lamm, das verstummt vor seinem Scherer". In 1. Mose 38 wird uns von einem der Brüder eine böse Ehebruchsgeschichte berichtet. Im 39. Kapitel aber hören wir, wie Joseph einem verführerischen Weibe antwortet: „Wie sollte ich ein so großes Übel tun und wider Gott sündigen!" Eine Atmosphäre der Reinheit umgibt ihn. Die Brüder treten Gottes Gebote mit Füßen. Joseph aber hat Einblick in die geheimen Pläne Gottes.
Ihr seht, Joseph war anders als seine Brüder. So ist auch Jesus der ganz Andere. Wer sich mit Ihm beschäftigt, staunt immer wieder darüber, wie Jesus das gottgewollte Bild des Menschen darstellt. Weil Joseph anders war als sie, darum hassten ihn die Brüder. Wir finden in der Josephsgeschichte alle Schattierungen, von der stillen Ablehnung bis zum glühenden Mordwillen.
Und doch bleibt er ihr Bruder!
Genauso steht es mit Jesus. Die Welt lehnt Ihn ab, und auch unsre Natur mag Ihn nicht. Die Welt unter ihrem „Fürsten" hasst Ihn. Und es ist auch unter uns keiner, der Ihn nicht tausendmal beleidigt, betrübt, verraten und verkauft hätte.
Und doch — Er bleibt der Bruder. Seitdem Er in der Krippe von Bethlehem lag, kann auch der roheste Gottesleugner nicht davon los, dass der Sohn Gottes sein Bruder wurde. Er hat uns, ob wir wollen oder nicht, mit Gott verwandt gemacht.
2. Der Bruder wird weggetan
Die Söhne wollten ihren Bruder Joseph nicht mehr ertragen. Eines Tages ergriffen sie ihn und verkauften ihn an eine Karawane midianitischer Kaufleute, die nach Ägypten zog. Nun verschwand er in den volkreichen Städten des alten Kulturlandes.
Es fällt einem unwillkürlich ein Vergleich ein: Wenn ein Bauer über den Acker geht und die Körner in die Furchen wirft, dann ist so ein kleines Samenkorn nicht mehr aufzufinden. Es ist von den Erdschollen begraben. So war Joseph weggeworfen und verschwunden. Jedem Kenner der Bibel fällt nun ein Wort des Herrn Jesus ein (Johannes 12, 24). Da kamen ein paar Jünger freudig erregt zu Jesus und sagten Ihm: „Herr, es sind Ausländer hier, die sich für Dich interessieren." Sie hatten den Eindruck: Nun geht Jesu Stern auf. Aber da antwortet ihnen Jesus: „Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt's allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte."
Diese Ausländer bekamen Jesus später zu sehen. Aber da hing Er als Ausgestoßener und Geschmähter am Kreuz. Da war Er in den Tod gegeben. Da war das Weizenkorn in die Erde geworfen. Da war Er weggetan, weggeworfen wie ein Samenkorn. Ich denke: Als der Herr das Wort vom Weizenkorn sagte, da stand vielleicht die Joseph-Geschichte vor Seinem Geist. Denn in dieser Geschichte geht es um Weizen. Dieser Joseph tauchte nämlich wieder auf. Als eine schauerliche Hungersnot über sie kam, hörten die Söhne Jakobs, in Ägypten könne man Weizen bekommen, trotz der jahrelangen Missernte dort. Aber da sei ein wunderbarer Mann, der für Weizen gesorgt habe. So zogen sie hin. Und die Hungernden wurden gespeist und errettet. Und der Erretter war ihr Bruder Joseph. Gott hatte ihn durch den Sterbensweg zur Errettung für viele gesetzt.
Da stehen wir an einem wichtigen Reich-Gottes-Gesetz. Das heißt: „Es geht durch Sterben nur." Dadurch, dass er den Todesweg ging, wurde Joseph ein Segen für seine Zeit. Durch Sein Sterben am Kreuz wurde Jesus der Erretter für alle Sünder.
Dies Reich-Gottes-Gesetz gilt auch für uns. Das neue Leben aus Gott kann in uns nur dann anbrechen, wenn wir unter Jesu Kreuz unser altes Leben in den Tod geben. „Fleisch und Blut", d. h. unsre natürliche Art, „kann das Reich Gottes nicht ererben", sagt Gottes Wort. Und darum führt Gott uns solche Wege, wo unser Eigenwille erstirbt. Kennt ihr die Geschichte von dem Liederdichter Hiller? Dieser eifrige Pfarrer verlor seine Stimme und musste sein Amt aufgeben und sich in ein verlassenes Dorf zurückziehen. Dort in der Stille machte Gott ihn zu dem gesegneten Dichter. O lasst uns die Sterbenswege nicht hassen, sondern lieben!
3. Der verkaufte Bruder schafft Brot
Es war eine schreckliche Tat, als die Söhne Jakobs ihren Bruder dahingaben. Aber das benutzte Gott, nicht nur Ägypten, sondern auch die Brüder am Leben zu erhalten. Joseph schaffte ihnen Speise. Und er konnte seinen Brüdern sagen: „Ihr gedachtet, es böse zu machen. Aber Gott gedachte, es gut zu machen, dass er euer Leben errettete durch eine große Errettung."
Stehen wir bei diesen Worten nicht unter Jesu Kreuz? Niemals in der Weltgeschichte ist menschliche Gemeinheit offener zu Tage getreten als hier. In der Tat: „Ihr gedachtet, es böse zu machen." Und doch — „Gott gedachte, es gut zu machen". Die Ewigkeiten werden das Lied des „geschlachteten Lammes" singen.
Wie Joseph den Hungernden Brot gab, so reicht der gekreuzigte Jesus Brot des Lebens den hungernden Gewissen dar. Denn schlimmer als alle äußere Hungersnot ist ja die Not der Seelen, die schuldbeladen ewig verloren gehen, der Herzen, die keinen Frieden mit Gott haben. O kommt zum Kreuze Jesu! Hier ist alles bereit, wonach eure Seele hungert.
„Da kamen sie gen Mara, aber sie konnten das Wasser zu Mara nicht trinken, denn es war sehr bitter... Da wies der Herr dem Mose einen Baum; den tat er ins Wasser. Da ward es süß."
2. Mose 15, 23 und 25
Ein Mann, der wie wenige in die Geschichte hineingewirkt hat, ist der Apostel Paulus gewesen.
Nun ist in dem Leben dieses Mannes etwas Seltsames zu beobachten: Er hatte eine umfassende Bildung. Er kannte als weitgereister Mann die politischen Probleme seiner Zeit. Er wusste auch um die schreienden sozialen Nöte, denn er kam oft mit der Sklaverei in Berührung. Von der Seefahrt verstand er fast ebensoviel wie von Religionswissenschaft und Literatur. Und dieser Mann erklärt feierlich: „Ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten."
Damit hat er die Aufgabe unserer Predigt klar umrissen. Es ist gut, wenn Christen in das öffentliche Leben gehen. Aber unsere Predigt soll nicht Stellung nehmen zu den Zeitfragen, sondern sie muss allezeit Kreuzes-Predigt sein. So will ich euch anhand dieses alttestamentlichen Wortes das Kreuz verkünden. Unsere Geschichte sagt uns:
1. Die bitteren Wasser
Was für ein Jubel war das, als der Herr das Volk Israel aus der furchtbaren Knechtschaft herausführte! Nun ging es nach Kanaan, in das herrliche Land der Freiheit und des Friedens. Wenn in jener Nacht des Auszugs einer gesagt hätte: „Aber vor uns liegt noch eine schreckliche Wüste, die wir durchwandern müssen!" — dann hätte die Antwort sicher gelautet: „O, damit werden wir nun spielend fertig!" Doch es ging leider gar nicht „spielend". Die Wüste war heiß und furchtbar. Wie quälte der Durst! Und dann — endlich! — sah man in der Ferne Palmen. „Da ist Wasser!" ruft man freudig. Die letzten Kräfte werden zusammengerafft. Man stürzt zu dem blinkenden Wasserspiegel hin. Aber — welche furchtbare Enttäuschung! Das Wasser ist gallenbitter. Da nennen sie den Platz Mara. Das heißt „bitter".
Ich denke an ein junges Mädchen, das gerade seinen Ausbildungsweg vollendet hatte und nun mit Eifer in einen geliebten Beruf ging. Da überfiel es die entsetzliche Krankheit Multiple Sklerose. Bald war es ganz gelähmt und konnte nichts mehr tun. Ich denke an eine junge Braut, die mit den größten Hoffnungen in den Ehestand ging und bald durch die Untreue ihres Mannes schrecklich enttäuscht wurde. Ich denke an ein junges Paar, das mit großen Erwartungen nach Kanada auswanderte und merken musste: „Wir sind den Schwierigkeiten dieses Landes nicht gewachsen." Ich denke an einen jungen Mann, der brennend gern Missionar werden wollte und sich bei einer Missionsschule anmeldete. Aber dann stellte sich heraus, dass seine geistigen Fähigkeiten nicht ausreichten. O, die bitteren Wasser! Das Ruth-Büchlein der Bibel berichtet von einer Frau Naemi, die nach langem Leben erklärt: „Heißt mich nicht mehr Naemi (d. h. die Huldvolle), sondern Mara; denn der Allmächtige hat mich sehr betrübt." (Ruth 1, 20).
Wir müssen darauf achten, dass es sich in unserer Textgeschichte um Gottes Volk handelt, das eine Erlösung erlebt hat. Diese Leute kommen nach Mara, an die bitteren Wasser. So geht es im Christenstand. Die Seele ist zuerst voll Jubel, wenn sie das Wort aus Jesaja 43, 1 glauben kann: „Ich habe dich erlöst, du bist mein." Aber dann muss der lange Weg des Glaubens zurückgelegt werden. Da geht es durch dürre Wüsten und zu bitteren Wassern. Da geht es durch Anfechtungen und Niederlagen. Man erlebt tiefe Enttäuschungen an sich selbst und an anderen.
Kurz: Wir kommen alle zu den bitteren Wassern. Was nun? Bei den einen versinkt die Seele in Schwermut. Andre trinken die bitteren Wasser in sich hinein, bis sie ganz verbittert sind. Wieder andre suchen Vergessen im Leichtsinn.
Ich will euch einen besseren Weg zeigen:
2. Der wunderbare Baum
Als Israel dort so enttäuscht und verzweifelt in Mara stand, ging Mose abseits und schrie zum Herrn. Der wies ihm einen Baum. Und als man den in das Wasser stellte, wurde es süß. Die Gelehrten haben sich über diese Geschichte den Kopf zerbrochen, ob sie eine Sage sei, oder ob man sich die Sache natürlich erklären könne, und ob solch ein Baum wohl heute noch zu finden sei. Solche Sorgen können wir uns sparen.
Hören wir doch die Botschaft: Dem Volk Israel wurde mächtig geholfen! Und es bekam hier eine wundervolle Verheißung auf das Kreuz von Golgatha, an dem der Sohn Gottes für uns gestorben ist. Denn das Kreuz ist der Baum, der die bitteren Wasser süß macht. Achtet bitte darauf, dass es das Kreuz sein muss! Nicht irgendeine Religion! Es gibt so viele sogenannte Christen, die ein Allerwelts-Gottvertrauen haben. Aber gerade dies wird ja zuschanden an den bitteren Wassern. Hier hilft nur das Kreuz. Wie sollen wir das nun in die bitteren Wasser hineinlegen? Nun, so, dass wir mitten in unsern Traurigkeiten und Anfechtungen im Glauben aufschauen auf den gekreuzigten Heiland. Dann werden die bitteren Wasser süß. Das geschieht dann auf mancherlei Weise: Es geht uns auf, dass wir ja einen Herrn haben, der das Kreuz trug. Wollen wir mehr als Er?
Oder wir sehen in Seinem Kreuz unsre Versöhnung mit Gott. Und dann werden wir froh, weil wir wissen: Ich bin Gottes Kind, erkauft und versöhnt - trotz allem! Oder es geht uns die ganz große Liebe Gottes auf, an der wir irre werden wollten; die Liebe, die so groß ist, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab. Oder wir lernen unter dem Kreuz, dass der Weg zum ewigen Leben so aussieht, dass man seine alte Natur und all ihr Wünschen mit Christus kreuzigt. In jedem Fall erleben wir, was im 34. Psalm steht: „Welche auf ihn sehen (wie Er am Kreuz hängt für uns!), die werden erquickt."
3. Die Erfahrung der Kinder Gottes
Das Wort Mara kommt im Alten Testament noch einmal vor. Und zwar im Jesaja. Luther übersetzt da: „Um Trost war mir sehr bange." Wörtlich heißt es (38, 17): „Mitten im Frieden traf mich Bitteres, ja Bitteres." Aber dann geht es weiter: „Du hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe, denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück." — Das ist ja am Kreuze geschehen! Wenn wir im Glauben das Kreuz in die bitteren Wasser unseres Lebens stellen, geht es uns wie Israel: Die Wasser des Leidens und der Anfechtung werden süß. Davon singt der Glaubens- und Leidensmann Paul Gerhardt: „Im Streite soll es sein mein Schutz, / in Traurigkeit mein Lachen... / Im Durst soll's sein mein Wasserquell, / in Einsamkeit mein Sprachgesell... / Wenn mich der Sonne Hitze trifft, / so kann mir's Schatten geben; / setzt mir der Wehmut Schmerzen zu, / so find' ich bei dir meine Ruh' / wie auf dem Bett ein Kranker..."
Dazu eine Erfahrung aus der Gegenwart: Missionsdirektor de Kleine berichtet, wie er mit anderen Missionaren während des Zweiten Weltkrieges in Indonesien von den Japanern verhaftet und interniert wurde. Die Verhältnisse in dem Internierungslager waren grauenvoll. Seuchen und Hunger wüteten. Forschend und prüfend beobachteten die indonesischen Wachen, ob die weißen Christen sich in dieser Lage bewähren würden. Da lag Pastor de Vries im Sterben. Wenige Minuten vor seinem Hinscheiden ließ er alle, die er erreichen konnte, um sein Lager versammeln, und dann sagte er mit lauter Stimme:
»Was ich im Leben verkündigt habe, das will ich jetzt, wo ich heimgehe, noch einmal laut sagen und bezeugen: Im Leben und im Sterben gibt es nur einen, der helfen, trösten und selig machen kann. Das ist Er, der Heiland, der am Kreuz starb und Sein Blut für uns gab. Ihm habe ich gelebt, Ihm habe ich vertraut. Ihm will ich jetzt auch sterben!" Ja, das Kreuz macht die bitteren Wasser süß.
„Nun vergib ihnen ihre Sünde; wo nicht, so tilge midi auch aus deinem Buch, das du geschrieben hast."
2. Mose 32, 32
Es war während des Krieges nach einem Bombenangriff. Da sah ich bei einem Gang durch die Stadt, wie ein kleiner Junge harmlos mit einem Bombenblindgänger spielte. Meint ihr, der Junge sei besonders tapfer gewesen? O nein! Er war nur — sehr dumm und ahnungslos.
An diesen Jungen muss ich immer denken, wenn ich sehe, wie wenig die Menschen unserer Tage den Zorn Gottes fürchten. Wo ist denn unter uns noch Furcht Gottes? dass man Gott so harmlos nimmt, das ist nicht ein Zeichen besonderer Aufgeklärtheit und Klugheit. Es ist — Dummheit. Und mehr als das: Es ist Blindheit. Und zwar eine schuldhafte Blindheit, die sich in Zeit und Ewigkeit rächt. Wenn wir das Kreuz Christi jetzt wieder in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stellen wollen, dann ist die allererste Voraussetzung zum Verständnis dies, dass wir den Zorn Gottes fürchten gelernt haben. Ohne diese Voraussetzung verstehen wir gar nichts vom Kreuz.
1. Ein großes Angebot
Die Gemeinde des Alten Bundes lagerte am Berge Sinai. Große Tage lagen hinter den Kindern Israel. Sie hatten die furchtbare Offenbarung Gottes erlebt, als Er ihnen das Gesetz gab. Aber dann folgten Tage, in denen nichts geschah. Mose war auf den Berg gestiegen und dort verblieben im Gespräch mit Gott. Da verwischten sich bei den Israeliten schnell die tiefen Eindrücke, und sie machten sich einen eigenen Gott: das goldene Kalb. Schrecklich entbrennt der Zorn Gottes. Mose ist entsetzt. Er erzählt selbst (5. Mose 9, 17-18): „Da fasste ich die beiden Tafeln mit dem Gesetz Gottes und zerbrach sie vor euren Augen und fiel nieder vor dem Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte um all eurer Sünde willen; denn ich fürchtete mich vor dem Zorn und Grimm, mit dem der Herr über euch erzürnt war, dass er euch vertilgen wollte..."
Und nun folgt eine der ergreifendsten Szenen der Bibel. Nach einer schrecklichen Nacht der Angst verkündet Mose dem Volk: „Ihr habt eine große Sünde getan; nun will ich hinaufsteigen auf den Berg zu dem Herrn, ob ich vielleicht eure Sünde sühnen möge." Ich sehe im Geist den erschrockenen und bekümmerten Mann in die einsame Felsenwildnis hineinsteigen und in der Wolke verschwinden. Dort wirft er sich nieder vor dem Herrn und bekennt: „Ach, das Volk hat eine große Sünde getan." Dann bittet er ergreifend (ich zitiere wörtlich nach dem hebräischen Text): „Und nun vergib ihnen doch ihre Sünde! Wenn nicht, dann tilge doch mich aus dem Buch, das du geschrieben hast!" Mose bietet sich selbst als Bürgen an für die anderen. Er will die Schuld bezahlen mit seiner Seelen Seligkeit. Er will bezahlen mit dem Besten, was er hat. „Tilge mich aus dem Buch!" Jesus hat später einmal Seinen Jüngern gesagt: „Freuet euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind." Das ist die Freude des Volkes Gottes, und darüber freute sich auch Mose. Die Bibel sagt, er sei der geplagteste Mensch gewesen. Welch andern Reichtum hatte er als diesen, zu wissen: Mein Name ist geschrieben im Buche des Lebens! Und diesen einzigen Schatz und Reichtum setzt er als Bürge ein.
Das ist die wahre Liebe, „eine Flamme des Herrn". Es hat noch einmal einer solch ein Angebot für Israel gemacht, der Apostel Paulus. Und davon sagt der große Ausleger Bengel: „Menschliche Worte reichen nicht zu, die Gemütsbewegung heiliger Seelen auszudrücken. Von diesem Maß der Liebe lässt sich nicht leicht urteilen, denn diesen Grad vermag der kleine Maßstab unsrer Vernunftsschlüsse nicht zu erreichen, so wenig wie ein kleiner Knabe den hohen Mut ausnehmender Kriegshelden begreifen kann."
2. Das verworfene Angebot
Gott hat das große Angebot des Mose schroff zurückgewiesen. Mose
kann nicht Bürge sein für Israel. Warum nicht?
Um das zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, was ein Bürge ist.
Da hat ein Kaufmann eine große Schuld zu bezahlen. Er ist völlig außerstande dazu. Aber er hat einen reichen Freund, der seinerzeit für ihn die Bürgschaft übernahm. Nun springt der ein und befriedigt den Gläubiger.
Mose kann nicht Bürge sein. Denn auch er ist vor Gott Schuldner. Selbst dieser große und heilige Mann ist Gottes Schuldner! Es ist erschreckend zu lesen, dass Mose (5. Mose 1, 37) berichtet: „Der Herr ward zornig über mich." Auch über ihn entbrennt Gottes Zorn. Auch er ist Sünder und Gott verschuldet. Wie sollte er für die Sünder Bürge werden können!
Damit nun rückt diese Sache aus der geschichtlichen Betrachtung heraus und wird für uns wichtig. Wir müssen zunächst unsern katholischen Brüdern sagen: Es kann also kein Heiliger mit seinen guten Werken für mich eintreten und bezahlen, wenn Gott sogar den Mose damit abwies. Es bleibt bei dem harten Psalmwort: „Kann doch einen Bruder niemand erlösen noch ihn Gott versöhnen, denn es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen; man muss es lassen anstehen ewiglich" (Psalm 49, 8-9).
Aber sprechen wir von uns! Wenn selbst ein Mose Gott verschuldet war und sagen muss: „Der Herr ward zornig über mich" — wo wollen wir bleiben?
Man kann von dieser Lage hören und doch nicht erschrecken dabei. Furchtbar, wenn es bei uns so wäre! Es kann aber geschehen, dass die Last unserer unbezahlbaren Schuld uns auf die Seele fällt und wir erkennen, wie wir völlig ungerüstet dem großen Zahltag entgegengehen; wie wir Gott alles schuldig geblieben sind; dass Sein Zorn wie eine dunkle Wolke über uns hängt. Da wird es uns zum Erschrecken, dass selbst ein Mose als Bürge abgelehnt wurde. Mose wollte für das verlorene Israel aus dem Buch des Lebens gestrichen werden. Weil er als Sünder nicht Bürge werden konnte, lehnte Gott es ab. Aber es gibt noch einen zweiten Grund dafür: Gott hatte für diese Bürgschaft, für das gültige Opfer, einen andern ausersehen.
3. Der rechte Bürge
Lasst uns miteinander im Geist auf den Hügel Golgatha bei Jerusalem gehen!
Seht den ans Kreuz genagelten Mann an! Der ist Gott nichts schuldig geblieben. Er ist der völlig Gerechte. Immer wieder hat Gott Ihm gesagt: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe."
Dieser Mann muss nicht klagen wie Mose: „Der Herr ward zornig Über mich."
Und nun hört, wir Er dort am Kreuze ruft: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!" Da ist Seine Seele ausgestrichen aus dem Buche Gottes.
Da geschieht, was Mose wollte: Ein anderer bezahlt für die Sünder. Nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt, für dich und mich. Am Kreuz wurde Jesus Bürge für uns, die wir Gott alles schuldig geblieben sind. Da bezahlte Er für uns.
Lasst mich zum Schluss ein kleines persönliches Erlebnis berichten: Vor einiger Zeit hatte ich in Ostfriesland Vorträge zu halten. Als ich mit meinem kleinen Wagen auf einer Landstraße entlang fahre, komme ich plötzlich an eine vereiste Stelle. Ehe ich gegensteuern kann, gerät der Wagen ins Schleudern, kippt um und stürzt über eine hohe Böschung in einen Moorgraben. Es sind seltsame Sekunden, ehe man sich das Genick bricht (was nur durch Gottes Bewahrung nicht geschah). In diesen Sekunden stand mir erschreckend Gottes Gericht vor der Seele. Aber im selben Augenblick auch der Vers: „... dass mein Bürge für mich spricht, / dies ist meine Zuversicht." Wie Orgelton klang es in mir: „Mein Bürge!" dass wir im Leben und Sterben nichts wüssten als Ihn!
„Da soll denn Aaron seine beiden Hände auf des Bockes Haupt legen und bekennen auf ihn alle Missetat der Kinder Israel und alle ihre Übertretung in allen ihren Sünden, und soll sie dem Bock auf das Haupt legen und ihn durch einen Mann, der bereit ist, in die Wüste laufen lassen."
3. Mose 16, 21
Im 17. Jahrhundert lebte in der Nähe Eisenachs ein Rechtsanwalt namens Homburg. Er war seinen Zeitgenossen bekannt als Dichter fröhlicher Lieder. Seine „Leichten Lieder der Liebe und des Gelages" wurden viel gelesen.
Dieser Lebemann erfuhr eines Tages eine große Wandlung. Wir wissen nichts Näheres darüber. Aber wir können feststellen, dass seine Dichtkunst auf einmal einen ganz neuen Gegenstand bekam. Der Inhalt seiner Lieder wurde ausschließlich Jesus. Von ihm stammt das herrliche Passionslied „Jesu, meines Leben Leben..." In dem triumphalen Himmelfahrtslied „Ach wundergroßer Siegesheld..." gibt er dem Heiland lauter verschiedene Namen: Davids Sohn, mein Ruhm, Gnadenthron, Siegesfürst, mein Schutz. Unter diesen Bezeichnungen Jesu ist mir eine besonders aufgefallen. Da redet er den Herrn Jesus an: „Du Sündenträger aller Welt."
Ich glaube, dass
unsere Zeit diesen Ausdruck kaum versteht. Und doch möchte ich ihn heute als
Überschrift über meine Predigt setzen:
1. Der Bock für
Asasel ist ein Vorbild für Ihn
Als Israel durch die Wüste nach Kanaan zog, gab Gott Seinem Volke feste Ordnungen. Dazu gehörten auch die großen Feiertage. Das wichtigste Fest war der Versöhnungstag.
Ich kann nicht all die bedeutsamen Zeremonien dieses Festes darlegen. Uns interessiert jetzt nur ein einziger Vorgang: Da wurde ein Bock vor den Hohenpriester gebracht. Im Angesicht des ganzen Volkes legte der dem Tier die Hände auf das Haupt und bekannte auf das Tier alle „Missetaten, Übertretungen und Sünden" Israels. Da wurde an das Licht gebracht, dass hier eine schuldbeladene Schar vor Gott stand. Und alle Schuld wurde gleichsam dem Bock aufgeladen.
Dann nahm ein Mann das Tier und jagte es in die Wüste. So wurde die Schuld Israels weggetragen. — Wohin?
Wir bekommen im 8. Vers unsres Kapitels eine seltsame Antwort. Dort steht nämlich, dass dieser Bock bestimmt gewesen sei für „Asasel". Asasel — das ist ein Name für den furchtbaren Geist aus dem Abgrund, für Satan. Die Sünde also wurde dahin gejagt, wo sie ihren letzten Ursprung hat — zum Teufel! Ich muss hier einen kleinen Einschub machen: Kurz nach dem letzten Kriege ging ich mit einem Dänen durch Basel. Wir waren etwas bedrückt. Denn wir kamen von einer Tagung, wo wir mit Vertretern von 20 Nationen zusammen gewesen waren. Und da hatten wir uns nicht gut verstanden mit den Vertretern der englischsprechenden Völker, deren Optimismus wir einfach nicht hatten teilen können.
Nun standen wir zwei vor dem Baseler Münster, wo die mittelalterlichen Bildhauer seltsame Dämonengestalten ausgehauen haben. Bei ihrer Betrachtung ging es uns plötzlich auf: Die anderen wissen nichts von Dämonen. Wir haben die Macht Satans kennengelernt. — Seht, die Bibel spricht von Satan und Asasel als dem Urgrund alles Bösen, das in uns wirksam ist.
Aber kehren wir zurück zu dem Versöhnungsfest. Alljährlich wurde in Israel der sündenbeladene Bock in die Wüste gejagt. Durch diesen Vorgang gab Gott Seinem Volk einen deutlichen Unterricht zum Verständnis des Kreuzes Jesu Christi.
Denn nun verstand in Israel später ein jeder folgende Geschichte: Da stand der Täufer Johannes am Jordan. Tausende hörten seiner Predigt zu. Auf einmal unterbrach er sich, zeigte nach hinten, wo ein schlichter Mann heranschritt, und rief mit durchdringender Stimme: „Siehe, da ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde wegträgt." Der Mann war Jesus.
Jeder verstand, dass
Johannes in diesem Satz auf den alljährlichen Vorgang im Tempel anspielte, auf
das Tier, das sündenbeladen in die Wüste gejagt wurde. (Er nannte Jesus
„Lamm". Damit wollte er noch an ein Zweites erinnern, an das
Versöhnungslamm, das täglich geopfert wurde.)
2. Die Botschaft von Ihm wendet sich an das Gewissen
In dem biblischen Bericht ist immer die Rede von „Missetat, Übertretung und Sünde". Das fällt manchen Leuten beträchtlich auf die Nerven. Aber — so ist es nun mit dem Evangelium. Davon spricht es!
Seht, die Welt spricht uns auch an. Sie wendet sich an unsre Sinne, an unsre Leidenschaften und Triebe. Oder sie richtet sich an unsern Verstand.
Die Bibel aber spricht von unserm Gewissen. Ich will nur ein Beispiel nennen:
Als der Herr Jesus einmal in Sichar an einem Brunnen saß, kam eine Frau, um Wasser zu holen. Mit ihr begann Jesus ein Gespräch. Offenbar führte die Frau gern religiöse Gespräche. Doch nahm dieses eine unliebsame Wendung für sie, als der Herr sie aufforderte: „Rufe deinen Mann!" Die Frau bekam einen roten Kopf: „Ich habe keinen Mann." Da erwiderte ihr Jesus ernst: „Fünf Männer hast du gehabt. Aber den du nun hast, der ist nicht dein Mann. Da hast du recht gesagt." Ich verstehe, dass die Frau völlig erschüttert in die Stadt rannte und berichtete: „Da draußen sitzt einer, der mir alles aufgedeckt hat, was ich getan habe."
Unsre Zeit tut, als wisse man nicht mehr, was „Missetat, Übertretung und Sünde" ist. Aber Jesus deckt es auf. Sein Geist macht die Gewissen lebendig. Und wo ein Gewissen aufgewacht ist, da liest man mit neuen Augen die Geschichte von dem Bock, auf den man die Sünde legen konnte. Und da fragt das Gewissen: „Warum ist unter uns dieser Bock nicht mehr?" Antwort: „Weil an seine Stelle ein Mann getreten ist — der Sohn Gottes — Jesus! Siehe, da ist Er, welche der Welt Sünde wegträgt!" (Johannes 1, 29).
Ich sehe im Geist,
wie man beim Versöhnungsfest diesen seltsamen Bock hinausjagt in die Wüste — zu
Asasel. Ein armes, verlorenes Tier, beladen mit Schuld. So hat man den Heiland
hinausgestoßen — hinaus bis zur Hölle. Da hängt Er am Kreuz — bespien, gequält,
entsetzlich einsam und ruft: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Seht, da trägt Er unsre „Missetat, Übertretung und Sünde" zu Asasel. „Die
Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten." O dass wir das fassen
könnten!
3. Er will die Gemeinde reinigen
„Warum nun diese ganze Veranstaltung?" So fragt der moderne Mensch. „Das ist mir alles viel zu schwierig! Was soll mir das?" Wir müssen begreifen: Gott, der lebendige Gott, ist heilig. Ihm ist die Sünde ein Greuel. Und wenn Er sich eine Gemeinde erwählt und sie an Sein Herz zieht, dann muss diese Gemeinde gereinigt sein. Darum ist diese Veranstaltung nötig. Darum trug der Bock die Schuld Israels hinaus. Darum trägt Jesus unsre Sünde, weil Gott eine gereinigte Gemeinde haben will. Sehnt sich unser Herz nicht auch danach, zu dieser gereinigten Schar zu gehören? Wollen wir nicht gern frei sein von alter Schuldverflechtung und von den entsetzlichen Bindungen Asasels?
Wollen wir? Dann
müssen wir — jeder für sich — ein Versöhnungsfest feiern unter Jesu Kreuz. Wir
können ganz einfach aus der alttestamentlichen Geschichte lernen, wie man es
machen muss: Da wurde die „Missetat, Übertretung und Sünde" auf den Bock
hin bekannt. So dürfen wir unsre Sünde auf den gekreuzigten Herrn Jesus hin
bekennen. Das ist eine Stunde, wenn ein Sünder dem Heiland sein Herz
ausschüttet! Ich möchte nicht mehr leben ohne solche Möglichkeiten. Und dann
sehen wir im Glauben auf den Gekreuzigten, fassen es, dass Er alles weggetragen
hat zu Asasel, und dann danken wir Ihm für Seine herrliche Erlösung. Unser
Christenstand mündet immer aus in fröhlichen und jubelnden Dank.
„Denn an diesem Tage geschieht eure Versöhnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn... Es soll aber solche Versöhnung tun ein Priester, den man geweiht hat."
3. Mose 16, 30 und 32a
Im Jahre 1924 fing ich meine Arbeit an in einem Bezirk, in dem die Feindschaft gegen die Kirche groß war. Wenn ich meine Hausbesuche machte, bekam ich jedes mal als erstes Wort zu hören: „Wir brauchen keinen Pfaffen!" Ebenso stereotyp gab ich zur Antwort: „Ganz recht. Sie brauchen keinen Pfaffen. Aber Sie brauchen einen Heiland." Nun möchte ich fragen: „Ist das wahr?" O ja! Es ist so! Gewiss, es
ist wahr!
Wenn wir uns das einmal eingestehen, dann wird unser Herz fröhlich an der Botschaft des Neuen Testamentes: Dieser Heiland ist vorhanden! Seht, dort auf Golgatha hängt Er am Kreuz! „O Welt, sieh hier dein Leben / am Stamm des Kreuzes schweben...!" Über diesem Kreuz steht in Flammenschift geschrieben: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen."
Nun macht aber unsre Vernunft Einwendungen: „Am Kreuz ist der Heiland zu finden? Warum am Kreuz? Warum in dieser eigenartigen, so wenig glorreichen Situation?"
Das Geheimnis des Kreuzes werden wir nie ganz ergründen können. Aber die Bibel, auch das Alte Testament, gibt uns doch darüber mancherlei Aufschlüsse. So wollen wir heute fragen:
1. Der große Versöhnungstag
Unser Text berichtet von einer wunderbaren Institution im Volke Israel. Einmal im Jahre versammelte sich das ganze Volk um das Heiligtum. Da drängten sich die Menschen im Vorhof des Tempels. Und ringsum standen die Tausende, die keinen Platz mehr fanden. Ganz stille wurde es, wenn der Hohepriester das entscheidende Opfer schlachtete. Er fing das Blut in einer Schüssel auf. Und dann ging er mit diesem Blut durch die Menge. Er schritt hinein in das Heilige, das nur die Priester betreten durften. Es war durch einen riesigen Vorhang getrennt von dem Allerheiligsten, wo Gott wohnte. Dorthin durften auch nicht die Priester.
Nur einmal im Jahre, am großen Versöhnungstag, ging der Hohepriester hinter den Vorhang und sprengte das Blut vor Gott hin. Nun, das sind alte, längst in Verfall geratene Zeremonien. Bei ihrer Schilderung kommen in unserm Text Worte vor, die dem modernen Menschen so unsagbar fremd klingen: „Versöhnung", „Reinigung von Sünden", „gereinigt vor dem Herrn". Solche Worte hört man im Radio, in der Zeitung, im Kino und in Schlagern nicht. Und doch! — es ist etwas Seltsames um diese so unmodernen Worte. Wenn wir nicht ganz und gar erstorben sind, dann sprechen sie uns an in einer ganz tiefen Region unsres Inwendigen. „Versöhnung mit Gott!", „Reinigung von Sünden!", „Stehen vor dem Herrn im vollen Frieden!" — solche Worte wecken etwas Verschüttetes in uns auf. Sie sind wie ganz ferne Heimatglocken. Sie rufen eine Sehnsucht in uns wach nach einem ganz anderen Leben.
Was für eine Bewandtnis hat es nun mit diesen Worten? Das ist es: Sie rühren an unser Gewissen. „Versöhnung mit Gott" — „Reinigung von Sünden" — „Stehen vor dem Herrn" — je länger wir diesen Worten lauschen, desto größer wird in uns das Verlangen: „Solch einen Versöhnungstag sollten auch wir haben, wo das alles in unserm armen, ach, so flachen und schuldigen Leben Wirklichkeit wird!"
Wo ist der Tempel, da uns das geschenkt wird? Gibt es ihn? Antwort: Ja! Auf Golgatha! Jesu Todesstunde am Kreuz ist der große Versöhnungstag für alle Welt, für alle Völker, für alle Rassen, für alle Stände, für alle Bildungsschichten — für dich und für mich!
2. Der Hohepriester
Wenn in unserm Land jemand eine flammende Rede hält gegen „Priesterherrschaft", dann kann er gewiss sein, dass er leidenschaftlichen Beifall findet. Diese Abneigung gegen jede Form von Priesterherrschaft ist der letzte, kümmerliche Rest eines herrlichen Erbes, das weithin verloren ging.
Unsere Väter haben in der Reformationszeit ganz neu entdeckt, dass Jesus Christus unser Hoherpriester ist. Und darum haben sie sich so leidenschaftlich gegen die Priester gewehrt, weil sie alle ihre Hoffnung setzten auf den einen Hohenpriester — Jesus! Es lohnt sich darum für uns, dass wir diesen unsern Hohenpriester näher ansehen. Lassen wir uns dabei leiten von dem alttestamentlichen Wort: „Es soll aber solche Versöhnung tun ein Priester, den man geweiht hat."
Nicht jeder x-beliebige konnte eine vollgültige Versöhnung mit Gott herbeiführen, sondern nur der Priester, den Gott dazu bestimmt und geweiht hatte. Nun hat Gott Seinen eingeborenen Sohn zum Hohenpriester geweiht für uns alle. Schon im 110. Psalm sagt Er zu Ihm: „Du bist ein Priester in Ewigkeit!"
Oder denkt an jene herrliche Geschichte am Jordan: Da stand der große Bußprediger Johannes der Täufer. Und viel Volk kam zu ihm und bekannte seine Sünde. Einer nach dem anderen trat heran und trug seine Schuld zum Fluss. Dann kam Jesus. Ja, was wollte denn der? Der hatte doch keine Sünde. Er war der einzige Reine. Doch — Er trug unsere Sünde zum Jordan. Und als Er das tat und damit so recht hohepriesterlich handelte, kam eine Stimme aus der ewigen Welt: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe." Seht, da hat Gott den Herrn Jesus zum Hohenpriester geweiht. Und als der große Versöhnungstag anbrach — an jenem ersten Karfreitag —, da schritt dieser Hohepriester zum Versöhnungsopfer. Was sollte Er opfern, um die unermessliche Schuld der Menschen zu versöhnen? Er brachte das beste und wertvollste Opfer dar: sich selbst. Sollte solch gewaltiger Opferdienst nicht vollgültig sein? Als die Kriegsknechte den Herrn Jesus an das Kreuz nagelten, verstanden sie davon nichts. Darum bat Jesus ja auch für sie: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun." Aber wir wissen es nun. Groß steht über Jesu Kreuz das Wort unseres Textes: „An diesem Tag geschieht eure Versöhnung." „O Herr, mein Heil, an dessen Blut ich glaube, / ich liege hier vor dir gebückt im Staube, / verliere mich mit dankendem Gemüte / in deine Güte."
3. Die Frage an uns
Wir fragten im Anfang: Was geschieht am Kreuz? Aus dieser sachlichen Frage muss die persönliche werden: „Geschieht da etwas mit mir?"
Seht, der Apostel Paulus hat in 2. Korinther 5 unsern Text aufgenommen und so gesagt: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung." Und dann fährt er so eindringlich fort: „So bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!" Verstehen wir das? Die fremden und doch so herzbeweglichen Worte „Versöhnung mit Gott" — „gereinigt stehen vor dem Herrn" werden am Kreuz Jesu Wirklichkeit. Und nun muss diese Wirklichkeit in unser Leben hineinkommen. Ja, wir dürfen seit Golgatha Leute sein, die Frieden mit Gott haben, die versöhnt und gereinigt von Sünden sind. Nehmt es doch an!
Vor Jahren war ich zu lieben Freunden eingeladen. Aber im Trubel der Geschäfte vergaß ich diese Einladung. Später erzählten mir die Leute: „Wir haben Ihnen den ganzen Abend einen Platz freigelassen." Unter Jesu Kreuz ist uns ein Platz freigelassen. Soll er leer bleiben?
„Und Aaron stand zwischen den Toten und Lebendigen. Da ward der Plage gewehrt." 4. Mose 16, 48
Vor kurzem sah ich in einer Zeitung ein Bild: Treibeis auf dem Main bei Frankfurt. Dies Bild hat Jugenderinnerungen in mir geweckt: Wie manches Mal bin ich zu spät zur Schule gekommen, wenn der Main Treibeis führte! Dann stellte ich mich gern über einen der starken Brückenpfeiler. Und nun kamen die Eisschollen in dichtem Gewimmel heran, als wollten sie den Pfeiler überfahren. Aber der stand fest. Und an ihm schieden sich die Schollen. Das wurde mir zu einem Gleichnis für das Kreuz Christi. Das steht wie so ein Pfeiler in der Menschenwelt. Die Menschen wollen es überrennen. Aber es steht fest. Und es scheidet die Menschen. Am Kreuz Jesu scheiden sich die Geister.
1. Das Kreuz steht zwischen Mensch und Mensch
Mit starker Hand hat der Herr Israel aus Ägypten erlöst. Und nun zieht das Volk durch die Wüste nach Kanaan. Es geht durch tausend Nöte und Gefahren. Aber — das ist das Herrliche dabei — der Herr selbst zieht mit „des Tages in einer Wolkensäule und des Nachts in einer Feuersäule". Der Herr selbst sorgt für Sein Volk. Er „trägt es auf Adlerflügeln".
Wie wunderbar hätte diese Zeit sein können, wenn das Menschenherz nicht so verkehrt wäre! Israel widerstrebt dauernd seinem Gott. Und so wird diese Wanderung eine trübe Zeit. O wie oft hat Gott Wohltat und Segen für uns bereit! Und wir verderben sie uns selbst durch unsre Verkehrtheit.
Da war ein Mann namens Korah. Der machte einen Aufruhr gegen den Hohenpriester Aaron. Er griff damit die ganze göttliche Heilsinstitution an. Aber „Gott lässt sich nicht spotten". Die Erde tat ihren Mund auf und riss den Korah mit seiner Rotte von 250 Mann hinab. Ganz Israel floh entsetzt: „...dass uns die Erde nicht auch verschlinge."
Aber am nächsten Morgen ist der Schreck verflogen. Und nun rottet sich alles Volk zusammen gegen Mose und Aaron: „Ihr habt des Herrn Volk getötet."
Die beiden Angegriffenen tun das, wozu sie in solchen Fällen immer ihre Zuflucht nehmen: Sie suchen Gottes Angesicht. Da sagt der Herr: „Hebt euch aus dieser Gemeinde, ich will sie plötzlich vertilgen!" Erschrocken fallen die beiden nieder. Aber Mose, „der ein schnelles geistliches Auffassungsvermögen hat" (Spurgeon), fühlt, dass Gottes Gericht schon begonnen hat. Und so ist es. An den Grenzen des Lagers beginnt das Sterben. Da rafft sich Mose auf und ruft dem Aaron zu: „Schnell! Nimm dein Räuchergefäß und versöhne die Gemeinde. Eile! Es gilt ihr Leben!"
Und nun läuft der ehrwürdige Hohepriester mit dem dampfenden Räucherfass. Er denkt nicht daran, was das Volk ihm Böses antat. 14700 sind schon gefallen vom Zorne Gottes. Da tritt Aaron auf die Todeslinie. Er schwingt sein Räucherfass. Versöhnend steht er auf der Grenze zwischen Toten und noch Lebendigen. „Da ward der Plage gewehrt."
So steht der große Hohepriester Jesus in der Menschenwelt. Er hat ein besseres Versöhnungsopfer als Aarons Räucherwerk: Sein eigenes Blut, das Er am Kreuze vergießt.
Seht den Aaron an: Er ist eine seltsame Grenze geworden zwischen Mensch und Mensch. Es gab Familien, wo die Eltern diesseits, die Kinder jenseits von Aaron standen. Nun waren sie endgültig geschieden. Da waren Zeltkameraden. Nun gehörte der eine auf diese Seite, der andere auf jene Seite Aarons. Der Hohepriester trennte sie endgültig.
Das ist ein Bild für das Kreuz Christi: Es ist die große Scheidung zwischen Mensch und Mensch. Und es ist die große Frage unseres Lebens: Auf welcher Seite des versöhnenden Hohenpriesters stehe ich?
2. Das Kreuz ist die Grenze des Zornes Gottes
In einem modernen Roman las ich einen Satz, den man so oder ähnlich heute oft hören kann: „Sie wussten, dass es keinen Gott gab, der ihr Leben nach Gut und Böse abwägte."
Ich weiß es anders. Ich weiß, dass „Gottes Zorn entbrennt über alle Ungerechtigkeit der Menschen". Und zwar weiß ich das aus dem Worte Gottes, das sicher besser Auskunft gibt als irgend so ein moderner Phantast.
Gottes Zorn! Der ist schrecklich. Ja, der ist schrecklich! Haben wir Grund, ihn zu fürchten? Ich meine: Ja!
Es war Mitte März im Jahre 1522, als Luther die schützende Wartburg verließ und nach Wittenberg zurückkehrte, um der eingerissenen Verwirrung zu wehren. Er tat dies, indem er nach dem Sonntag Invokavit eine Woche lang seine berühmt gewordenen Invokavit-Predigten hielt. Die erste begann er so: „Wir sind allesamt zum Tode gefordert, und muss ein jeglicher für sich selbst sterben; ich werde dann nicht bei dir sein, noch du bei mir; in die Ohren können wir einander wohl schreien; aber es muss ein jeglicher für sich auf die Schanze treten..." Auf die Schanze vor das Angesicht des heiligen Gottes. Kannst du das? Bist du vor Ihm gerecht?
Ich kann es nicht. Ich muss Seinen Zorn fürchten. Und ich fürchte ihn gewaltig.
Und darum ist mir die Textgeschichte so wichtig. Da entbrennt Gottes Zorn. Aber auf einmal findet er eine Grenze. „Da ward der Plage gewehrt." Diese Grenze des Zornes Gottes ist der versöhnende Hohepriester.
Welch eine Bedeutung bekommt der versöhnende Hohepriester Jesus! Welch eine Bedeutung bekommt Sein Kreuz! Es ist die Grenze des Zornes Gottes.
Was nicht unter Aarons Versöhnung stand, verfiel dem Zorn und Gericht. Was nicht unter Jesu Versöhnung steht, bleibt unter Gottes Zorngericht. Wer aber zu dem versöhnenden Hohenpriester gehört, der hat Gnade, Leben, Vergebung. Wer im Glauben zum Kreuze Jesu findet, ist der schrecklichen Todeszone des Zornes Gottes entronnen, der ist gerettet.
Das Kreuz ist die haarscharfe Grenze zwischen ewigem Tod und ewigem Leben.
Im Ersten Weltkrieg hatten unsere Kanonen Schutzschilde. Da kamen wir einmal in furchtbares MG-Feuer. Es prasselte nur so auf die Schilde. Das war unheimlich: Eine Handbreit neben uns wütete der Tod. Aber hinter den Schilden waren wir sicher geborgen. So ist der Glaubende vor Gottes Zorn geborgen unter dem Kreuze unseres Hohenpriesters Jesus.
3 Das Kreuz trennt nicht Böse und Gute, sondern Verlorene und Gerettete
An unserer Textgeschichte wird uns das Unerhörte des Evangeliums klar Wir wollen uns im Geist neben Mose stellen. Er schaut über das erschrockene und aufgestörte Lager hin. Und da sieht er einen Bekannten hinter dem Aaron stehen, der war ein tapferer und feiner Kerl. Aber — er steht nicht unter der Versöhnung. Nun wird Mose entsetzt Zeuge davon, wie der Zorn Gottes ihn wegrafft. Und einen anderen trifft sein Blick: Dessen Züge zeigen noch den hässlichen Zorn, mit dem das Volk gegen Gottes Ordnungen sich auflehnte. Aber — er steht unter der Versöhnung. Der Zorn Gottes macht Halt vor ihm. Was will das sagen?
Versöhnte Christen werden nie den Anspruch erheben, dass sie bessere Leute seien als die Weltmenschen. Und sie werden niemals behaupten, dass sie wegen ihrer Frömmigkeit oder wegen ihres Kampfes gegen das Böse gerettet seien vor dem Zorn. Nein! Wir wissen, dass wir nach Recht und Gesetz dem Gericht Gottes ebenso verfallen sind wie die Welt.
Was uns rettet, das ist nichts, was in uns ist. Das ist vielmehr der versöhnende Hohepriester, der Heiland am Kreuz. Nur in Ihm sind wir gerettet. Aber in Ihm sind wir wirklich gerettet. Und das meint der Römerbrief, wenn er sagt: „So halten wir dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben."
„Mose hob seine Hand auf und schlug den Fels mit dem Stab
zweimal. Da ging viel Wasser heraus, dass die Gemeinde trank und ihr
Vieh."
4. Mose 20, 11
Zu dem Köstlichsten, was der geistvolle Dichter Matthias
Claudius geschrieben hat, gehören seine Briefe an einen fingierten Freund
Andres. Da heißt es einmal:
„Besinnst du dich noch unsrer ersten Schifffahrt, als wir
den neuen Kahn probierten und ich mitten auf dem Wasser herausfiel? — Ich hatte
schon alles aufgegeben... da sah ich deinen ausgestreckten Arm herkommen und
hakte an... — Und nun ein Erretter aus aller Not, von allem Übel! Ein Erlöser
vom Bösen! ...Andres, hast du je was Ähnliches gehört, und fallen dir nicht die
Hände am Leibe nieder?..."
Diesen Brief beginnt er mit den Worten: „Du möchtest gern
mehr von unserm Herrn Jesus wissen. — — Andres! Wer möchte das nicht?"
Nun, ich fürchte, dass es sehr, sehr viele gibt, denen gar
nichts daran liegt, mehr zu hören von diesem Erlöser, weil ihr Gewissen
erstickt ist „in den Sorgen dieser Welt und im betrüglichen Reichtum und in
vielen andern Lüsten" (Markus 4, 19).
Wie steht es mit uns? Ich wünsche uns ein heiliges Verlangen
und möchte, dass auch durch diese Auslegung viel Licht auf Jesus falle.
1. Jesus — der Fels
Unser Text führt uns in die Zeit, als die Gemeinde des Alten
Bundes aus der Knechtschaft in Ägypten auszog und vom Herrn selbst durch die
Wüste nach Kanaan geleitet wurde.
Bei dieser Wüstenwanderung spielte ein Fels eine seltsame
und bedeutende Rolle. Denn zweimal gab er dem verdurstenden Volke Wasser.
Dieser Fels ist so wichtig, dass der Apostel Paulus in 1. Korinther 10, 4 auf
ihn zu sprechen kommt. Da sagt er: „Sie tranken von dem geistlichen Fels, der
mitfolgte, welcher war Christus." Bis zum heutigen Tage begleitet dieser
Fels die Gemeinde auf ihrer Wanderung durch die Wüste dieser Welt. Und fröhlich
singt das Volk Gottes: „Wir haben einen Felsen...!"
Jesus Christus — der Fels. Es kann sein, dass gerade dieses
Bild nicht mehr einleuchtet. Denn ein Fels ist doch etwas Starres, Hartes. Und
wir sind von Kind auf gelehrt worden, dass Jesus unendlich linde, weich und
barmherzig ist.
Und doch — im Lied Moses (5. Mose 32, 4) heißt es auch: „Er
ist ein Fels." Und Christus selbst sagt Jesaja 50, 7: „Ich habe mein
Angesicht dargeboten wie einen Kieselstein."
Gerade diese Stelle lehrt uns verstehen, wieso Jesus ein
Fels ist: Nichts konnte Ihn aus der Bahn bringen. Ihr kennt doch die Versuchungsgeschichte.
Wie hat da der Teufel versucht, Jesus von Seinem Weg fortzulocken! Aber der
Fels stand fest. — Als der Heiland von Seinem Leiden sprach, wehrte Petrus Ihm:
„Das widerfahre dir nur nicht." Aber auch dieser liebe Jünger konnte den
Heiland nicht aus der Bahn bringen. — Und gar Gethsemane! Da wollte Seine
eigene Natur Ihn überwinden. Aber der Fels blieb fest. Wir haben alle schon
Kompromisse mit der Welt gemacht — gegen unsere Oberzeugung und gegen das
Gewissen. Der einzige, der kompromisslos Seinen Weg, oder vielmehr Gottes Weg
ging, ist Jesus. Weder die öffentliche Meinung noch Zustimmung noch Hass noch
Vorteil konnten Ihn beeinflussen. Und darum ist Er der Fels.
Er ist der Fels, der auch mitten in unserem Wege steht.
Darum gibt es nur zweierlei: Entweder man scheitert an Ihm oder — man erbaut
sich auf Ihm und findet so ewigen Grund.
2. Jesus — der geschlagene Fels
Nun muss ich die Geschichte erzählen, aus der unser Text
stammt. Als die Kinder Israel durch die Wüste zogen, kamen sie eines Tages
wieder in schreckliche Not. Es war kein Wasser vorhanden. Durst ist furchtbar.
So können wir verstehen, dass die Gemeinde murrte: „Ach, dass der Herr uns doch
umgebracht hätte!"
Und doch, dieses Murren war ein Misstrauensvotum gegen Gott.
War Er denn nicht mehr da? Hatte Er je versagt? Zog Er denn nicht mit, „des
Tages in der Wolkensäule und des Nachts in der Feuersäule"? War denn Gott
alt und schwach geworden, dass Er nicht mehr helfen konnte?
Mose erschrickt, als er das gottlose Murren hört, und wirft
sich vor lern Herrn zu Boden. Und da gibt ihm der Herr den klaren Befehl:
»Versammle die Gemeinde um den Felsen! Und dann sollt ihr, dein Bruder
Aaron und du, mit dem Felsen reden. So wird er euch Wasser geben."
Ein wildes Bild: Die murrende, erregte Gemeinde. In ihre
Mitte tritt Mose. Auch er verliert nun die Fassung. Wie lange soll er sich denn
noch mit diesem widerspenstigen Volke plagen! Und warum auch führt Gott sie von
einer Not in die andere!
Er sieht, wie wilde, böse Augen auf ihn starren. Da ergreift
er seinen Stab und ruft erregt: „Höret, ihr Ungehorsamen, werden wir euch auch
Wasser bringen aus diesem Fels?" Und nun schlägt er zweimal wild auf den
Fels ein.
Paulus sagt: „Der Fels ist Christus." In der Tat, Er
ist der geschlagene Fels. Ich möchte Ihn dir vor die Augen malen: Dort hängt
Er am Kreuz. Sieh die Striemen der Geißelung! Sieh die Dornenkrone, die
durchbohrten Hände! Drängt sich dir nicht die Frage auf die Lippen: „Wer hat
dich so geschlagen, / mein Heil, und dich mit Plagen / so übel
zugericht't?" Auf diese Frage gibt Paul Gerhardt dir im selben Lied die
Antwort: „Ich, ich und meine Sünden, / die sich wie Körnlein finden / des
Sandes an dem Meer, / die haben dir erreget / das Elend, das dich schlaget, /
und das betrübte Marterheer." Es scheint mir die wichtigste Entdeckung für
ein Menschenleben zu sein, wenn man diese Beziehung zwischen sich selbst und
Jesu Kreuz herstellt: „Ich habe Ihn geschlagen."
Diese Erkenntnis hat schon David gehabt, als er sagte: „An
dir allein habe ich gesündigt." Wohl kann kein Mensch es mir zeigen — aber
Gottes Geist kann es mir im Gewissen aufdecken, dass meine Sünde Jesus ans
Kreuz brachte. Und dies ist die wichtigste Entdeckung meines Lebens.
Vielleicht begehrt deine Vernunft auf und sagt: „Das ist
doch Unsinn! Weder ich noch Mose können Jesus geschlagen haben. Denn zu Moses
Zeiten war Jesus noch gar nicht in der Welt. Und ich lebe 2000 Jahre nach
Seiner Kreuzigung." — Ich antworte dir: Das Kreuz steht jenseits der Zeit.
3. Der geschlagene Fels gibt Wasser
Ich muss euch die Wüstengeschichte zu Ende berichten. Als
Mose den
Fels geschlagen hatte, „da ging viel Wasser heraus".
Ich habe im Geist diesen Augenblick gesehen: Beim Anblick des
Wassers veränderten sich die Gesichter. Wo vorher Verzweiflung
herrschte, war nun Freude. Wie drängten sie herzu! Da lief
einer durchs Lager und rief es denen zu, die es noch nicht wussten: „Wasser
ist da!"
So möchte ich es
auch machen: Ich sehe die Verzweifelten in meinem Volke, die sich von Gott
verlassen wähnen. Ich möchte ihnen allen zurufen: Kommt zu Jesu Kreuz! Dort ist
Wasser des ewigen Lebens!
Es gibt ein Bild von W. Steinhausen zu diesem Vorgang in der
Wüste. Da sieht man nichts als die Quelle und davor ein junges Weib, das mit
unendlichem Verlangen eine Schale hinhält und das Wasser auffängt.
O dass dies ein Bild unsrer Seele wäre, die ja nach Jesus
dürstet, auch wenn wir es nicht wissen: Der geschlagene Fels — Jesus — gibt
unsrer Seele Frieden und Trost und Leben.
Der schwäbische Dichter Hiller mahnt uns: „Trink,
ausgezehrte Seele, / dich dieses Wassers satt; / du folgest dem Befehle / des,
der das Leben hat. / Es quillt aus dessen Seite, / den man am Kreuz verwund't.
/ Drum trink auch du noch heute, / du trinkst dich ganz gesund."
Es ließ sich noch viel dazu sagen. Eines scheint mir noch
besonders wichtig: Wasser wird nicht nur getrunken. Es dient auch zur Reinigung.
Das ist wohl das Größte, was von dem geschlagenen Felsen zu sagen ist: „Das
Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde."
„Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie auf
zum Zeichen; und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne
Schlange an und blieb leben."
4. Mose 21, 9
Die Griechen des Altertums erzählten sich eine sehr
eindrucksvolle Sage von dem großen Helden Perseus. Der saß beim Hochzeitsmahl
mit der schönen Andromeda. Da wird die Saaltür aufgerissen, und ein anderer
König erscheint, um die Andromeda zu rauben. Es entbrennt ein wilder Kampf.
Schon sind viele gefallen. Perseus kommt in Not, denn die Feinde sind in großer
Überzahl. Da ruft Perseus seinen Feinden zu: „Ihr zwingt mich zum Äußersten und
Schrecklichsten!" Und während er in eine Tasche fasst, die ihm an der
Seite hängt, ruft er: „Es wende sein Antlitz ab, wer mein Freund ist!"
Dann hält seine Hand das grauenvolle Haupt der Medusa hoch. Diese Medusa war
ein furchtbares Ungeheuer: Statt der Haare hatte sie Schlangen auf dem Haupt.
Wer sie sah, erstarrte zu Stein. Im Medusenhaupte hat sich für den Griechen
alles Grauenvolle, alles, was das Blut erstarren macht, verkörpert. Dort im
Saal nun hält Perseus ihr abgeschlagenes Haupt hoch. Und seine Feinde erstarren
zu Stein. Ein Blick auf die Medusa tötet sie auf ewig.
Das Evangelium erzählt — und diesmal ist es keine Sage — das
Gegenstück. Es sagt uns von einem Totenhaupt, dessen Anblick bis zu diesem
Tage ewiges Leben schenkt.
1. Wohin wir sehen sollen
Es handelt sich um den Blick auf den gekreuzigten Sohn Gottes,
auf das „Haupt voll Blut und Wunden", auf das „Haupt, zum Spott gebunden
/ mit einer Dornenkron". Wir wollen uns das Kreuz Christi deuten lassen
von den alttestamentlichen Vorbildern. Und so muss ich jetzt zuvor die
Geschichte erzählen, aus der unser Text stammt.
Die Gemeinde des Alten Bundes zieht durch die Wüste. Gewiss,
das ist kein Aufenthaltsort für zwei Millionen Menschen. Aber — der Herr zieht
ja mit. Er gibt ihnen Wasser aus dem Felsen. Er gibt ihnen jeden Morgen Brot
vom Himmel, das Manna.
Aber nun seht das verkehrte Menschenherz! Statt sich dankbar
und vertrauensvoll dieser Fürsorge des himmlischen Vaters zu überlassen, murren
sie gegen Gott und gegen Mose: „Warum hast du uns aus Ägypten geführt! Unsere
Seele ekelt vor dieser mageren Speise." Da sendet der Herr feurige
Schlangen in das Lager. Und nun hebt ein großes Entsetzen und Sterben an. Die
Kinder Israel erschrecken. Sie laufen zu Mose: „Bitte für uns den Herrn! Wir
haben gesündigt!"
Da liegt nun dieser treue Fürbitter wieder auf seinem Angesicht
vor dem zornigen und doch so gnädigen Gott. Und Gott befiehlt ihm: „Mache eine
eherne Schlange und richte sie zum Zeichen auf. Wer gebissen ist und sieht sie
an, der soll leben."
In fliegender Eile gehen sie an die Arbeit. Während die
einen die eherne Schlange gießen, richten die anderen schon ein Kreuz auf. Und
dann eilen, die Boten durchs Lager: „Seht auf die eherne Schlange!"
Da werden manche wohl gespottet haben: „Was soll das
helfen?!" Und sie starben. Wer aber aufschaute — ach, nur mit einem Blick!
—, der blieb leben. O ich sehe da Menschen ankriechen, todwund und sterbend.
Ein Blick — und neues Leben überströmt sie.
Es ist gut tausend Jahre später. Da sitzt der Herr Jesus in
einer Nachtstunde mit Nikodemus zusammen. Er erklärt ihm, dass diese eherne
Schlange ein Vorbild ist auf Sein Kreuz: „Wie Mose eine Schlange erhöht hat, so
muss des Menschen Sohn erhöht werden . .. Also hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben haben" (Johannes 3, 14-18).
Also: Auf Jesu Kreuz sollen wir sehen. Das gibt ewiges
Leben.
2. Was wir da sehen dürfen
Das Evangelium ist doch eine unerhörte Botschaft! Auf den
gekreuzigten Heiland sehen — das kann doch der größte Sünder, der verkommenste
Mensch. Ja, so ist es: Ein Glaubensblick auf den sterbenden Versöhner errettet
unter allen Umständen.
Und umgekehrt: Kein Ringen und Kämpfen kann dir Frieden mit
Gott geben. Auch kein Beten und kein gutes Werk. Sondern nur der glaubende
Blick auf den Heiland am Kreuz errettet dich von Gottes Zorn und Gericht.
Was ist denn nun an dem Kreuz so Besonderes, dass es solche
errettende Wirkung hat? Vor kurzem sagte mir ein junger Mann: „Es sind doch
viele Menschen als Märtyrer und um einer guten Sache willen gestorben. Warum
machen Sie so ein Geschrei um den Tod Jesu?" Unsere Textgeschichte soll es
uns erklären. Zunächst müssen wir verstehen: Israel stand handgreiflich unter
Gottes Zorn. In den Schlangen verkörperte sich Gottes Fluch über die Sünder. —
Wer nun nichts weiß von Gottes unheimlichem Zorn über die Sünde, wer noch nie
Gottes Fluch im Gewissen gespürt hat — der begreift wahrscheinlich gar nichts
von der ganzen Geschichte. Wir stehen auch unter dem Fluch. In den Schlangen
nun wurde der Fluch in Israel sichtbar. Da hängte Mose ein Bild dieses Fluches
ans Kreuz. Nun hieß es: „Seht dorthin! Da hängt der Fluch, ausgetan,
weggetragen, gekreuzigt, erledigt!"
Das dürfen wir auch am Kreuze Jesu sehen: Da hängt Gottes
gerechter Zorn, da hängt der Fluch, der mich treffen sollte — da ist er ausgetan,
weggeschafft, getötet, gekreuzigt!
Wer mir aufmerksam gefolgt ist, der erschrickt jetzt wohl
und sagt; „Die Schlange war wohl ein Bild des Fluches. Aber — der Heiland doch
nicht!"
Doch! So steht es im Worte Gottes! Galater 3, 13 heißt es:
„Christus ward ein Fluch für uns. Denn: verflucht ist jedermann, der am Holz
hanget."
Nun lasst mich ein Bild brauchen. Kürzlich las ich in einem
modernen Roman, wie in der Zeit des Dritten Reiches ein junger Student von der
Gestapo verfolgt wurde. Er flüchtete in ein großes Hotel. Aber nun wurde die
Jagd entsetzlich. Alle Ausgänge waren besetzt. Die Hetzer gingen von Zimmer zu
Zimmer. Verzweifelt jagte der Verfolgte durch das riesige Haus und suchte
einen rettenden Ausweg. So geht es uns, wenn das Gewissen erwacht. Man will dem
Zorne Gottes entrinnen — und sieht keinen Weg. Man will ein neues Leben
anfangen — und kann es nicht. Man will selig werden — und weiß sich verdammt.
Man will seine Sünde vergessen — und es gelingt einem nicht. Da kann man sich
selbst nicht helfen. Da kann einem kein Mensch helfen. Wo ist ein Weg?
Da — am Kreuz! Da ist der Fluch ausgetan. Da ist der Zorn
Gottes gekreuzigt. Da hängt deine Sünde — weggetragen — von Jesus!
3. Wie es einer erprobte
Was ist nun nötig? Nur im Glauben auf den gekreuzigten
Heiland sehen und Ihm danken, dass Er für mich ein Fluch wurde! Sonst nichts!
Der große Erweckungsprediger Spurgeon erzählt so fein, wie
es in seinem Leben zu diesem rettenden Blick kam. Ein furchtbarer Sturm trieb
ihn einst in eine kleine Kapelle. Der Prediger war ein unstudierter Mann, der
nicht einmal richtig sprach. Er redete über Jesaja 45, 22 (nach englischer
Übersetzung): „Blickt auf mich, so werdet ihr selig, aller Welt Enden!"
Nachdem er das Wort erklärt hatte, richtete er seine Augen
auf den jungen Mann und — unbekümmert um die anderen Leute — sagte er: „Du
siehst elend aus. Und elend wirst du bleiben, wenn du den Worten nicht
gehorchst." Und dann erhob er dröhnend seine Stimme und rief: „Junger
Mann, blicke auf Jesus Christus! Und tue es jetzt!" Spurgeon berichtet:
„Ich fuhr zusammen. Zugleich aber richtete ich
meinen Blick auf Jesus und — war selig. Es war das Werk
eines
Augenblicks, der Übergang vom Tod zum Leben. Die finstere
Wolke,
die mich jahrelang umschattet hatte, war verschwunden, — ich
sah
die Sonne. Ich sah den Gnadenratschluss Gottes. Ich musste
mit der
Gemeinde jubelnd singen vom teuren Blute Christi."
So ruft jetzt der Heiland uns zu: „Seht auf mich, so werdet ihr
selig!"
„Und sollen unter euch solche Freistädte sein vor dem Bluträcher, dass
der nicht sterben müsse, der einen Totschlag getan hat."
4. Mose 35, 12
Kein Mund ist imstande, genügend auszusagen, was an jenem Karfreitag
geschah, als Gott Seinen Sohn dahingab für uns. Kein Dogma kann das Geheimnis
des Kreuzes in genügsamer Weise beschreiben.
Aber wir dürfen ganz praktisch erfahren, dass das Kreuz Christi unsere
Errettung ist. Wie das geschieht, möchte ich euch klarmachen an einem Manne,
der viele hundert Jahre vor Jesu Geburt gelebt hat. Die Geschichte dieses
Mannes aus dem Alten Bund ist ein Vorbild unserer Errettung.
Versetzen wir uns um 3000 Jahre zurück. Wir stehen an einem Grenzstein,
der sagt, dass hier die Gemarkung der Stadt Sichern beginnt. Da kommt mit
eilendem Schritt ein Mann daher auf der Straße von Jerusalem. Er sieht nicht
die Pracht der herrlichen Berge ringsum. Er achtet nicht auf die Schönheit
dieses wundervollen Tales mit seinen Olivengärten und Obsthainen. Er eilt nur
vorwärts. Als er den Grenzstein erreicht hat, bleibt er aufatmend stehen.
„Gerettet!" ruft er jubelnd. Wir halten ihn an und legen ihm drei Fragen
vor.
1. Wohin läufst du?
»Wohin eilst du so sehr?" fragen wir den Mann. Daraufhin zeigt er
auf das Städtchen Sichern, das im Sonnenglanz vor uns liegt, und sagt das
seltsame Wort: „Zur Freistadt!"
Was ist denn das — eine Freistadt? In alter Zeit gab es eine Sitte, die
da und dort heute noch bestehen soll: die Blutrache. Wenn jemand einen andern
erschlug, dann war der nächste Verwandte verpflichtet dem Schuldigen
nachzueilen, bis er an ihm das Gericht vollzogen hatte.
Gott hat in Seiner Geduld bei den Israeliten diese Sitte bestehen lassen.
Aber Er hat eine wundervolle Einrichtung getroffen: Als sie in das Land Kanaan
zogen, befahl Er ihnen, sie sollten Freistädte schaffen. Wenn nun jemand aus
Versehen einen andern erschlüge, dann sollte der Schuldige in die Freistadt
fliehen. Hier sollte er sicher sein. Ich habe mir das lebhaft vorgestellt: Da
sind ein paar Männer beim Holzfällen. Einer holt weit aus und trifft einen
andern mit seiner Axt an den Kopf. Der sinkt tot um. Die Arbeitskameraden
werden aufmerksam. Sie springen herbei. Da lässt der Schuldige alles liegen
und rennt los. Er läuft um sein Leben. Er gönnt sich keine Ruhe. Schon liegt
Sichern vor ihm. Da sieht er die Verfolger dicht hinter sich. Obwohl seine
Kraft zu Ende ist, rennt er weiter. Da ist der Grenzstein. Er sinkt nieder. Die
Verfolger bleiben stehen, kehren um. Ich habe das früher in der Bibel recht
uninteressiert gelesen. Bis ich selber in die Lage des Schuldigen kam. Ich sah
einen furchtbaren Rächer hinter mir: Gottes Gesetz. O ja, ich habe es
übertreten! Wohin soll ich fliehen vor Seinem Zorn? Er wird mich einholen. Und
Seine Gerechtigkeit wird mich richten.
Da hörte ich im Evangelium von einer Freistadt. Es ist Jesu Kreuz auf
Golgatha. Es ist eine herrlichere Freistadt als Sichern. Dorthin durfte nur
fliehen, wer versehentlich gefehlt hatte. Golgatha aber ist Freistadt für alle
Sünder.
Nun lasst uns noch mal zu jenem Mann zurückkehren, der nach Sichern
floh. „Höre!" sagen wir zu ihm. „Du bist aber gut dran, dass du diese
Freistadt so in der Nähe hattest! Was soll aber einer tun, der weit weg von
Sichern wohnt?" Da antwortet er uns: „Gott hat bestimmt, dass mehrere
Freistädte vorhanden sind. Es gibt keinen Ort, von wo aus nicht schnell eine
Freistadt zu erreichen wäre." Welch herrliches Bild für das Kreuz von
Golgatha! Es ist jedem nahe. Jesus Christus ist überall erreichbar. Und es ist
keiner unter uns, der nicht heute zu Ihm fliehen dürfte.
2. Warum fliehst du?
Das ist die zweite Frage, die wir dem Mann dort in Sichern stellen:
„Warum läufst du nach Sichern?" Nun, nach dem bisher Gesagten
kennen wir seine Antwort: „Meine Schuld treibt mich!"
Schuld! Sünde! Das ist ein Wort, das dem natürlichen Menschen verhasst
ist. Vor kurzem sagte mir ein kluger Mann: „Ich bin so traurig über mein Volk.
Wir klagen heute die ganze Welt an. Aber wir drücken uns an dem Bekenntnis
vorbei: Wir sind schuldig! Wir ernten heute, was wir gesät haben. Und wir alle
tragen doch mit
Schuld." Haben wir uns unsern Anteil an der Schuld unseres Volkes
einmal klargemacht?
Ja, häufen wir nicht jeden Tag vor Gott Schuld auf Schuld? O dass wir
doch Zwiesprache halten wollten mit unserem Gewissen! Es ist so befreiend, wenn
wir vor Gott treten und bekennen: „Ich habe gesündigt!"
Unsere Väter waren darin — wie ich glaube — viel aufrichtiger. Ich habe
in meiner Bücherei ein altes Kommunion-Büchlein, das behilflich sein will zu
einer rechten Vorbereitung fürs Heilige Abendmahl. Da zeigt der Verfasser, wie
man sein Leben an den Geboten Gottes prüfen muss. So sollten wir mit unserem
Gewissen Zwiesprache halten. Dann verginge uns unsere falsche Sicherheit. Dann
würden wir uns dem Laufe des Mannes anschließen, der zur Freistadt eilt. Lasst
uns wieder zu diesem Manne zurückkehren. Ich möchte ihn fragen: „Sag mal, ich
sehe dich ganz allein laufen. Warum kümmerst du dich nicht darum, was die
anderen tun?" Da antwortet er mir: „Was gehen mich in meinem Fall die
anderen Leute an? Ich, ich habe gesündigt! Hier ist nur die Rede von meiner
Schuld." So geht es allen denen, die nach Golgatha eilen zum Kreuze Jesu.
Ihr Gewissen ist so laut geworden, dass es ihnen vergangen ist, von der Sünde
anderer zu reden. Sie wissen nur noch eins: Ich bin verloren, wenn sich mir
die Freistadt nicht auftut.
So eilen sie zum Kreuze. Sie haben keine Zeit zu verlieren — wie der
Mann, der nach Sichern lief. Er hatte nicht erst Abschied genommen zu Hause. Er
war noch in seiner Arbeitskleidung. O dass wir es so eilig hätten, die
Freistadt für Sünder im Kreuze Jesu aufzusuchen! Wer weiß denn, ob es morgen nicht
zu spät sein kann?! Wie, wenn der Tod uns heute überfiele in unsern Sünden und
schleppte uns vor Gottes Tribunal?
3. Wer schützt dich in der Freistadt?
Wir stehen noch einmal vor dem Mann, der nach Sichern floh. Und wir
fragen ihn: „Wer schützt dich nun hier? Wir sehen doch keine starken Mauern um
Sichern. Warum fühlst du dich hier sicher?" Und er antwortet: „Weil Gott
es so bestimmt hat."
Gott selber hat uns die Freistadt auf Golgatha geschenkt. Gott selber
hat es bestimmt: „... auf dass alle, die an den gekreuzigten Heiland glauben,
nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."
Gott selber hat es so festgesetzt, dass Jesus, der Gekreuzigte, „die
Versöhnung ist für unsre Sünden, und nicht nur für die unsrigen, sondern für
die der ganzen Welt".
Versteht ihr, was das heißt? Wenn 10000 Bluträcher gegen unsern Freund
heranzögen, dann dürfte er sich doch an den Grenzstein lehnen und gelassen
zusehen, wie alle 10 000 abziehen müssten.
Mehr als 10000 menschliche Bluträcher haben sich gegen mich aufgemacht:
Gottes Gesetz verklagt mich hart. Ich habe es übertreten. Gottes Zorn entbrennt
mit Recht gegen mich — das stellten wir eben schon fest. Dazu hält mein eigenes
Gewissen mir vor: „Du bist ein Sünder und Gottloser!" Der Teufel
behauptet, ich hätte mich ja längst mit ihm eingelassen, und er habe ein Recht
auf mich. Die Welt hält mich mit tausend Klammern und sagt: „Du gehörst
mir!" Wohin soll ich denn noch fliehen? Das Kreuz Jesu ist meine Freistadt.
Da darf ich im Glauben stehen und allem trotzen, sogar dem Tod! Gott hat die
Freistadt gesetzt. Wer will ihren Frieden brechen?! Und so singt der Glaube,
zitternd und doch geborgen:
„Nichts, nichts
kann mich verdammen,
Nichts nimmet mir
mein Herz;
Die Höll' und ihre
Flammen,
Die sind mir nur
ein Scherz;
Kein Urteil mich
erschrecket,
Kein Unheil mich
betrübt,
Weil mich mit
Flügeln decket
Mein Heiland, der
mich liebt."
„Und die zwölf Steine, die sie aus dem Jordan genommen hatten,
richtete Josua auf zu Gilgal."
Josua 4, 20
Erlaubt mir, dass ich eure Aufmerksamkeit auf ein seltsames
Denkmal richte.
Ich weiß: Denkmäler stehen bei uns nicht hoch im Kurs. Die
Zeiten ändern sich zu schnell. Ein Mann, dem man vielleicht heute ein Denkmal
errichten wollte, ist morgen schon vergessen oder als Verbrecher entlarvt.
Darum hat unsere Zeit an Stelle von Denkmälern einfach und praktisch die
Straßennamen gesetzt. Die lassen sich schnell und billig ändern und sind auch
eine ganz hübsche Erinnerung. Wir sind also wieder einmal sehr unzeitgemäß, wenn
wir uns mit einem Denkmal beschäftigen. Und nun gar mit einem Denkmal, das vor
3000 Jahren bei Gilgal am Jordan errichtet wurde! Aber es lohnt sich, dies
Denkmal anzusehen. Denn es ist ein Vorbild und eine Abschattung des wichtigsten
Denkmals aller Zeiten: des Kreuzes auf Golgatha.
1. Es bezeugt eine Entscheidung Gottes
Nun muss ich zunächst von dem Denkmal erzählen. Da wird uns
im Buch Josua berichtet, wie das Volk des Alten Bundes, das Gott aus der
schrecklichen Sklaverei in Ägypten erlöst hatte, nach 40jähriger Wanderung am
Jordan stand. Dort drüben lag das ersehnte Land der Freiheit. Aber — es führte
kein Weg hinüber. Und es gab wirklich keine menschliche Möglichkeit, dass dies
arme Nomadenvolk mit Weibern, Kindern und Herden im Angesicht seiner Feinde
über den Strom kommen konnte. Nun war eigentlich alles zu Ende.
Doch der lebendige Gott war noch da. Er schafft spielend
Wege, wo wir keine mehr sehen. Ja, Gott war noch da!
Aber — da war ein schlimmes „Aber"! Die 40 Jahre, die
hinter Israel lagen, waren böse Jahre, voll von Ungehorsam gegen Gott oder von
Gleichgültigkeit gegen Ihn. Da hatte man sich gegen Gott empört oder war Ihm
weggelaufen. Wie oft hatte Gott sagen müssen: „Sie haben mich erzürnt..."
Ist das nur Israels Geschichte, oder ist es nicht auch die
unsrige?
Und nun standen sie am Jordan. Festgefahren! Was nun? Da
greif Gott ein: Er befiehlt, dass die Priester die Bundeslade, das Zeichen
Seiner Gegenwart, ergreifen und in den Fluss hineingehen sollen. Einfach
hineingehen! Die tun das. Und nun geschieht das Wunder: Vor ihrem Fuß weichen
die Wasser zurück. Gott schafft einen Weg. Seine Hände halten die Wasser auf.
Mitten im Strom bleiben die Priester stehen. Das Volk zieht an ihnen vorbei —
hindurch. Und da lässt der Anführer Josua zwölf große Felsblöcke aus dem
Strombett aufnehmen. Als alles vorbei ist, werden die am Ufer zu einem Denkmal
geschichtet.
Was predigt das Denkmal? Es sagt: Gott entschied sich für
uns. Er entschied sich für uns, als wir es nicht erwarten durften. Er entschied
sich für uns, obwohl wir Ihn erzürnt und betrübt haben. Er entschied sich für
uns aus reiner, bloßer Gnade, „ohn' all unser Verdienst und Würdigkeit".
Solch ein Denkmal sollten wir heute haben; heute, wo kein
Mensch mehr weiß, wie wir mit Gott dran sind! Wo nur eins klar ist, dass wir
Ihn schlimmer erzürnt haben als Israel. Ja, solch ein Denkmal sollten wir
haben!
Das ist die „Frohe Kunde" (= Evangelium): Wir haben
solch ein Denkmal! Es ist das Kreuz Jesu von Golgatha. Es sagt dir, dem Sünder:
Gott hat sich für dich entschieden. Aus lauter Liebe und Gnade. Gott will dich.
Gott sagt „Ja" zu dir.
Ich entsetze mich bei dem Gedanken, es könnte einer hier
diese Botschaft zur Kenntnis nehmen und dann in seinem Leben alles beim alten
lassen. Das Kreuz sagt: Gott hat sich für dich entschieden. Nun ist eine
Entscheidung bei dir fällig.
Mit ein paar Brüdern bete ich vor jedem Gottesdienst. Und da
bewegt es mich, dass einer jedes mal bittet: „Herr, lass Entscheidungen für
Dich fallen!"
2. Es spricht vom Weg an das andere Ufer
Im Geiste sehe ich in späteren Zeiten einen Vater aus Israel
mit seinem Sohn an dem Denkmal vorbeigehen. Der Junge fragt: „Vater, was ist
das für ein seltsamer Steinhaufe?" Und dann erzählt der Vater: „Sieh, wir
standen einst ratlos dort drüben. Wo wir standen, war die Wüste. Am anderen
Ufer war das blühende Land. Wo wir standen, war die Unruhe. Am andern Ufer
waren die Ruhe und der Friede. Wo wir standen, waren die Armut und die Not. Am
andern Ufer war der Reichtum ... O wie sehnten wir uns nach dem andern Ufer!
Aber wir sahen keinen Weg. Und nun sieh das Denkmal an: Hier hat Gott uns einen
wundersamen Weg bereitet, den Weg an das andere Ufer." So spricht der
Vater. Und in seinen Augen glänzen die Tränen der Bewegung.
Wir leben von Natur alle in der Wüste. Davon singt ein
Dichter: Hier ist Müh / morgens früh / und des Abends spät, / Angst, davon die
Augen sprechen, / Not, davon die Herzen brechen. / Kalter Wind oft weht."
Und ein anderer schildert die Menschen dieser Wüste: „Sie suchen, was sie nicht
finden, / in Liebe und Ehre und Glück / und kommen beladen mit Sünden / und
unbefriedigt zurück." Und das Schrecklichste: Es ist eine Welt ohne
Hoffnung. Was hast du zu erwarten? Das Grab! Und dann? Das Gericht Gottes. Und
wer könnte da bestehen?
Haben wir nicht schon manchmal Sehnsucht gehabt nach dem
andern Ufer? Nach einer Welt, wo man Frieden im Herzen und Frieden mit Gott
hat? Wo man sich ein Kind des lebendigen Gottes nennen darf? Wo man Vergebung
der Sünden und Trost in allem Leide kennt? Wo man das ewige Leben schon
ergriffen hat und sich hier schon auf den Himmel freuen kann? In unsern besten
Stunden schreit unser armes, friedeloses Herz: „Wo ist das Denkmal, das
Zeichen, dass mir der Weg zum andern Ufer gebahnt ist?"
Gott sei Dank! Wir wissen eine Antwort: Der Weg zum andern
Ufer führt über das Kreuz Jesu auf Golgatha. Darüber wäre viel zu sagen. Aber
heute kann ich euch nur ganz allgemein die Richtung weisen: „Der Weg zum
Paradiese / führt über Golgatha."
3. Es ruft die Welt
Als dort am Jordan die Felsblöcke aufgeschichtet waren,
sagte Josua zum Volke: „Wenn eure Kinder hernach ihre Väter fragen: Was sollen
diese Steine?, so sollt ihr ihnen sagen: Israel ging trocken durch den
Jordan... auf dass alle Völker auf Erden die Hand des Herrn erkennen."
Wenn dieser Steinhaufe schon ein Ruf an die Welt war, wie
viel mehr gilt das für das Kreuz, auf das jenes Denkmal hinweist. Was wir
predigen, geht alle Völker und Menschen an. Seit dem Turmbau zu Babel ist die
Zertrennung und Not der Völker- und Menschenwelt ins Ungemessene gewachsen. Und
was einst Jesaja Sa8te, gilt heute mehr als je: „Sie gingen alle in
der Irre wie Schafe, und ein jeglicher sah auf seinen Weg." Und das ist
ein Irrweg!
Das Kreuz ruft die Menschen aller Völker zum Heil Gottes.
Jener Steinhaufe stand in Gilgal. Gilgal heißt auf deutsch etwa „wegwälzen".
Das ist bedeutungsvoll. Die Menschen tragen unendliche Lasten. Von der größten
Last jedoch reden sie nicht gern, von der Schuld vor Gott.
Das Kreuz aber ist das Gilgal für die Welt: Hier dürfen wir
alle, alle Lasten abwälzen, Schuld und Not und Sorge. „Komm zum Kreuz mit
deinen Lasten, / müder Pilger du. / An dem Kreuze kannst du rasten. / Da ist
Ruh."
„Aber die Stadt
Jericho verbrannten sie mit Feuer und alles, was darin war... Rahab aber, die
Hure, samt dem Hause ihres Vaters und alles, was sie hatte, ließ Josua
leben."
Josua 6, 24 und 25a
Vor vielen Jahren
hatte ich einmal ein komisches Erlebnis: Da geriet ich bei meinen Besuchen in
eine Wohnung, wo ein netter junger Mann mich begrüßte. Wir kamen ins Gespräch,
und ich freute mich an seinen verständigen Ansichten. Schließlich lud ich ihn
in unsre Bibelstunde ein. Da sagte er höflich: „Ich danke Ihnen. Ich werde es
der Oma bestellen."
Er war ernsthaft
überzeugt: Das Evangelium ist eine Sache für alte Leute, die sonst nichts mehr
vom Leben haben. Leider steht er mit dieser seiner Ansicht nicht allein. Es ist
einfach unerträglich, wie den meisten das Evangelium eine harmlose und
uninteressante Sache geworden ist. dass wir es doch begreifen möchten: Das
Evangelium ist eine gewaltige Errettungsbotschaft. Wer es verachtet oder
verwirft, tut es auf eigene Gefahr. Die Gefahr heißt: Zorn Gottes!
Das Evangelium ist
die Botschaft der Errettung vom Zorne Gottes. Davon spricht auch diese
alttestamentliche Geschichte. Wir überschreiben sie:
1. Die verlorene
Stadt
Da war also die
Stadt Jericho, eine der Hauptstädte der kanaanitischen Kulturwelt.
Durch diese Stadt
schritten eines Tages zwei Kundschafter des alttestamentlichen Gottesvolkes.
Was sahen diese Männer? Ungefähr dasselbe, was man heute erblickt, wenn man
einmal die Augen aufmacht: Eine reiche Welt, üppige Geschäftsstraßen,
rauschende Feste. Sie fanden ferner eine starke Militärmacht vor, trotzige
Offiziere und modernste Waffen. Weiter fiel ihr Blick auf herrliche Tempel und
einen reichhaltigen religiösen Kultbetrieb.
Aber diese beiden
Kundschafter waren Leute, denen Gott die Augen geöffnet hatte, dass sie tiefer
sahen. Und so merkten sie: Hier ist eine Welt ohne Gott.
Eine Welt ohne Gott
— das ist unheimlich. Und so entdeckten diese Männer auch die unheimlichen Züge
im Gesicht Jerichos — wie sie jeder bei uns finden kann: Sie sahen neben dem
Reichtum die grauenvollste Sklaverei. Es erschütterte sie, wie die Selbstsucht
triumphierte, wie die Besitzenden kaltherzig an der Not vorübergingen. Sie
sahen zerrüttete Ehen, Jugend ohne Halt, Religion ohne Glauben.
Und auf einmal
entdeckten die Kundschafter: Das ist nicht eine Stadt nur ohne Gott. Das ist
vielmehr eine Stadt, auf die sich die dunkle Wolke des Zornes Gottes
herabsenkt. Eine gerichtsreife Stadt! So berichten sie: „Gott hat sie
dahingegeben." Und es geht ihnen auf, dass die Menschen das ahnen. Sie
finden überall eine dunkle Angst. Das verlorene Jericho ist ein Bild der Welt
unter dem Zorn Gottes. Diese Welt geht Gerichtskatastrophen entgegen, deren
Schatten ja schon über uns liegen. Aber mehr noch! Wir alle gehen auf das
letzte große Endgericht Gottes zu.
Hast du schon
einmal den Zorn Gottes gefürchtet? Natürlich ist dir schon angst davor
geworden. Aber vielleicht hast du das abgeschüttelt, wie die Leute in Jericho
das Grauen zu vertreiben suchten. Das aber ist sehr töricht.
In 4. Mose 15,
30-31 sagt Gott: „Wenn eine Seele bewusst sündigt, die hat den Herrn geschmäht.
Solche Seele soll ausgerottet werden... denn sie hat des Herrn Wort verachtet
und sein Gebot fahren lassen. Ja, sie soll ausgerottet werden; die Schuld
bleibe auf ihr." Wer von uns hat noch nicht bewusst Gottes Gebote
verletzt? Und da wagen wir zu tun, als seien nicht die Wolken Seines Zornes
über uns? Ach, wir wissen das ganz genau. Und darum ist das Kennzeichen unsrer
Zeit die geheime Angst und Flucht davor.
Jericho war eine
verlorene Stadt. Und wir leben in einer verlorenen Welt.
2. Das Haus der
Errettung
Eines Tages stand
Josua (das ist die hebräische Form des Namens Jesus), der Vollstrecker des
göttlichen Gerichts, vor Jericho. Schweigend umzogen seine Heerscharen die
Stadt. Ich denke, dass die Leute von Jericho lachend das Grauen abzuschütteln
versuchten. Aber es war Eis in ihrem Lachen. Sie ahnten: „Irret euch nicht,
Gott lässt sich nicht spotten!"
Dann kam das Ende.
Gott selbst stürzte die Mauern um, Jericho ging unter in Flammen. Wer aber in
diesem Chaos die Augen offen hielt, sah etwas Seltsames : Eine einzige
Mauerzacke blieb stehen. Und auf diesem Mauerrest klebte ein kleines Haus.
Geradezu unwahrscheinlich war es, wie dies auf die Mauer gebaute Haus bewahrt
blieb. An dem Hause hing ein rotes Seil. Wenn die mit dem Schwert würgenden
Rächer der Ehre Gottes dies rote Seil sahen, gingen sie vorüber, und das Haus
blieb im Frieden.
Dies Haus des
Friedens und der Bewahrung ist ein herrlicher Hinweis, eine Verheißung auf das
Kreuz Jesu, des Sohnes Gottes. Wenn die Gerichte Gottes beginnen, wenn die Welt
vergeht und die Hölle ihre Pforten öffnet, um die Verächter aufzunehmen, dann
wird offenbar: Es gibt nur einen einzigen sicheren Platz, einen Ort der Bewahrung:
das Kreuz.
Ein rotes Seil hing
an jenem Haus als Erkennungszeichen. Ein alter Ausleger hat gesagt: „Dem Teufel
zum Trotz muss die rote Farbe dabei sein. Denn sie redet von dem Blute Christi,
das für uns vergossen wurde."
Aber nun muss ich
euch kurz berichten, warum dies eine Haus in Jericho bewahrt blieb. Kehren wir
zurück zum Anfang der Geschichte: Als die Kundschafter Josuas Jericho
durchstreiften, wurden sie entdeckt und verfolgt. Sie flüchteten in ein
öffentliches Haus. Das gehörte einem sehr schlechten Weibe, der Hure Rahab.
Und nun geschah etwas Gewaltiges. Dies Weib legte ein Bekenntnis ab. Der Inhalt
und der Sinn ihrer Rede war etwa folgender: „Wir haben übel getan. Und darum
sind die kommenden Gerichte eures Gottes Jehova gerecht. Ich möchte mich auch
zu eurem gesegneten Volke Gottes schlagen. Denn alle Seine Worte sind
Wahrheit."
Und dann hat Rahab
die Kundschafter versteckt und sie schließlich an dem roten Seil über die Mauer
der Stadt hinabgelassen. Ehe die Boten aber schieden, rieten sie der Rahab:
„Lass das rote Seil als Erkennungszeichen im Fenster hängen! Dies soll ein Haus
der Errettung sein. Und versammle alle deine Freunde und Verwandten zu dir,
dass auch sie bewahrt bleiben!"
Rahab glaubte,
ergriff die Rettung und wurde erhalten im Gericht.
So wird es auch am
Jüngsten Tage sein. Es werden nicht die Mächtigen errettet, nicht die Weisen,
nicht die, welche sich selbst für gut halten, sondern nur die, welche Gott die
Ehre geben und sich im Hause der Errettung aufhalten, nämlich unter Jesu Kreuz.
Es ist doch zum Aufhorchen: Eine der größten Sünderinnen, die Hure Rahab, wurde
errettet. Jesu Kreuz errettet Sünder, Verlorene, die von Gott nichts zu hoffen
hatten.
3. Eine Einladung
an uns
Ich sehe im Geist,
wie die Rahab vor dem Untergang Jerichos durch die Straßen eilte und in ihr
Haus einlud. Was wird sie dabei erlebt haben?
Die einen
antworteten: „Ich will mir's überlegen." Und sie überlegten, bis es zu
spät war. Die ändern sagten: „Die Rahab ist überspannt. Wir sind doch auch
religiös." Und sie kamen im Gericht um. Manche aber wurden nachdenklich
und gingen mit der Rahab. Die wurden errettet.
So wie die Rahab
damals in ihr Haus der Errettung einlud, so möchte ich euch zum Kreuz rufen.
„Lasst euch erretten von diesem verkehrten Geschlecht", hat einst am
ersten Pfingsttag der Petrus gesagt (Apostelgeschichte 2, 40). Seitdem geht der
Ruf zum Kreuz durch die Welt. Ob wir ihn wohl hören und ihm folgen?
„Und da sie sie gesteinigt hatten, machten sie über sie
einen großen Steinhaufen, der blieb bis auf diesen Tag. Also kehrte sich der
Herr von dem Grimm seines Zorns. Daher heißt derselbe Ort das Tal Achor."
Josua 7, 25 und 26
Ein alter Bruder aus dem Siegerland kam einst in ein
Christenhaus zu Besuch. Als er von der Verlobung des Sohnes hörte, legte er ihm
die Hände auf die Schultern und fragte ernst: „Es ist doch wohl nicht eine von
den Töchtern der Kanaaniter?"
Die Frage verblüffte zuerst nach Form und Inhalt den jungen
Mann. Aber dann konnte er fröhlich in die fragenden Augen hinein antworten,
dass seine Braut aus einem Christenhause stamme und selbst im Glauben an Jesus
als ihren Heiland stehe.
Es ging ihm damals ganz groß auf, dass es ein Volk Gottes
gibt. Und dass es eine Auszeichnung ist dazuzugehören.
Inwiefern ist es eine Auszeichnung? Sind Kinder Gottes
reicher und gesunder als andere Leute? Nein! — Haben sie weniger Not zu tragen
als andere? Nein! — Haben sie weniger Kämpfe als andere? Nein! Sogar mehr! —
Worin besteht die Auszeichnung? Hätten wir zu Josuas Zeiten einen Mann aus dem
alttestamentlichen Volk Gottes so gefragt, dann würde er uns zum Tal Achor
geführt und auf einen riesigen Steinhaufen gezeigt haben: „Darin liegt unser
Vorzug!" Um das zu verstehen, müssen wir uns die alte Geschichte
vergegenwärtigen.
1. Das Denkmal des Verworfenen
Das Gottesvolk des Alten Testaments war in Kanaan
eingezogen. Es begann das Land zu erobern. Große und herrliche Siege lagen
hinter ihm.
Da kam der Rückschlag: Vor den kümmerlichsten Haufen der
Feinde mussten sie fliehen. In der großen Not schrie Josua zum Herrn. Der
antwortete: „Ihr könnt nicht siegen. Ihr steht unter einem Bann. Ihr habt einen
Dieb unter euch, der sich an dem Gut vergriffen hat, das mir geheiligt
war."
Es ist eine spannungsreiche Schilderung, wie nun Josua das
Volk zusammenruft und das Los wirft, um den Verworfenen zu ermitteln:
Zuerst wird der Stamm Juda getroffen, von den Geschlechtern
Judas dann das Geschlecht der Serahiter. Immer engere Kreise zieht das Los, bis
es endlich auf Achan fällt. Zitternd gesteht der seine Schuld. Da nimmt man ihn,
das gestohlene Gut und all seinen Besitz und was zu ihm gehörte. Man führt ihn
in das einsame Tal Achor. Es ist eine schauerliche Szene, wie er mit all dem
Seinen gesteinigt wird. Ein riesiger Steinberg verkündet: „Der Bann ist
abgetan." Da geht über dem Volke Gottes die Sonne der Gnade Gottes neu
auf, und es schreitet von Sieg zu Sieg.
Wir stellten uns eben vor, dass ein Mann uns dorthin führt
und erklärt: „Hier ist der Vorzug von Gottes Volk." Ich höre, wie er
sagt: „Sieh, bei den Heiden achtet man die Sünde gering. Die Schuld liegt auf
ihnen als Bann; wie eine dunkle Wolke ist Gottes Zorn über ihnen und wird immer
dunkler. Über uns aber leuchtet die Sonne der Gnade. Denn der Bann ist
hinausgetan. Des sind wir fröhlich!"
2. Unser Achan heißt Jesus Christus
Wer den Herrn Jesus Christus lieb hat, der fährt gewiss
jetzt innerlich auf und denkt empört: Wie kannst du den schmutzigen Dieb Achan
mit dem reinen Jesus vergleichen? Wie kannst du den verworfenen Achan neben den
Sohn Gottes stellen, dem der Vater sagte: „Du bist mein lieber Sohn!" —?
Und doch, ich muss es tun. Und wer es versteht, hat das
Evangelium verstanden. Auf Achan lag der Fluch, die Schuld, der Bann. Und erst
als der Bann, der Fluch, die Schuld in Achan hinweggetan waren, hatte die Gnade
das Wort.
Genauso ist es mit unserm Herrn Jesus Christus. Auch auf Ihm
lag die Schuld. Aber hier ist nun der große Unterschied zwischen Ihm und Achan:
Achan trug seine eigene Schuld. Der reine, unschuldige Sohn Gottes trug unsere
Schuld. Man muss recht fassen, was Gottes Wort in Jesaja 53, 6 sagt: „Der Herr
warf unser aller Sünde auf ihn." Im Galaterbrief (3, 3) steht: „Er ward
ein Fluch für uns." Auf Jesus lag nun aller Bann, alle Schuld, aller
Fluch. Und dieser Schuldbeladene wurde hinausgetan. Er wurde mit allem, was zur
Sünde gehört, weggeworfen — wie Achan. Von den Menschen wurde Er an das Kreuz
genagelt. Und von Gott wurde Er verworfen, dass Er entsetzt schrie: „Mein Gott,
warum hast du mich verlassen!" In Römer 8, 3 heißt es, dass Gott „in seinem
Fleisch die Sünde verdammte". Und in 2. Korinther 5, 21: „Gott hat ihn für
uns zur Sünde gemacht."
Als unser Achan Jesus starb, ging das Verheißungswort aus
Sacharja 3, 9 in Erfüllung: „Ich will die Sünde des Landes wegnehmen auf einen
Tag."
Der alte „Posaunengeneral" Kuhlo hat einmal gepredigt
über die Frage des Pilatus: „Was soll ich denn tun mit Jesus?" Und da hat
er das Unerhörte und doch so Richtige ausgesprochen: „Wenn ich dort unten beim
Volk gestanden hätte und Pilatus hätte mich so gefragt, dann hätte ich
mitgeschrieen: ‚Kreuzige Ihn!' Denn auf Ihm lag nun alle Schuld, alle Sünde und
aller Fluch. Und wenn Er gekreuzigt wurde, dann war aller Bann
hinweggetan."
Wie dankt es Gottes Volk dem Sohne des lebendigen Gottes,
dass Er für uns zum Achan wurde!
3. Unser Achor heißt Golgatha
In unserem Text
heißt es von dem großen Steinhaufen: „Der blieb bis auf diesen Tag." Ein
ewiges Denkmal in Israel, dass der Bann hinweggetan wurde und die Gnadensonne
aufging! Dies seltsame Wort brachte mich darauf, dass hier ein Hinweis auf das
Kreuz Christi ist. Denn das Kreuz steht als Denkmal der weg getanen Schuld
durch alle Jahrtausende.
Wie manches Mal hat wohl später ein israelitischer Vater
sein Söhnlein an die Hand genommen, ist mit ihm hinaus nach Achor gegangen,
hat ihm den Steinhaufen gezeigt und bewegt gesagt: „Hier wurde die Schuld aus
Israel getan, hier wendete sich Gottes Zorn, von hier aus begann unser
Siegesleben."
So dürfen wir nach Golgatha hinausgehen, nach unserm Achor.
Wir Sünder, die wir es genau wissen, dass wir unter Gottes Fluch stehen, wollen
nach Golgatha gehen und den Gekreuzigten ansehen, bis wir im Gewissen erfahren:
„Der Bann wurde von mir genommen. Der Grimm des Zornes Gottes hat sich in Gnade
verwandelt." Vielleicht sind auch Christen unter uns, die — wie Israel —
nicht mehr siegen können. Sie taumeln von einer Glaubenslosigkeit und von einer
Niederlage zur ändern. Gehe nach Achor und „wirf dem Sündentilger zu Füßen
deine Last". Lass allen geheimen Bann unter Seinem Kreuze mitbegraben
sein! Dann verspricht Gottes Wort dir Sieg.
„Achor" heißt „Betrübnis". Ja, betrübte Leute
zogen nach Achor. Aber zurück kehrten fröhliche Sieger. So ist es mit Golgatha.
Ein Strom von beladenen Gewissen, unglücklichen Herzen, schwermütigen Seelen,
friedelosen Gemütern zieht nach Golgatha. Aber der Mann am Kreuz hat alles auf
sich und in Seinen Tod hinein-genommen. So kehren begnadigte, fröhliche,
friedvolle Leute von Golgatha zurück. Auch dafür finden wir wundervolle
Andeutungen im Alten Testament. Da steht bei Jesaja (65, 10), dass das Tal
Achor = „Betrübnis" ein herrliches Weideland werden soll. Und in Hosea (2,
17) heißt es, dass es ein „Tor der Hoffnung" sein soll. Ja, in der Tat!
Golgatha — Achor ist unser „Tor der Hoffnung".
„Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das
darin war, dass der Toten mehr waren, die in Simsons Tod starben, denn die bei
seinem Leben starben."
Richter 16, 30b
An der herrlichen Promenade, die in Frankfurt am Main
entlang führt, steht das Städelmuseum. Das enthält eine reiche Gemäldesammlung.
Mein Elternhaus lag dicht hinter dem Museum. Als ich noch
ein Junge war, führte meine Mutter uns jeden Sonntag nach dem Gottesdienst
dorthin. Bald waren wir wie zu Hause unter den Kunstschätzen.
Wenn ich mir diese Vormittage in das Gedächtnis rufe, dann
steht immer ein Bild Rembrandts vor meiner Seele: ein riesengroßes Gemälde,
das die Blendung Simsons darstellt. Man sieht einen sehr starken Mann, der sich
in Fesseln am Boden wälzt. Triumphierende Philister schleppen eine glühende
Eisenstange herbei, um ihm die Augen auszustechen. So wurde mir die tragische
Gestalt dieses „Richters in Israel" früh vertraut.
Aber erst bei tieferem Bibelstudium erkannte ich, dass er —
wie alle alttestamentlichen Erzväter, Heilande und Propheten — einen Zug hat,
der ihn zum „Schatten" Jesu werden lässt. Den möchte ich aufzeigen.
1. Er stirbt in grenzenloser Einsamkeit
Wer war denn Simson?
Gottes Volk seufzte unter dem Druck der Heiden, der
Philister. Da bestimmte Gott schon vor dessen Geburt den Simson zum Erlöser des
Volkes Gottes. Im Richter-buch nennt die Bibel solche Männer „Richter"
oder „Heilande". Mit diesem letzten Ausdruck werden wir darauf gestoßen,
dass solch ein Mann ein Hinweis ist auf den wirklichen Heiland und Erlöser,
Jesus Christus.
Gerade an Simson nun wird deutlich, dass ein wirklicher
Erlöser von oben kommen muss. (Und unsere Zeit sollte es nach all den Erfahrungen
endlich auch begreifen.) Simson hat wohl große Taten vollbracht. Aber seine
Kraft wurde immer wieder gebrochen, weil er sich mit den heidnischen Frauen
einließ. Ist das nicht die Geschichte manches Mannes, den Gott zum Segen
gesetzt hatte?!
Solch ein Weib, die Delila, brachte ihn in die Gewalt der
Feinde. Sie schor ihm heimlich seine langen Haare ab, das äußere Zeichen seiner
Gott-Verlobtheit. Nun verließ ihn seine Kraft. Er wurde gefesselt, geblendet
und in einen Kerker geworfen. Dort wuchsen ihm die Haare und die Kraft wieder.
Nach einiger Zeit feierten die Philister ein Fest im Tempel
ihres Götzen Dagon. Zur Erhöhung der Festesfreude holte man Simson aus dem
Kerker, stellte ihn zwischen zwei Säulen, drückte ihm eine Harfe in die Hand.
Nun sollte er singen.
Aber Simson warf die Harfe weg, ergriff die zwei Säulen und
neigte sich kräftig. Da stürzte der Tempel ein. Simson ward mit den Tausenden
unter den Trümmern begraben.
Ich habe im Geist diesen Simson dort zwischen den Säulen
stehen sehen, den Riesen mit der albernen Harfe in der Hand. Er ist ganz
verlassen. Ringsum nur spottendes Lachen.
Und nun ist mir, als tauche hinter diesem einsamen Mann das
Bild des Gekreuzigten auf. Auch Ihn hat man lächerlich machen wollen. Davon
spricht die Dornenkrone. Er ist ganz verlassen. Ringsum nur Spott und Gelächter
und Hass.
Dies einsame Sterben Jesu hat einen tiefen Sinn, der schon
im Alten Testament aufgezeigt wird. Jesaja 59, 16 steht: „Gott sieht, dass niemand
da ist, und verwundert sich, dass niemand ins Mittel tritt; darum hilft er sich
selbst." Und Jesaja 63, 4f.: „Die Zeit, die Meinen zu erlösen, ist
gekommen. Und ich sah mich um, und da war kein
Helfer. Und ich verwunderte mich, und niemand stand mir
bei." Jesus starb so allein, damit deutlich wurde: Wir konnten nichts zu
unserm Heil beitragen. „Es ist in keinem ändern Heil, ist auch kein anderer
Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin sie könnten selig werden, als
allein der Name Jesus."
2. Sein Tod wird zum
Sieg
Kehren wir zu Simson zurück! Große Taten hatte er zu seinen
Lebzeiten getan. Aber die Bibel berichtet, „. . . dass der Toten mehr waren,
die in seinem Tod starben, denn die bei seinem Leben starben". Sein
Sterben war der entscheidende Sieg über die Feinde des Volkes Gottes.
Wer spürt hier nicht, dass wir uns mitten im Neuen Testament
befinden!
Ja, so steht es mit Jesus, unserm Herrn und Heiland. Große
Dinge hat Er getan, als Er über die Straßen Palästinas ging: Er stillte den
Sturm, Er sättigte Tausende, Er heilte die Aussätzigen, Er weckte die Toten
auf. Und da und dort glaubte der eine oder andere an Ihn. Aber ganz anders
wurde es nach Seinem Tode am Kreuz. Er endigte mit dem Jubelruf: „Es ist
vollbracht!" Welch ein Siegesschrei! Und sofort wird offenbar, dass Sein
Kreuzestod der Sieg ist: Der Hauptmann bekennt sich zu Ihm. Der schüchterne
Nikodemus tritt als Sein Jünger hervor. Drei Tage später zittern alle Seine
Feinde vor dem Auferstandenen. An Pfingsten lassen sich 3000 auf Seinen Namen
taufen. Einen Saulus, der den Kampf gegen Ihn aufgenommen hat, macht Er zu
Seinem größten Zeugen.
O, ich möchte mit den Augen Gottes einen Augenblick über die
Welt sehen können, um die große Schar derer zu zählen in allen Kontinenten,
die jetzt, mitten in die Ratlosigkeit der Welt hinein, singen: „Lamm Gottes,
deinen Wunden / verdank ich's Tag und Nacht, / dass sie den Rat gefunden, / der
Sünder selig macht..." Die unzählbare Schar aus „allen Völkern, Sprachen
und Zungen" wird „an jenem Tage" durch das Lob „des geschlachteten
Lammes" offenbar machen, dass Sein Sterben am Kreuz der große Sieg war über
Welt, Hölle, Teufel, Sündenmacht und Sündenschuld.
3. Sein Tod wirkt
viele Tode Blicken wir noch einmal auf den Simson!
Er starb nicht allein. Sein Tod wirkte tausend Tode. Er riss
viele Philister in sein Sterben hinein. So auch Jesus: Er riss viele in Sein
Sterben hinein. Nun versteht mich bitte recht! Manche meinen sicher, ich
spräche jetzt von den Märtyrern. O nein! Die würden heftig protestieren:
„Jesus hat uns nicht in Sein Sterben hineingerissen, sondern in Sein ewiges
Leben."
Was soll denn das heißen: Jesus riss viele in Sein Sterben
hinein?
Wer sich klar zu Jesus bekennt, der merkt bald: Meine
natürliche Art ist Gott ein Greuel. Ich bin fleischlich und sollte geistlich
sein. Ich muss anders werden.
Nun kann ich mich nicht selbst anders machen. Aber ich kann
Gottes Todesurteil von Golgatha auf mich beziehen. Ich kann mich mit Jesus in
den Tod geben. Ja, ich muss es! Täglich muss ich das tun.
O bleibt nicht in eurem alten Wesen! Ihr geht sonst ewig
verloren. Paulus sagt: „Ich bin mit Christus gekreuzigt!" Sein ganzes stolzes
Pharisäerleben ist in Jesu Tod hineingerissen. Und er ermahnt: „Welche Christo
angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden." Wer
das also nicht tut, der gehört Christo nicht an — und wenn er noch so
„christlich" wäre!
In uns allen lebt
ein heidnisches Philisterwesen. Die Bibel nennt es den „alten Menschen",
der „durch Lüste im Irrtum sich verdirbt". Der „alte Mensch" ist
immer gedeckt von der Vernunft. Dies Philisterwesen will Jesus in Seinen Tod
mitnehmen. Und die große Frage ist: Sind wir zu solchem Mitsterben bereit?
„Da aber die Philister hörten, dass die Kinder Israel
zusammengekommen waren gen Mizpa, zogen die Fürsten der Philister hinauf wider
Israel. Da das die Kinder Israel hörten, fürchteten sie sich vor den
Philistern. Samuel nahm ein Milchlämmlein und opferte dem Herrn ein ganzes
Brandopfer und schrie zum Herrn für Israel; und der Herr erhörte ihn."
1. Samuel 7, 7 und 9
Vor kurzem lud ich einen Mann in unseren Gottesdienst ein.
Der aber lehnte ab mit der Begründung: „Ich bin kein Kirchenläufer. Aber ein
Christ bin ich trotzdem. Ich bin mehr dafür, dass man das Christentum
lebt."
Nun, dafür sind wir auch. Ein Christentum, das nicht gelebt
wird, ist bestimmt wertlos.
Aber — was heißt denn das: „Christentum leben"? Da
haben die meisten die Antwort schnell bereit: „Christentum leben — das ist: Das
Böse meiden! Human sein! Gutes tun!" usw. Und wenn man schließlich alle
diese Antworten zusammenfasst, so entdeckt man, dass sie genau das meinen, was
die Bibel das „Umgehen mit Werken" nennt. Dies aber — so enttäuschend es
ist — ist ganz genau das Gegenteil von Christenstand.
Das „Christentum leben" heißt nach der Bibel: „im
Glauben leben". Aus solchem Glauben muss das rechte Tun dann fließen. Aber
die Hauptsache muss Hauptsache bleiben. Christlich leben — ich sage es noch
einmal — heißt: im Glauben leben. Und gerade das möchte ich aus der Bibel
lernen. Denn es ist etwas Großes, Starkes und Herrliches.
1. Die bedrohten und gefährdeten Leute
Unser Text enthält einen Abschnitt aus einer wundervollen,
aber auch wunderlichen Geschichte. Sie spielt in einer Zeit, in der das Volk
des Alten Bundes seinen Gott vergessen hatte. Schritt für Schritt hatte es sich
an die Welt verloren.
So etwas bleibt nicht ohne traurige Folgen: Wer dem Herrn
nicht gehören will, der wird ein Knecht der Welt. So war Israel unter die harte
Tyrannei der heidnischen Philister gekommen. Aber ein einziger Mann in Israel
ging diesen Weg nicht mit. Das war der alte Prophet Samuel. Wie hat er wohl in
der Stille betend um die abgefallene Gemeinde gerungen!
Nach zwanzig Jahren kam die Wendung. Der Geist Gottes
wirkte, dass dieses Volk zu sich kam und sein inneres und äußeres Elend erkannte.
Die Bibel erzählt: „Und das ganze Haus Israel weinte vor dem Herrn." O was
für herrliche Erweckungszeiten sind es, „wenn Scharen armer Sünder / entflieh'n
der ew'gen Glut"! Samuel sagt ihnen nun sehr nüchtern: „So ihr euch von
ganzem Herzen bekehrt zu dem Herrn, so tut von euch die fremden Götter und richtet
euer Herz zu dem Herrn...!" Und dann versammelt er alles Volk in Mizpa.
Hier wird ein großer Bußtag gehalten. Nun sollte man doch meinen, die
Geschichte ginge so weiter: „Der Herr wandte sich wieder zu ihnen, und alles
wurde gut." Aber seltsamerweise folgt das in dem biblischen Bericht nicht.
Es geschieht vielmehr etwas sehr anderes: Während sie noch in Mizpa versammelt
sind, kommt ein Bote gerannt: „Die Philister ziehen gegen uns heran mit einem
gewaltigen Heer!" Da fällt eine große Angst über alle. Man muss Mitleid
haben mit diesen bedrohten und gefährdeten Leuten.
Aber sind wir nicht in der gleichen Lage? Man möchte
wirklich dem Herrn angehören. Man hat sein Elend ohne Ihn erkannt, man ist erschrocken
über sich, hat die Götzen weggetan und ein Leben mit dem Herrn angefangen.
Und gerade dann geschieht es, dass die Hölle ihre Pforten
auftut und alle Bedrohungen auf uns loslässt: Da gewinnen Versuchungen, die man
längst überwunden wähnte, eine neue, unheimliche Gewalt. Da überfällt uns auf
einmal ein Sorgengeist, dass man vor Nöten nicht mehr aus noch ein weiß. Da
quält uns der Zweifel, ob nicht das ganze Evangelium doch eine
Menschenerfindung sei. Da geraten viele in unbegründete, aber abgrundtiefe
Schwermut, die alle Freudigkeit lahmt. Da verwirren die Menschen uns und
bringen uns in lauter Schwierigkeiten.
„Da zogen die Philister herauf gegen Israel", heißt es
hier. Ja, das erleben alle, die dem Herrn angehören wollen, immer wieder neu.
2. Das seltsame Verhalten des Samuel
Nun kommt das Wunderliche der Geschichte. Das heißt:
Wunderlich ist es nur in den Augen der blinden Welt. Die Christen können an dem
Verhalten des Samuel lernen, was es heißt: im Glauben leben. Durch die
Versammlung in Mizpa läuft plötzlich die Schreckensbotschaft: „Die Philister ziehen
gewappnet gegen uns heran!" Was sollte Samuel nun tun? Die Antwort ist
klar: Er musste den Bußtag abbrechen und Maßnahmen ergreifen gegen den
feindlichen Einfall. Aber das alles tut Samuel nicht. Vielmehr fährt er in
Gelassenheit fort mit dem begonnenen Gottesdienst: Ein Opfer wird geschlachtet
und das Feuer auf dem Altar entzündet.
Da kommen neue Boten: „Die Philister sind schon ganz
nahe!" Samuel bleibt ruhig. Er stellt sich und das bedrängte Volk im Glauben
unter das Opfer und schreit zum Herrn.
„Das ist ja verrückt!" sagt hier die natürliche
Vernunft. Nun, ein unerleuchteter Mensch weiß eben nicht, was solch ein Opfer
ist. Wissen wir es? Dies Opfer ist Versöhnung mit dem lebendigen Gott.
Samuel opferte
ein Milchlämmlein. Wir haben etwas Besseres: das Opfer des Sohnes Gottes auf
Golgatha am Kreuz. „Siehe, da ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde
trägt!" Unter dies Opfer dürfen wir uns im Glauben stellen. Auf den
gekreuzigten Heiland dürfen wir schauen und wissen: Er ist die Versöhnung für
unsere Sünden. Er ist unser Friede mit Gott. Da wird das Herz bei allen Nöten,
Anfechtungen und Bedrohungen ganz still und getrost. Denn wenn wir Frieden mit
dem lebendigen Gott haben, muss ja alles gut werden. Schaut noch einmal auf den
Samuel! Ich bin überzeugt, dass die Angst und Aufregung auch an seinen Nerven
riss, dass seine alte Natur ihm auch allerlei andre Rettungswege vorschlug.
Aber der Heilige Geist Gottes hielt ihn fest unter dem versöhnenden Opfer, dass
er im Glauben sich an diese Versöhnung mit Gott klammerte und nun dem Herrn
die ganze Not hinwerfen konnte.
So machen es die richtigen Christen. Das heißt: im Glauben
leben!
3. Der wunderbare Ausgang
Nun müssen wir unbedingt noch den Schluss der Geschichte
ansehen. Ich stelle mir vor, wie immer neue Schreckensboten ins Lager Israels
kommen. „Es muss doch etwas geschehen!" rufen die weltklugen Leute im
Hintergrund. Samuel aber bleibt mit der Gemeinde unter dem Versöhnungsopfer
stehen. Und im Schütze dieses Opfers schreit er zum Herrn. „Da ließ der Herr
donnern einen großen Donner über die Philister und schreckte sie." So
erzählt die Bibel. Und sie macht erstaunlich wenig Worte über diese Sache.
Ja", fragen wir, „geht das denn immer so?" Und die
Antwort muss lauten — allem Unglauben zum Trotz: Ja, es geht immer so! Oder
sollte Gottes Wort lügen? Es sagt im 34. Psalm Vers 6: „Welche auf ihn sehen
(wie Er für uns am Kreuze hängt), die werden erquickt, und ihr Angesicht wird
nicht zu Schanden." Es geht so, auch wenn scheinbar die Philister siegen; auch
wenn die Christen den Märtyrer-Tod erleiden. Am Ende wird es offenbar: Wer im
Glauben unter Jesu Kreuz steht, ist für immer gerettet, und sein Angesicht wird
nicht zu Schanden. Aber die Welt der Philister wird zu Schanden. Ich möchte
euch bitten: Macht Schluss mit dem „Feld-, Wald- und
Wiesen-Gottvertrauen", das man so vielfach findet. Gott ist heilig, und
wir Sünder sind vor Ihm tausendmal des Todes schuldig. Aber nehmt das
Versöhnungsopfer Jesu am Kreuz an, dann steht Gott auf eurer Seite.
So werden Christen mit ihren Bedrohungen und Nöten fertig,
dass sie sich glaubend unter die Versöhnung stellen und als Versöhnte zu Gott
schreien. Ja, so überwinden sie die Welt. Denn: „Unser Glaube ist der Sieg, der
die Welt — und alle Philister — überwunden hat!"
„David entrann in die Höhle Adullam... Und es versammelten
sich zu ihm allerlei Männer, die in Not und Schulden und betrübten Herzens
waren."
1. Samuel 22, 1 und 2
In eine spannungsreiche Zeit führt uns unser Text. In Israel
herrschte König Saul, den Gott wegen seines Ungehorsams verworfen hatte.
Heimlich aber war der Hirte David zum König gesalbt worden. Der finstere Saul
fürchtete, hasste und verfolgte den David. Der barg sich in der Höhle Adullam,
irgendwo in großer Einsamkeit. O diese wichtige Höhle! Für die allermeisten
allerdings bedeutete sie nichts. Wer konnte sich bei all den Sorgen und Unruhen
im Lande um eine Höhle kümmern!
Aber das Gemunkel wollte nicht schweigen, dass dort in der
Höhle der Mann sei, durch den Gott Heil gegeben hätte. Und hier und da machten
sich allerlei Männer nach Adullam auf. Welch ein treffendes Abbild des Kreuzes
Jesu! Den meisten bedeutet das Kreuz gar nichts. Und doch — das Gemunkel will
nicht schweigen, dass dort, dort allein Heil für die Welt sei. Und so machen
sich hier und da Menschen auf und eilen zum Kreuz. Wollen wir uns nicht ihnen
anschließen?
1. Was für Leute eilen dorthin?
Es war eine recht armselige Schar, die sich bei David in der
Höhle Adullam zusammenfand: „Allerlei Männer, die in Not und Schulden und
betrübten Herzens waren." Wie hat man wohl auf den Gassen und Märkten über
solche Leute gespottet!
Aber das kümmerte diese Elenden und Verzweifelten nicht. Sie
atmeten auf, wenn ihr Fuß die Höhle betrat: „Hier sind wir geborgen!"
Genauso steht das nun mit Golgatha und Jesu Kreuz: Hier ist
man ewig geborgen. Hier ist großer Friede. Aber nicht jeder kann diesen
Friedensort finden. Man muss schon zu den Leuten zählen, die in „Not, Schulden
und betrübten Herzens" sind. Gehören wir dazu? „In Not": Wer noch
allein mit sich und der Welt fertig wird, wem der Boden noch nicht unter den
Füßen wankt, — der versteht nichts vom Kreuz. Wem aber der Jammer der Welt an
die Seele geht, der wird froh an dieser Offenbarung der Liebe Gottes.
„In Schulden": Wem das Wort „Sünde" ein veralteter
Begriff ist, wer sich noch nie gefürchtet hat vor dem heiligen Gott, wer noch
nie in den Abgrund seines bösen Herzens geschaut hat, wer noch nicht die Last
seiner Verschuldung erkannt hat —, der verlangt keine Zuflucht. Dem predigen
wir vergeblich vom Kreuz. Wer sich aber keine Illusionen mehr macht und weiß:
„So, wie ich bin, gehe ich verloren", — der flieht vor seinen Sünden, vor
sich selbst und vor dem Zorn Gottes zum Kreuz. Gesegnete Zufluchtsstätte für
verlorene Sünder! Hier finde ich Vergebung der Sünden und einen gnädigen Gott.
„Betrübten Herzens": Wer nichts weiß von den
Finsternissen der Anfechtung und von den Schatten der Schwermut — was soll dem
das Kreuz Christi!? Für die Menschen aber, die es nicht mehr aushalten, ohne
Gott weiterzuleben, für sie ist diese Zuflucht da.
Es gibt von dem Maler W. Steinhausen ein eigenartiges
Passionsbild: Da ragt hoch das Kreuz Jesu. Und von allen Seiten wandert eine
stille Schar heran: die große Sünderin, das kanaanäische Weiblein und viele
andere Gestalten der biblischen Geschichte, „die in Not, Schulden und betrübten
Herzens" waren.
Ich stand einst mit einem Jungen vor diesem Bilde. Erstaunt
sagte der: „So war das doch gar nicht bei Jesu Sterben!" Ich erwiderte:
„Richtig! Damals standen brüllende Massen um das Kreuz. Aber heute ist es so:
Die Massen wissen nichts mehr vom Kreuz. Doch ein stiller Strom zieht
ununterbrochen nach Golgatha: lauter Leute, ,die in Not, Schulden und betrübten
Herzens' sind."
2. Woher kommen sie, und wohin gehen sie?
Im Geiste habe ich so eine kleine Schar gesehen, die nach
der Höhle floh. Wenn man sie gefragt hätte: „Woher kommt ihr?", dann hätten
sie geantwortet: „Aus dem Reiche Sauls." Und sie wären gewiss gewesen,
damit wäre alles gesagt.
Was war es denn um das Reich Sauls? Seht, Saul war einmal
von Gott sehr erhöht worden. Aber er hatte sich von Ihm gelöst. Da hatte ihn
Gott verworfen. Nun war's nur noch ein Regieren gegen Gott. Das bedeutet lauter
Verwirrung.
Das Reich Sauls ist so recht ein Bild dieser Welt: Sie hat
einen Herrscher. Es ist der, der zu Jesus auf dem Berg der Versuchung sagte:
„Dies alles ist mir übergeben." Das ist der Engelfürst Satan, der von Gott
abfiel und Gottes Feind wurde. Darum ist die Welt so verwirrt, weil Satan
regiert. Graust es euch nicht manchmal vor der geradezu satanischen Verwirrung
in der Welt? Und die finden wir nicht nur im Großen, die spiegelt sich nicht
nur in den Zeitungen. Sie herrscht auch in unseren Häusern: zerrüttete Ehen; versinkende
Jugend; haltlose Menschen, die allen Leidenschaften preisgegeben sind;
religiöse Verwirrung; Lüge und Unrecht. O es kennt jeder die Verwirrung seines
Herzens!
Nun sehe ich nochmals die jungen Männer unseres Textes an.
Da möchte ich ihnen die zweite Frage stellen: „Wo eilt ihr hin?" Und sie
antworten: „Heraus aus Sauls Reich, hin zu David!" Unsere Höhle Adullam
ist Golgatha. Dort finden wir den wahren Davidssohn, Jesus. Er ist der
heimliche König, heimlich von Gott gesalbt. Er ist der wahre Herr der Welt. Er
fängt das Regiment am rechten Ende an, indem Er das größte Problem löst, das
Problem unserer Schuld. Er büßt sie am Kreuz und schafft Frieden mit Gott. Er
ist der rechte und gesegnete König!
Und wenn nicht alle Welt zu Ihm geht, dann eile du zu Ihm!
Denn: Die Entscheidung für den Gekreuzigten ist der Schritt aus der Herrschaft
Satans unter die Herrschaft des Sohnes Gottes.
3. Welcher Art ist ihre Zufluchtsstätte?
Es wären dem David bestimmt mehr Leute zugelaufen, wenn er
in einem Schlosse zu finden gewesen wäre. Aber nun war er so erniedrigt, dass
er in einer Höhle sich aufhielt.
Noch viel erniedrigter war der Sohn Gottes, als Er am Kreuze
hing. Wie hat dieses Kreuz, dieser Galgen die Menschen abgestoßen! Und doch!
Wenn du Vergebung, Frieden und Geborgenheit finden willst, dann musst du zu dem
erniedrigten König Jesus unter das Kreuz fliehen.
Hier ist unser Adullam. Ich habe eine Beschreibung der Höhle
Adullam gelesen. Da heißt es: „Sie ist ein endloses System von Korridoren und
Quergängen, die noch nie bis zum Ende erforscht wurden."
Auch so ist sie
ein Abbild des Kreuzes. Wer hier seine Zuflucht gefunden hat, der macht immer
neue Entdeckungen: Hier ist Gottes Gerechtigkeit offenbart. Hier erfolgt die
Rechtfertigung meines Lebens: Der Gekreuzigte macht mich vor Gott gerecht. Hier
empfange ich Vergebung der Sünden. Hier finde ich Versöhnung mit Gott. Aber —
noch kein Mensch hat dies Adullam ganz entdeckt. Das Kreuz ist das tiefste und
seligste Geheimnis der Weltgeschichte. Da heißt es am Ende nur: „Wenn ich dies
Wunder fassen will, / so steht mein Geist vor Ehrfurcht still. / Er betet an,
und er ermisst, / dass Gottes Lieb' unendlich ist."
„Das ist Davids Raub.“
1. Samuel 30, 20
Dies ist ein Wort aus einer aufregenden Geschichte, die uns aus dem Leben Davids berichtet wird.
Damals war er noch nicht König, sondern ein armer Flüchtling, der sein Leben vor der Feindschaft des Königs Saul zu retten suchte. Weil David ein rechter Held war, hatte sich im Laufe der Zeit eine große Zahl Männer ihm angeschlossen. Alle diese Leute nun hatten mit Weibern und Kindern eine Heimat gefunden in der Stadt Ziklag. Eines Tages kam David von langer Ausfahrt mit seinen Mannen zurück. Welch ein Schrecken! Die Stadt war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Die Amalekiter waren eingefallen, hatten allen Besitz geraubt, die Stadt zerstört und die Frauen, Kinder und alles Vieh weggetrieben.
„Da hob David und
alles Volk, das bei ihm war, ihre Stimme auf und weinten, bis sie nicht mehr
weinen konnten." Und plötzlich bricht bei Davids Männern eine Wut gegen
ihren Anführer auf: „David war sehr geängstet, denn das Volk wollte ihn
steinigen." Durch welch schreckliche Einsamkeit musste David da gehen!
Aber in dieser Not heißt es von ihm: „Er stärkte sich in dem Herrn, seinem
Gott." Und nun zieht er den Feinden nach. Ein Teil seines Heeres lässt ihn
im Stich. Aber mit dem Rest gewinnt er den Kampf, jagt den Amalekitern nicht
nur das Geraubte ab, sondern macht noch reiche Beute. Und als er zurückkommt,
jubelt alles Heer ihm zu: „Das ist Davids Raub!"
Wie sehr ist David hier ein Vorbild auf unsern Herrn Jesus, der dem Fleische nach „aus dem Hause und Geschlechte Davids" ist. Von Ihm sagt Gott in Jesaja 53, 12: „Ich will ihm große Menge zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben."
1. Ich will das Verlorene wieder suchen
Dies Wort des Herrn steht im Buch des Propheten Hesekiel. Es ist gewissermaßen das Programm, der Kriegsplan des Sohnes Gottes: „Ich will das Verlorene wieder suchen."
So hat wohl auch David gesagt, als der starke Held weinend den Jammer sah, den der Feind angerichtet hatte. Wie schön war die Stadt gewesen, als sie ausgezogen waren! Friedevoll hatte sie im Morgensonnenschein gelegen. Und nun: Verwüstung, Jammer und Tränen!
So ist das Ziklag ein Bild der Welt, die so herrlich aus der Schöpferhand Gottes hervorging. „Und siehe da, es war sehr gut", sagt die Schrift. Es war eine wahrhaft göttliche Welt.
Aber dann kam die Katastrophe. Die Bibel nennt sie den Sündenfall. Seitdem ist die Welt voll von Jammer, Schuld und Herzeleid. Und der Teufel schleppt seine Gefangenen davon. Ich meine, alles, was die Amalekiter tun konnten, ist ein Kinderspiel gegen die grausame Tyrannei Satans: Kein Mensch will Krieg — und die Welt ist voll Morden. Alle schreien nach Liebe — und wir quälen einander! Trübe Leidenschaften herrschen, Gottlosigkeit, Lüge, Hass. Mit Recht nennt die Bibel den Satan den „Gott dieser Welt".
Jetzt könnte ich eine Statistik bringen über Ehescheidungen, Jugendkriminalität, Selbstmorde, Lustseuchen.
Aber lasst uns doch lieber in unser eigenes Leben sehen! Paulus hat einmal im Römerbrief erschütternd über diese Zerrüttung unseres Lebens gesprochen: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich." Kennen wir diese Klage?!
David weinte, als er die Verwüstung sah. O wie kann man diese Tränen verstehen! — Noch viel mehr aber greift es uns an das Herz, wenn uns die Bibel Andeutungen gibt über Tränen Gottes, die Seiner verlorenen Welt gelten. — Aber dann ermannt sich David. Und nun ist es mir, als dürften wir hineinschauen in die ewige Welt, wo der Sohn vor den Vater tritt: „Ich will das Verlorene wieder suchen!" Der Aufbruch des Sohnes Gottes aus der anderen Welt ist die Schicksalswende dieser verlorenen Welt. Da geht die Verheißung in Erfüllung: „Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir."
2. Der einsame Kämpfer
Sehen wir wieder auf David, diesen Vorläufer Jesu! Es ist seltsam, wie auch diese Geschichte mancherlei Züge der Leidensgeschichte Jesu trägt. Hier sind gleichsam Linien angedeutet, die in Jesu Passion ausgezogen werden.
„David war sehr geängstet" — wie viel mehr noch bebte der Sohn Gottes in abgrundtiefer Angst, ehe Er in den Kampf zog! Da sehen wir Ihn ringen und beten im Garten Gethsemane
„...denn das Volk wollte ihn steinigen." In der Leidensgeschichte Jesu wollte das Volk das nicht nur, sondern sie führten es auch aus. Wie schrieen sie alle: „Kreuzige ihn!"
In unserer Geschichte heißt es: „David jagte den Feinden nach. Als sie aber an den Bach Besor kamen, blieb ein Teil des Heeres stehen, die zu müde waren." Als es galt, ließen viele David im Stich. — Unsern Heiland haben alle, alle im Stich gelassen. Ganz allein stand Er im Kampf gegen die Mächte der Finsternis.
Und nun lasst uns im Geiste unter Jesu Kreuz treten, wo Er Seinen Kampf ausfechten muss. Seht den Mann mit der Dornenkrone! Seht Ihn im schrecklichsten Kampfgewühl, als Er schreit: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!" Und hört Seinen Siegesruf: „Es ist vollbracht!"
Man kann viel am Kreuze sehen: unsere Versöhnung, die Vergebung der Schuld, den Zorn Gottes und die Gerechtigkeit der Erlösten. Aber heute — anhand unserer Geschichte — geht es um eine ganz besondere Seite: David hat die Amalekiter besiegt und ihnen den Raub abgejagt. So hat Jesus am Kreuz die Finsternismächte, welche seit dem Sündenfall die Welt gefangen halten, überwunden. Er hat „der Schlange den Kopf zertreten", oder, um ein anderes biblisches Bild zu brauchen: Er ist in den Palast des Starken eingebrochen und hat ihm den Raub genommen.
Seht, die Weiber und Kinder vom Heere Davids konnten in dieser Sache gar nichts tun. Der Kampf um sie wurde ohne ihr Zutun zwischen David und den Amalekitern ausgefochten. Auch der Kampf um uns wurde ohne uns zwischen Jesus und dem Teufel ausgefochten. Und Jesus siegte. Wir können kaum die Bedeutung von Golgatha ermessen!
3. Der Raub
Der Kampf war zu Ende, die Amalekiter waren zerstreut. Ich sehe im Geist, wie David mit dem bluttriefenden Schwerte unter die Verschleppten trat: „So, nun könnt ihr nach Hause in die Freiheit! Der Sieg ist erfochten!" Glaubt ihr, dass da nur eines von diesen Frauen, Kindern und Greisen sich besann? Glaubt ihr, sie hätten sich nach den Amalekitern umgesehen? Sicher nicht!
Aber — wir tun das! Unter uns tritt der Sohn Gottes, blutbefleckt von Seinem Kampf auf Golgatha. Und Er verkündet uns Seinen Sieg und Freiheit für uns. Wir dürfen nach Hause, zum Herzen des himmlischen Vaters, wo Friede, Freude, Leben unser warten. Aber — was geschieht? Man glaubt die Botschaft nicht und lässt sich weiter von den geschlagenen Amalekitern knechten, man dient der Welt, seinen Leidenschaften und dem Satan. Oder — man sehnt sich nach Freiheit, aber sucht sie nicht bei dem Sohne Gottes und Davids, beim Herrn Jesus Christus. Fasset doch, was das heißt: „Jesus Christus ist uns von Gott gemacht zur Heiligung und zur Erlösung." Ich sehe David nach dem Kampfe nach Hause ziehen. Um ihn drängt sich die frohe Schar. So heißt es auch von Jesus in einem Lied: „Es jauchzt um ihn die frohe Schar, / die lang in schweren Fesseln war."
„Ich will ihm große Menge zur Beute geben", sagt der Vater. Da will ich auch dabei sein — es gehe, wie es will. Mag Amalek wüten — Jesus hat doch gesiegt!
Und der König zog
hinaus und sein ganzes Haus ihm nach."
2. Samuel 15, 16
Wenn wir eine
Zeitung zur Hand nehmen, so sind wir erstaunt, wie alles wirr durcheinander
steht: Kino, Politik, Toto, kirchliche Nachrichten, Verbrechen,
Wunderheilungen, Kunst, Witze... Dasselbe Durcheinander findet sich im heutigen
Normalmenschen: Er gleicht einem Schiff ohne Steuer.
Aus diesem Elend
ist ein gläubiger Christ errettet: Sein Leben hat eine Mitte — das Kreuz Jesu.
Als ich mich bekehrte, gehörte das zu den schönsten Erfahrungen meines neuen
Christenstandes, dass mein verworrenes Leben nun eine Achse bekommen hatte, um
die sich bis heute alles dreht — das Kreuz!
Und dann lernte ich
immer mehr verstehen: Das Kreuz ist ja nicht nur die Mitte meines Lebens,
sondern auch das Zentrum alles Weltgeschehens und der Weltgeschichte. So ist
uns nichts nötiger als die Besinnung auf diese „Mitte", wobei uns die
Betrachtung der alttestamentlichen Vorbilder helfen will.
Es beschäftigt uns
heute
1. „Der König zog
hinaus..."
Es handelt sich
hier um den König David. Der war ein großer Held und ein besonderer Freund
Gottes. Wir kennen ihn ja aus seinen herrlich-starken Psalmen. Als er auf der
Höhe seines Lebens stand und sein Königreich gefestigt schien, traf ihn ein
schrecklicher Schlag: Sein eigener Sohn Absalom machte einen Aufruhr. David
musste aus seiner Hauptstadt fliehen. „Und der König zog hinaus ..." Ein
trauriger Zug!
Vielleicht auf
derselben Straße zog Jahrhunderte später ein anderer, der aus dem Hause und
Geschlechte Davids war, Jesus, der Sohn Gottes. Der trug auf Seinen
blutiggeschlagenen Schultern ein großes Kreuz. An dem hing ein Schild: „Jesus
von Nazareth, ein König." O seht euch diesen ausgestoßenen König recht an!
Wer ist denn der Absalom, der diesen König auf die schreckliche Marterstraße
getrieben hat? Wissen wir es? Er muss doch entdeckt werden, er muss doch an das
Licht gebracht werden, dieser furchtbare Absalom, der den Sohn Gottes, den
König der Herrlichkeit, zu einem ausgestoßenen König machte.
Bald darauf hängt
der ausgestoßene König Jesus am Kreuz. Selbst die Sonne verhüllt ihren Schein.
Wer ist der Absalom? Paul Gerhardt hat für sich selbst und für uns alle
geantwortet: „Ich, ich und meine Sünden, / die sich wie Körnlein finden / des
Sandes an dem Meer, / die haben dir erreget / das Elend, das dich schlaget, /
und das betrübte Marterheer. / Ich bin's, ich sollte büßen / an Händen und an
Füßen / gebunden in der Höll'..."
Ehemalige
Frontsoldaten können sich vorstellen, wie es ist, wenn über einer dunklen
Landschaft auf einmal eine grellstrahlende Leuchtkugel hochgeht. Ähnlich ist
es uns zumute, wenn Gottes Geist uns aufdeckt, dass wir — du und ich
— der Absalom sind; dass unsere Schuld den Sohn Gottes an das Kreuz gebracht
hat. So schrecklich aber diese Erkenntnis ist, so herrlich ist sie auch. Denn
das sieht man zugleich: Nun trägt Er meine Schuld fort, nun büßt Er für sie.
„Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten..." (Jesaja 53, 5).
2. „...und sein ganzes Haus zog ihm nach."
David war ein sehr einsamer Mann, als er „hinauszog".
Noch viel mehr war das so bei Jesus. Wir können nur schaudernd in die Abgründe
Seiner Einsamkeit schauen. Sie war am tiefsten, als Er rief: „Mein Gott! Warum
hast du mich verlassen!"
Und doch — hinter dem David her wurde die Straße belebt: „.
. . und sein ganzes Haus zog ihm nach." Wohl lief das Volk in Scharen dem
aufrührerischen Absalom zu. Aber eine kleine Schar fand sich zusammen und ging
mit David. „Sein Haus." Dazu gehörten ein paar Frauen, Kinder und treue
Streiter. O dies Haus Davids, das an seiner Niedrigkeit keinen Anstoß nimmt,
sondern ihn in seiner Niedrigkeit um so mehr liebt!
Dies gibt uns Licht für unseren Weg! Wollen wir nicht auch
zu dem „Haus Gottes" gehören? Der Gemeinde der Gläubigen ist die Niedrigkeit
ihres ausgestoßenen und gekreuzigten Königs Jesus nicht ein Ärgernis. Im
Gegenteil! Durch die Erleuchtung des Geistes dürfen wir es wissen: Dieser
Ausgestoßene trägt ja am Kreuz meine Last, hier wirkt Er mir ewiges Heil, hier
schafft Er Versöhnung mit Gott.
Ja, der wahren Gemeinde ist Sein Leiden das Liebste. Sie
singt: „Ewig soll er mir vor Augen stehen, / wie er als ein stilles Lamm / dort
so blutig und so bleich zu sehen, / hängend an des Kreuzes Stamm..."
Man versucht heute wieder einmal, der Welt ein
einleuchtendes Christentum zu bringen, in dem das Kreuz leise unterschlagen
wird. Da kann das „Haus Davids" nicht mitmachen. Sie folgen ihrem ausgestoßenen
König nach. Es geht gerade um Ihn, um das Kreuz. Da ist ja die Erlösung!
Nun müssen wir noch einmal in die Davidsgeschichte schauen. Als der König seine einsame Straße zog, trat ihm ein Fremdling entgegen, Itthai, der Gathiter. David machte ihn auf seine elende Lage aufmerksam und legte ihm sehr deutlich nahe, doch schleunigst sich in Sicherheit zu bringen. Da aber sagte dieser Itthai ein herrliches Wort: „So wahr der Herr lebt und so wahr mein Herr König lebt, an welchem Ort mein Herr, der König sein wird, es gerate zum Tod oder zum Leben, da wird dein Knecht auch sein." Itthai, der Vorläufer aller Fremdlinge, welche die verborgene Herrlichkeit des verstoßenen Königs erkannt haben! So kommen aus aller Welt die Fremdlinge zu dem Gekreuzigten und sprechen überwunden: „An welchem Ort mein König sein wird, es gerate zum Tod oder Leben, da will ich auch sein." Haben wir schon diesen Entschluss gefasst?
Als ich den Itthai ansah, ging mir der Missionsvers von
Knapp durch den Sinn:
„Und siehe, tausend Fürsten
Mit Völkern ohne Licht
Stehn in der Nacht und dürsten
Nach deinem Angesicht.
Auch sie hast du gegraben
In deinen Priesterschild,
Am Brunnquell sie zu laben,
Der dir vom Herzen quillt."
3. Aber die Zurückbleibenden?
Wenn wir die Geschichte von dem Aufstand des Absalom aufmerksam
lesen, dann werden wir sehen, dass es in Jerusalem eine ganze Anzahl von Leuten
gab, die sich nicht offen für Absalom erklärten. Sie hatten eine gewisse
Sympathie für David. Aber so weit ging ihre Liebe nicht, dass sie mit dem
ausgestoßenen König ausgezogen wären.
Es gibt viele Christen, welche diesen Zurückgebliebenen
gleichen. Sie sind „christlich", sie haben es mit dem Davidssohn zu tun,
sie verkehren sogar manchmal in Seinem Hause.
Aber — ja, das ist das große „Aber": Sie sind nicht auf
dem Kreuzesweg mit Ihm zu finden. Diesen Weg mit Jesus gehen heißt: mit Jesus
gekreuzigt sein. Der alte Mensch, die geistliche Trägheit, die Lüste und
Begierden — ans Kreuz damit! Darum sagt der Hebräerbrief (13, 13): „Lasset uns
hinausgehen mit Jesus aus dem Tor und seine Schmach tragen!" Diesen Weg
gehen nur die mit Ihm, die Ihm herzlich anverlobt sind. dass wir nur nicht den
Zurückgebliebenen gleichen!
„Nach dem Winde kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im
Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im
Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Da das Elia hörte,
verhüllte er sein Antlitz..."
1. Könige 19, 11-13
Das Christentum hat in unserer Zeit noch einmal eine seltsame
Breitenwirkung erlangt: Die Kirche hat eine Bedeutung im öffentlichen Leben,
die Zeitungen berichten von kirchlichen Tagungen, leitende Kirchenmänner
bekommen eine unerhörte Popularität. Es liegt darin eine Gefahr: Ein schmaler
Fluss fließt tief und reißend. Wenn aber der Fluss über die Ufer tritt und das
Land überschwemmt, entsteht leicht ein stagnierender Sumpf.
In dieser unserer Situation wurde mir eine kleine Geschichte
aus dem Neuen Testament wichtig. Da traten die Jünger zu Jesus: „Herr, meinst
du, dass viele selig werden?" Es ging ihnen auch um große Wirkungen. Aber
Jesus antwortete: „Ringet danach, dass ihr durch die enge Pforte
eingehet!" Jesus ist doch ein rechter Individualist! Wie wenig passt Er in
dies Zeitalter der Massenbewegungen! Aber wir müssen Ihn ernst nehmen! „Durch
die enge Pforte eingehen" — das heißt: Seinen ganzen Willen dem Sohne
Gottes hingeben, der uns versöhnt und erlöst hat — am Kreuz.
Ja, das Kreuz ist das Wichtigste! Darum soll hier immer
neues Licht auf das Kreuz fallen — auch durch diese Geschichte vom Erleben des
Elia am Berge Horeb. Lasst uns heute nachdenken über
1. Es sagt uns, wie Gott sich offenbart
Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Geschichte selbst. Der
gewaltige Prophet Elia musste fliehen vor der blutgierigen gottlosen Königin
Isebel. In einer Höhle des einsamen Felsengebirges am Horeb fand er Zuflucht.
Eines Tages rief ihn eine Stimme: „Geh hinaus und tritt vor
den Herrn!" Elia tat es. Und dann kam ein großer, starker Wind, der die
Felsen zerriss und die Bäume entwurzelte. Aber der Herr war nicht in dem Sturm.
Dann kam ein Erdbeben. Der Felsen schwankte. Aber der Herr war nicht im
Erdbeben. Dann kam ein verzehrendes Feuer.
Aber der Herr war nicht im Feuer. Und dann wurde es auf einmal
totenstill. In diese Stille hinein tönte ein liebliches, sanftes Sausen. Da
verhüllte Elia sein Angesicht vor dem Herrn mit dem Zipfel seines Gewandes.
Unser Gott kann auch in Feuer und Sturm und Erdbeben kommen.
So hat Ihn Israel erlebt, als Er ihm an diesem Berge Horeb die Zehn Gebote gab.
Davon spricht der 18. Psalm Vers 8-11: „Die Erde bebte und ward bewegt, und die
Grundfesten der Berge regten sich... verzehrendes Feuer ging von seinem Munde
... er schwebte auf den Fittichen des Sturmes..."
Aber nun kündigt hier der Herr dem Elia eine neue, ganz
andere Offenbarung an: nicht in Sturm und Feuer und Erdbeben, sondern im
stillen, sanften Sausen. Was bedeutet das nun? Das ist die herzbewegliche
Liebe, die den eingeborenen Sohn an unsrer Statt dahingab, das ist die
Botschaft von der freien Gnade Gottes für solche, die vor Gott schuldig sind. O
dies herrliche sanfte Sausen! Tersteegen singt im Anblick des Kreuzes: „Ich
bete an die Macht der Liebe, / die sich in Jesus offenbart. / Ich geb mich hin
dem freien Triebe, / mit dem ich Wurm geliebet ward ..."
Nirgendwo anders finden wir heute Gott als in dem stillen,
sanften Sausen, das vom Kreuz von Golgatha herweht. „Gott war nicht im Sturm,
Erdbeben und Feuer." Solche Dinge haben wir auch erlebt. Da ging im Jahre
1933 ein Sturm durch unser Land. Und viele sagten: „In diesem Aufbruch unseres
Volkes haben wir Gott erlebt." Der Herr aber war nicht im Sturm. — Und
dann hat die Erde unter uns gewankt: Alles wurde unsicher. Verzehrendes Feuer
ging über unsere Städte. Aber der Herr war nicht im Erdbeben und Feuer. Er ließ
nur eine blinde, verlorene Welt, die sich von Ihm losgesagt hatte, tun, was
sie wollte.
Aber — Gott wird noch heute gefunden im stillen, sanften
Sausen Seiner unendlichen Liebe, die wir im Angesicht des gekreuzigten Sohnes
Gottes lesen dürfen. „Für mich gab er sein Leben dar, / der ich von seinen
Feinden war!"
2. Es ist ein stilles Sausen
Erlaubt mir, dass ich eine kleine Verschiebung in den
Kulissen des
Welttheaters vornehme, und stellt euch vor, dort am Horeb
habe ein
modernes Kurhaus gestanden. Wie wäre es da zugegangen?
Als das Erdbeben und das Feuer kamen —: Gekreisch, Panik,
Fluchen
und Geschrei! Dann ist der Sturm vorüber. Die Gäste atmen
auf. Das Radio wird wieder angestellt, Tanzmusik ertönt, das junge Volk improvisiert
ein kleines Fest, die älteren Herren gehen an die Bar, um auf den Schrecken hin
einen Kognak zu trinken... Und das stille, sanfte Sausen? Das hätte keiner mehr
gehört. Denn — es war zu laut in ihnen und um sie herum.
Bitte, haltet das jetzt nicht für eine Spielerei der
Phantasie. Denn tatsächlich ereignet sich gerade dies beständig unter uns. Das
stille, sanfte Sausen — das Gnadenwort Gottes für bedrückte, hungrige Herzen,
ergeht auch in dieser Stunde von dem Kreuze Jesu. Dieses ewige Kreuz ist wie
ein Sender des lebendigen großen Gottes. Unablässig sendet es den Ruf in die
Welt: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem
Namen gerufen. Du bist mein!" (Jesaja 43, 1). Oder: „Ich vertilge deine
Missetaten wie eine Wolke und deine Sünden wie den Nebel. Kehre dich zu mir,
denn ich erlöse dich" (Jesaja 44, 22). Oder: „Fürwahr, er trug unsre
Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen" (Jesaja 53, 4). Oder: „Gott
war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber... Lasset euch versöhnen
mit Gott" (2. Korinther 5, 20).
Aber wer hört schon diese Sendung Gottes? Es heißt von
diesem stillen, sanften Sausen, das vom Kreuz ausgeht, an einer anderen Stelle
des Propheten Jesaja: „Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird
man nicht hören auf den Gassen."
O Freunde, das
Geschrei der Gasse ist so laut geworden mit Radio, Politik, Fußball, Karneval,
Reklame, Kino und Fernsehen, dass es uns grauenvoll gefangen nimmt.
Wie heißt es nun aber in unsrer Geschichte? „Da das Elia
hörte ..." Er hörte es! O macht's wie er! Geht an euren Horeb! Ringt um
Stille, bis das stille, sanfte Sausen der Liebe und freien Gnade Gottes in
euer Herz hineindringt!
Eine stille Schar sammelt sich um das Kreuz. Und sie, die das
stille Sausen gehört hat, bekennt: „Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber
hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du
wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück" (Jesaja 38, 17).
3. Was vorausgeht, ist auch wichtig
Ehe das Sausen kam, gingen Feuer, Sturm und Erdbeben voraus.
Das ist auch bedeutungsvoll. Ehe man nämlich das stille, sanfte Sausen der
herzbeweglichen Sünderliebe Gottes vom Kreuze her richtig hören kann, muss ein
Zerbrechen vorausgehen. Da kommt der Sturm, der unsre Selbstsicherheit
zerstört. Da kommt das Erdbeben, dass wir merken: Alles, worauf wir uns
verließen, ist unsicher und schwankend! Da kommt das Feuer des heiligen
Gerichtes Gottes über unser Gewissen, dass wir auf einmal ganz genau wissen: So,
wie ich bin, fahre ich mit all meinem Christentum zur Hölle! So zerbricht der
Herr unser Herz. Da wird es dann aufgetan für das sanfte Sausen: „Kommet her zu
mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken."
Denken wir an Petrus. Wie ein stolzer Felsen (Petrus heißt
ja Fels!) stand er, als er seinem Heiland versicherte: „Wenn dich alle verlassen
— ich gehe mit dir in den Tod!"
Aber dann kam die
Nacht zum Karfreitag: Der Sturm der Ereignisse verwirrte ihn. Ihn überfiel die
Angst vor Menschen; da schwankte der Boden. Und als er seinen Heiland
verleugnet hatte, und als Jesus ihn ansah, brannte das Feuer: „Ich bin
verloren, ich Verleugner!" Seht, da wurde der Petrus reif für das stille
Sausen der Gnade. Der Herr helfe uns zu einer seligen Gnadenerfahrung unter dem
Kreuz von Golgatha!
„Da stieg Naeman ab und taufte sich im Jordan siebenmal.
...und er ward rein." 2. Könige 5, 14
In der letzten Zeit hat mich oft die Frage bewegt: „Wie kommt
es, dass so wenig Menschen das Evangelium fassen?" Es ist doch so eine
herrliche Botschaft — die Botschaft vom Friedensbund mit Gott und von der
ewigen Erlösung. Und wenn ich dann sehe, welche unsinnigen Weltanschauungen
und welch törichte Dinge geglaubt werden, dann will es mir recht unfassbar
erscheinen, dass das Evangelium so wenig Glauben findet. Wie ist das zu
erklären?
Ein englischer Journalist, der zum Glauben an Jesus kam, hat
vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Nur für Sünder."
Das ist es! Nur die Menschen, die sich als Sünder erkannt haben, haben damit
ein Ohr bekommen für das Evangelium. Bist du ein Sünder? Vielleicht sagst du:
„Nein! Ich tue recht und scheue niemand." Dann bleibt dir das Evangelium
verschlossen. — Vielleicht gibst du zu: „Ja, wir sind allzumal
Sünder." Dann antworte ich dir: „Dich hat deine Sünde noch nicht
beunruhigt. Du wirst nichts verstehen."
1. Ein unglücklicher Mann
Die Bibel berichtet uns von dem syrischen Feldhauptmann Naeman.
„Der war ein trefflicher Mann vor seinem Herrn und hoch gehalten; denn durch
ihn gab der Herr Heil in Syrien. Und er war ein gewaltiger Mann." So sagt
die Bibel. Er war also ein Mann, den man beneiden konnte. Ein erfolgreicher
Mann. Aber — und nun kommt das „Aber" — er war aussätzig.
Haben wir Phantasie genug, uns vorzustellen, was das
bedeutete? Da stand er am Ziel seiner Wünsche. Er war der erste Mann nach dem
König. Er hatte ein feines Haus, Macht, Ehre, eine große Lebensaufgabe. Und
nun bricht der Aussatz aus. Er will ihn verbergen. Aber auf die Dauer geht das
nicht. Er sucht alle Ärzte auf. Keiner weiß Rat gegen Aussatz. Schließlich
ergreift ihn jene ganz große Resignation, wo man die Dinge laufen lässt, wo
die heimliche Verzweiflung das Herz erfüllt.
Der Aussatz ist in der Bibel ein Bild der Sünde. Ich kann
mir kein besseres Bild denken. Wie der Aussatz ist die Sünde entsetzlich ansteckend.
Ein Betrüger bleibt nicht lange allein. Schnell hat er Genossen seiner
Unehrlichkeit geworben. Ein unkeuscher Mensch kann seine ganze Umgebung mit
seiner unsauberen Art vergiften. Einer, der Gott nicht fürchtet, schafft eine
Atmosphäre der Gottlosigkeit. Ein Verleumder träufelt sein Gift in viele Ohren
und zerstört die Gemeinschaft.
Und wie der Aussatz ist die Sünde eine schnell wachsende
Krankheit. Jetzt spielt man in Gedanken mit einer Sünde. Und morgen ist ein
tiefer Fall daraus geworden.
Der Aussätzige hat keine Hoffnung. Er hat den Tod vor Augen.
So ist es mit dem Sünder. Er hat keine Hoffnung. Das Gericht Gottes und der
ewige Tod schrecken ihn. Nichts ist hoffnungsloser als das Leben eines Sünders.
Und einsam macht der Aussatz. Wohl wurde der gewaltige Naeman
nicht in die Wüste getrieben wie viele andere. Aber wer mochte mit ihm
verkehren?! Er war furchtbar einsam. Ich habe gefunden, dass auch die Sünde
einsam macht. Man ist von Gott geschieden. Und gerade von den Menschen, zu
denen man aufschauen könnte, fühlt man sich getrennt. „Wenn die
wüssten...!" sagt das Gewissen. Wohl dem, der seinen elenden Zustand erkennt und mit David (Psalm 51, 4) anfängt
zu schreien: „Wasche mich wohl von
meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde."
2. Ein wenig einleuchtender Rat
Kehren wir zu Naeman zurück. Die Bibel erzählt sehr
anschaulich, wie eine kleine Sklavin aus Israel in sein Haus kommt. Die sagt:
„Ach, dass mein Herr wäre bei dem Propheten Elisa! Der würde ihn von seinem
Aussatz losmachen." Das Wort erfährt der Naeman. Es lässt ihn nicht los.
Und so macht er sich auf mit großem Gefolge. Nach mancherlei Irrwegen — ihr
müsst das selber 2. Könige 5, 1-19 nachlesen — kommt er vor dem Hause des
Propheten an. Der lässt ihm sagen: „Gehe hin und wasche dich siebenmal im
Jordan. Dann wirst du rein werden." Fluten des Heils für den Aussätzigen!
Gibt es solche Fluten des Heils für solche, die am Aussatz der Sünde krank
sind? Ja! Da lese ich Sacharja 13, 1: „Zu der Zeit werden die Bürger zu
Jerusalem einen freien, offenen Born haben wider die Sünde und
Unreinigkeit." Fluten des Heils gegen den Aussatz der Sünde! Wo ist der
Born? Ein Lied gibt Antwort: „Es ist ein Born, draus heilges Blut / für arme
Sünder quillt, / ein Born, der lauter Wunder tut / und jeden Kummer stillt. —
Es quillt für mich dies teure Blut, / das glaub und fasse ich. / Es macht auch
meinen Schaden gut, / denn Jesus starb für mich." Am Kreuz auf Golgatha
entspringt der Jordan, in dem Sünder sich waschen dürfen und rein werden.
Aber kehren wir zu Naeman zurück. Als er den Rat des Elisa
bekommen hat, wird er zornig. Seine Vernunft empört sich gegen die Zumutung.
„Haben wir", sagte er, „in Syrien nicht gute Heilquellen, die tausendmal
besser sind als das Jordanwasser? Sind die Wasser Amana und Pharphar nicht
besser als alle Wasser in Israel?" Und er zog weg im Zorn.
Gerade so hat unsere unerleuchtete Vernunft auch kein
Vertrauen zum Born des Heils von Golgatha. Sie sagt: „Da haben wir im Bereich
des Weltlichen doch bessere Wege, um der Krankheit der Sünde beizukommen. Man
kann z. B. sich eine Weltanschauung zulegen, in der es kein Gericht Gottes gibt
und in der die Sünde bagatellisiert wird." Oder: „Wenn ich meine letzten
Willensreserven einsetze, werde ich wohl auch so fertig." Oder: „Ich rede
mir ein, Gott sieht meinen guten Willen an und nimmt es nicht so genau."
Dazu kann ich nur sagen: Die Wasser in Syrien hatte der Naeman ja längst ausprobiert.
Sie hatten nicht geholfen. Und die unerleuchtete Vernunft heute soll zusehen,
wie sie mit ihren hilflosen Ratschlägen einem unruhigen Gewissen zur Ruhe
verhilft. Gottes untrügliches Wort preist uns in immer neuen Worten den
Heilsbrunnen von Golgatha als einzige Hilfe für Sünder an. Da spricht der
Prophet Hesekiel in einem wunderbaren Bild von einem kristallklaren Strom, der
in dem Heiligtum entspringt und vom Altar herkommt. Und wo der Strom herfließt,
da wird Heilung geschenkt und neues Leben. Welch ein Bild für die Fluten des
Heils, die von dem Altar kommen, wo das Gotteslamm sich selbst opfert! Wie
sehnt sich unser Gewissen nach dem Bad in diesem Strom!
3. Eine wunderbare Heilung
Wir hatten den Naeman zuletzt gesehen, wie er voll Zorn
wegzog. Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Seine Knechte reden ihm
zu: „Wenn der Prophet etwas Schweres verlangt hätte, das hättest du
getan." O wie haben sie recht! Auch um sich von Sünden zu reinigen,
unternimmt der Mensch gern die schwersten Dinge. Er veranstaltet Wallfahrten
und Bußübungen.
Zum Kreuze des
Heilandes kommen und sagen, man sei ein verlorener Sünder und man wolle gern
gerettet werden — dies scheint dem Menschen zu einfach, zu albern. Und doch —
es ist der einzige Weg zur Heilung.
Dem Naeman redeten seine Knechte zu, der Weisung des
Propheten zu gehorchen, und er folgte ihrem Rat. Uns in unserer Not will der
Heilige Geist denselben Dienst tun. Wohl uns, wenn wir Seinem Zureden folgen.
Der Schluss der Geschichte ist so, dass Naeman geheilt
wurde. Und wer zu dem offenen freien Born wider die Sünde und Unreinigkeit auf
Golgatha gegangen ist, der bekennt mit dem Propheten Jesaja: „Durch seine
Wunden sind wir geheilt."
Fluten des Heils für geschlagene Gewissen! Wir wollen hinter
uns lassen, was gewesen ist. Lasst uns dahin gehen, wo es heißt: „Das Wasser
des Lebens, das ist diese Flut, / durch Jesus ergießet sie sich. / Sein
kostbares, teures und heiliges Blut, / o Sünder, vergoss er für dich. / O Seele,
ich bitte dich, komm / und such diesen herrlichen Strom! / Sein Wasser fließt
frei und mächtiglich. / O glaub's, es fließet für dich."
„Der Mann Gottes sprach: Wo ist das Eisen entfallen? Und da
er ihm den Ort zeigte, schnitt er ein Holz ab und stieß dahin. Da schwamm das
Eisen."
2. Könige 6, 6
Wir können uns die Situation, in der unsere Textgeschichte
spielt, heutzutage so gut vorstellen:
Da sind arme Leute. Die wohnen so fürchterlich eng
beieinander, dass sie beschließen: „Wir wollen uns ein Behelfsheim bauen!"
Unten am Fluss ziehen sich endlose Wälder hin. So macht man sich nun auf, um
Holz zu schlagen. Einer ist so arm, dass er nicht einmal eine Axt besitzt. Die
muss er sich erst bei einem Nachbarn leihen.
Und diesem Unglücksvogel passiert nun das Missgeschick: Als
er mit der Axt ausholt, fliegt das Eisen vom Griff und fällt in hohem Bogen in
den Fluss. „O weh, mein Herr", schreit der arme Mann entsetzt dem
Propheten Elisa zu, „o weh, dazu ist es entlehnt!" (Wie echt ist das! Über
ein geliehenes Buch schüttet man den Inhalt der Kaffeetasse. Der geliehene
Schirm knickt uns um!)
Schweigend schneidet Elisa ein Holz, stößt es an der
Unglücksstelle ins Wasser. Da taucht das Eisen auf. Glückselig ergreift es der
Verlierer.
1. Vor 3000 Jahren war es so notwendig wie heute
Es ist eine wunderliche, ja befremdliche Geschichte. Und die
unerleuchteten Geister sind schnell bei der Hand: „Das ist eben eine alte
Sage."
Aber wir sollten lieber fragen: Warum hat es dem Heiligen
Geist gefallen, uns diese kleine Geschichte zu überliefern, wo doch nur die
wichtigsten Dinge in der knappsten Form in der Bibel erzählt werden?
Darauf können wir antworten: Diese Geschichte von der
verlorenen und wiedergefundenen Axt zeigt, dass Gott die kleinen Nöte der armen
Leute ernst nimmt. Das ist für uns Menschen von heute ein sehr großer Trost.
Unser Leben ist ja ausgefüllt mit lauter so kleinen Nöten und
Widerwärtigkeiten. Und ich bin sehr froh, dass ich in dieser Geschichte
erfahre: Ich muss meine Alltagsnöte nicht allein ausfechten.
Er, der Herr, ist vorhanden, der mich darin ernst nimmt und der mir mit großem
Erbarmen beisteht.
Aber ist nun damit wirklich der Sinn dieser Geschichte
erschöpft? Ich habe immer das Gefühl gehabt, sie wolle noch mehr sagen. Und
darum habe ich mich im Geist neben den Mann gesetzt, der dort seine Axt in den
Fluten versinken sah. Und nun sehe ich es auf einmal auch versinken: nicht
eine Axt nur, sondern viel Wertvolleres. Ich sehe, wie die Jugend meines Volkes
versinkt in Nihilismus und entsetzlichem geistigen und geistlichen Tod. Ich
sehe sie versinken in dunklen Unehrlichkeiten und sexuellem Schmutz. Ich sehe
alte Menschen versinken in völliger Verzweiflung. Ich sehe Christenleute, deren
geistliches Leben hoffnungslos versinkt in den Fluten der täglichen Sorgen
oder in den glitzernden Wellen eines verweltlichten Lebens.
Ich sehe Gebetsleben versinken, weil man Gott doch nicht
mehr traut. Ich sehe Reinheit untergehen, weil man des Kampfes müde geworden
ist. Ich sehe die Liebe versinken, weil der Kampf ums Dasein uns zu Raubtieren
macht. Alles, alles reißt der grausame Strom des Lebens hinweg. Und ich rufe
mit jenem Mann: „O weh, mein Herr!"
Und dann erlebe ich es wieder, wie der Elisa jenes seltsame
Holz in das Wasser stößt, welches das Eisen auftauchen lässt. Und ich frage:
Gibt es denn nicht auch so ein Wunderholz für Menschenseelen, das sie
herausholt aus den Tiefen?
Ja, es muss so ein Wunderholz geben. Denn Menschenseelen
sind unserm Gott doch ebenso wertvoll wie das Eisen einer Axt, ja, viel
wertvoller.
2. Vor 2000 Jahren wurde es wirksam
Ihr ahnt, wo ich hinaus will. Es gibt solch ein Wunderholz,
das die Menschenseelen aus den Tiefen des Lebensstromes herausholt. Das ist das
Kreuz auf Golgatha, das Kreuz, an dem der Sohn Gottes hing.
Vor 2000 Jahren wurde es hineingestoßen in den flutenden
Strom der Menschenwelt. Und in dem Augenblick, als das geschah, ereignete sich
etwas Wunderbares: Sinkende Menschenseelen tauchten auf. Da war der Schacher.
Ich denke, sein Leben hat sich ganz folgerichtig entwickelt: üble Erbanlagen,
keine rechte Erziehung, schlechte Gesellschaft — so sank er, bis er ein
Verbrecher war — bis er gerichtet am Kreuz hing. So musste er weitersinken bis
in die Hölle. Denn:
„Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Was der
Mensch säet, das wird er ernten." (Galater 6, 7). Aber dann steht neben
ihm das Kreuz des Heilandes. Er sieht und glaubt und ruft an. Und — das Sinken
ist zu Ende. Er steigt auf. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein",
verheißt Jesus ihm. O das Wunderholz des Kreuzes! Da ist der römische
Hauptmann. Man hat bisher nichts Besonderes von ihm gehört. Also war er wohl
wie alle, versunken in Roheit, Heidentum, Selbstsucht. Eiskalt sah er den grässlichen
Hinrichtungen zu.
Aber er steht unter Jesu Kreuz. Das beweist sich wieder als
das Wunderholz. Auf einmal taucht die versunkene Seele an das Licht: Der Mann
gibt Laufbahn und Ehre und alles preis und bekennt laut die Wahrheit: „Dieser
ist Gottes Sohn!"
Und da war der Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. Ach,
was sollte dieser große Titel! Er war ein ängstlicher Mann, versunken in
Menschenfurcht und Respekt vor der öffentlichen Meinung. — Und dann steht er
unter Jesu Kreuz. Da taucht die versunkene Seele auf. „Er wagte es und ging zu
Pilatus und bat um den Leichnam Jesu." Ein unerschrockener Mann, der die
Menschenfurcht hinter sich gelassen hat.
Und da ist der junge Pharisäer Saulus. Ein Fanatiker! „Er
schnaubte mit Drohen und Morden..." Fanatiker sind schrecklich und müssen
wie Amokläufer ihren Weg zu Ende rasen. — Aber nicht so Saulus! Der Gekreuzigte
begegnet ihm. Da erwacht die Seele zur Nüchternheit und Klarheit. Und er wird
ein Segen für die Welt.
3. Heute noch beweist es seine Kraft
Jawohl, das Wunderholz des Kreuzes Christi wird auch heute
noch hineingestoßen in den Menschenstrom. Ununterbrochen bringt es versunkene
Seelen an das Licht. Ich kenne einen noch jungen Mann in guten Verhältnissen.
Der kam einst mit einem Saufkumpanen als verkommener Landstreicher in das Haus
eines Christen. Der Kumpan zog weiter. Ihn aber hielt das Zeugnis vom
gekreuzigten Heiland. Die Liebe dieses Heilandes brachte seine Seele an das
Licht. Und heute ist er für sehr viele ein großer Segen. Aber ich möchte euch
noch auf einen besonderen Zug der Text-geschichte aufmerksam machen:
Das Wunderholz brachte das Eisen gegen die Gesetze der Natur
zum Schwimmen. Das ist auch die eigenartige Kraft des neutestamentlichen
Wunderholzes, dass es die Natur überwindet.
Nur eins von
vielen Beispielen: C. H. Spurgeon war ein schüchterner junger Mann voller
Hemmungen. Als er unter Jesu Kreuz die Rettung gefunden hatte, wurde er der
unerschrockene und offene Zeuge der Wahrheit, unter dessen Kanzel Tausende
saßen. Das Kreuz überwand die Natur.
Unter Jesu Kreuz werden die Oberflächlichen besinnlich, die
Unkeuschen lieben die Reinheit und werden empfindlich gegen den Schmutz. Die
Lügner ringen um Wahrheit, die Hartherzigen werden barmherzig. Und wenn ihr mit
mir überzeugt seid, dass unsere Natur uns in die Hölle bringt, dann lasst uns
unter Jesu Kreuz gehen!
„Da aber Elisa gestorben war und man ihn begraben hatte,
fielen die Kriegsleute der Moabiter ins Land desselben Jahrs. Und es begab
sich, dass man einen Mann begrub; da sie aber die Kriegsleute sahen, warfen sie
den Mann in Elisas Grab. Und da er hinabkam und die Gebeine Elisas berührte,
ward er lebendig und trat auf seine Füße."
2. Könige 13, 20-21
In Südamerika gibt es gewaltige Urwälder. Kühne Forscher
sind dort eingedrungen trotz der Bedrohung durch wilde Tiere, Fieber und
Giftpfeile der Eingeborenen. Völlig unvermutet fanden sie mitten in den tiefen
Wäldern eine große Stadt. Die Menschen, die sie gebaut hatten, waren längst
gestorben. Das Volk, das hier einst geblüht hatte, war untergegangen. Verlassen
war die Stadt. Aber als die Forscher dorthin kamen, staunten sie über die
gewaltigen Bauten und über die dort vorhandenen Schätze.
So kommt mir oft das Alte Testament vor. Ein Urwald von
Unkenntnis und Missverstand hat sich um dies Buch gelagert. Gelehrte und
Törichte haben dagegen geeifert. Die breiten Straßen unseres Jahrhunderts
gehen längst daran vorbei.
Wer aber trotzdem dort eindringt, der findet in dem Alten
Testament die herrlichsten Schätze und die lauterste Wahrheit. Möchten wir das
auch jetzt erleben bei der Betrachtung unseres seltsamen Textes. Wir
überschreiben ihn:
1. Der tote Prophet
Was wird denn hier im 2. Königsbuch erzählt?
Langsam bewegte sich ein feierlicher Leichenzug durch die
Felder. Plötzlich gab es eine Stockung. Aufgeregte Flüchtlinge rannten vorüber
und schrieen: „Die Moabiter kommen!" Die Leidtragenden wussten sofort
Bescheid: Seitdem man in Israel den Herrn verlassen hatte, gab es keinen
Frieden mehr. Beständig kamen die Streifscharen der heidnischen Völker über die
Grenzen und brandschatzten das unglückliche Land.
„Was tun?" fragten nun bei der Beerdigung die
erschrockenen Leute. Schon tauchten am Horizont die Moabiter auf. Da war es
aus. Der Leichenzug löste sich auf. Jeder rannte davon. Verlassen standen die
Träger mit der Bahre, auf welche der Leichnam lag. Die braven Männer wollten
die Leiche nicht einfach unbegraben stehen lassen. Einer wusste Rat. Er zeigte
auf eine Felswand: „Drüben ist ein Grab! Da haben wir vor kurzem den Propheten
Elisa beigesetzt!"
Schnell rannte man dorthin. Die Felsplatte, die das Grab
verschloss, flog beiseite. Und recht unfeierlich kippte man den Toten in die
Grabhöhle. Der rollte hinein, bis er neben der Leiche des Elisa lag.
Aber nun geschah etwas, was die Träger plötzlich erstarren
ließ. Kaum hatte der Tote die Leiche des Elisa berührt, da war es, als fahre
ein Lebensfunke in ihn. Er bewegte sich. Taumelnd erhob er sich. Die Träger
rannten davon, von doppeltem Schrecken gejagt — und hinter ihnen her lief der
Mann, der von den Toten erstanden war.
In der Tat — eine wunderbare Geschichte! Die Gelehrten sind
schnell bei der Hand: „Das sind alte Sagen!" Nun, der Herr Jesus ist
anderer Meinung. Er sagt: „Die Schrift zeugt von mir." Jawohl, auch in
dieser seltsamen Geschichte treibt der Heilige Geist Kreuzes-Unterricht.
2. Jesu, meines Todes Tod
Ich bin überzeugt: Diese Geschichte will uns nicht das ganze
Geheimnis des Kreuzes enthüllen, sondern sie will eine einzige Wahrheit über
das Kreuz Christi einprägen. Und diese einzige Wahrheit heißt: Die Berührung
mit Jesu Kreuz macht die Toten lebendig.
Nun muss ich aber zuerst erklären, was denn die Bibel unter
„Toten" versteht.
Seht, in der Schöpfungsgeschichte heißt es: „Gott blies dem
Menschen den lebendigen Odem ein." Der Mensch war göttlichen Geschlechtes.
Gottes Leben war in ihm.
„War" — sage ich. Denn durch den Sündenfall wurde das
total anders. Der Gottesfunke erstarb, das Gotteslicht erlosch. Und nun ist
der natürliche Mensch tot: tot in Sünden, tot für Gott. Er kann Gott nicht
erkennen. Er kann nicht beten. Er kann nicht glauben. Er bildet sich ein, er
sei gut; aber seine Werke sind böse. Er steht unter Gottes Zorn und Gericht;
aber er fürchtet sich davor nicht. Das ist der Mensch: Er rennt herum, spielt
Fußball, geht ins Kino, lacht, weint, sorgt sich, schafft — und ist für Gott
und vor Gott tot.
Aber nun gibt es eine einzige Stelle, durch die wir
geistlich lebendig werden können: Jesu Kreuz.
Wie das geschieht, das will ich deutlich machen an unserer
Textgeschichte. Da wurde dieser Tote in das Grab des Elisa geworfen. Er war
gleichsam mit Elisa zusammen tot und mit Elisa zusammen begraben. Und davon
wurde er lebendig.
Elisa ist ein Vorbild auf Jesus. Eine Berührung mit dem
Kreuz bedeutet also: Ich muss mit Jesus zusammen sterben, mit Jesus begraben
sein. Und in der Tat spricht die Bibel so von dem eigentlichen christlichen
Erlebnis: Ich erkenne an, dass der Tod, der Jesus traf, eigentlich mir zusteht.
Ich müsste rufen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!" Ich habe
Gottes ganzen Zorn verdient. Dies erkenne ich unter Jesu Kreuz an.
Ich lasse mich mit Jesus begraben. Das heißt: Ich erkenne
an, dass mein altes Gott-loses Leben nichts wert ist. Ich lege es hinein in Jesu
Grab.
Und seht: Indem ich so mein Leben mit Jesus in den Tod gebe,
indem ich mich mit Jesus an das Kreuz hänge und in das Grab lege, geschieht
es, dass ein neues Leben aus Gott in mir aufwacht. Wie der Tote, der mit Elisa
im Grab lag, lebendig wurde, so wache ich aus der Begegnung mit dem Kreuz auf
zu einem neuen Leben aus Gott.
Lasst mich ein Beispiel berichten, wie ein Mann durch
Berührung mit Jesu Sterben geistlich lebendig wurde:
Der gesegnete D. Le Seur erzählt, wie er im Berliner CVJM
eine Bibelstunde über Jesu Passion hörte. Er berichtet: „Die große, selige
Wahrheit: Jesus starb für mich! traf in mein Gewissen hinein. Ich lief in den
Tiergarten, aufs tiefste erschüttert. Mir war klar: Entweder muss man dieser
unfassbaren Güte Gottes ein Nein entgegen-schleudern und dann alle Folgen
tragen, — oder man kann nicht anders, als dem, der das getan hat, sein Leben
hinzugeben." Le Seur erwählte das zweite. Und er bekannte vierzig Jahre
später: „Das Eine ist mir geblieben und wird mir bleiben bis zur Stunde des
Todes, ja des Gerichtes — die leuchtende, selige Gewissheit: Jesus starb für
mich!"
3. Sein Tod — nicht das Ende
Elisa war ein einsamer Mann gewesen. Volk und König hatten
den treuen Zeugen Gottes gehasst. Und als er starb, war man sicher froh: „Nun
ist es mit ihm zu Ende." Aber in unsrer Geschichte erlebt man: Sein Tod
ist noch nicht das Ende.
Welch ein Hinweis auf Jesus! Welt und Hölle triumphierten,
als Er das Haupt neigte und verschied. Aber schon ist der Mann da, der durch
Seinen Tod lebendig wird: Der römische Hauptmann bekennt laut seinen Glauben an
Jesus.
Ich las vor kurzem eine interessante Geschichte des
römischen Kaiserreichs. Jeder neue Cäsar ließ sich auf den Münzen feiern als
„Hoffnung der Welt", als „Friedensbringer". Alle aber gingen unter
in Blut und Mord. Und mit ihnen versank das römische Imperium. Doch über den
Trümmern erhob sich der Gekreuzigte. Lebensströme gehen von_ Seinem Kreuze aus
— bis auf diesen Tag. Und Millionen huldigen Ihm, dem Gekreuzigten, als dem
„Friedensbringer" und der „einzigen Hoffnung der Welt". Sein Tod war
nicht das Ende, sondern der Anfang. Auch in meinem Leben.
„Aaron aber und seine Söhne waren im Amt, anzuzünden auf dem
Altar... und zu versöhnen mit Israel, wie Mose, der Knecht Gottes, geboten
hatte."
1. Chronik 6, 34
Vor kurzem las ich in einer Kunstbetrachtung einer großen
Tageszeitung den Satz: „Wir leben in einem Zeitalter, das sich planmäßig vom
Schöpfergott absetzt."
Alte Soldaten verstehen diesen Kriegsausdruck. Wenn man
einem Gegner nicht mehr standhalten kann oder will, dann „setzt man sich
ab", d. h. man legt einen großen Raum zwischen sich und den Feind.
Jawohl, so hat es unsere Zeit mit Gott gemacht; sie hat Ihn
als Störenfried und Feind empfunden und sich planmäßig abgesetzt von Ihm.
Das ist nichts Neues. Es war schon so vor 3000 Jahren, als
unser Textwort geschrieben wurde. Die Völker der Erde hatten sich vom
lebendigen Gott abgesetzt.
Doch mitten in dieser Situation gab es ein Israel, ein Volk
Gottes. Und von dem heißt es: Aaron aber war im Amt, zu versöhnen Israel."
Dies Israel hatte sich nicht abgesetzt von Gott. Im Gegenteil, diese Leute
waren mit Gott versöhnt und darum Kinder Gottes. Solch ein Volk Gottes gibt es
auch heute. Es hat eine andere Lebensrichtung als die ganze Welt ringsum.
Während die Welt immer mehr und immer planmäßiger von Gott weggeht, sucht dies
Volk Gottes seinen Hohenpriester und in Ihm die Versöhnung mit Gott. Davon
lasst uns reden!
1. Ohne Versöhnung ist kein Weg zu Gott
Seit die Menschen sich planmäßig von Gott abgesetzt haben,
können sie auch ganz gemütlich und harmlos von Ihm reden. Genau so, wie am Ende
des letzten Krieges die „Werwölfe", mit Spazierstöcken bewaffnet, den
Feind nicht fürchteten — bis seine Panzer da waren. Da war der Mut verflogen.
So geht es auch mit Gott. Erst wenn ein moderner Mensch in
die Nähe Gottes kommt, dann merkt er: „Unser Gott ist ein verzehrendes
Feuer." Da wird es unheimlich.
Vor ein paar Tagen kam ich ins Gespräch mit einem Manne und
sagte ihm dabei ein Wort Gottes. Aber darauf winkte er erschrocken ab und
erwiderte: „Damit kann ich mich nicht befassen! Ich habe ein paar
Evangelisationsversammlungen besucht, und davon bekam ich einen
Nervenzusammenbruch. Nun hat mir der Arzt jeden religiösen Gedanken
verboten." Der Mann war in die Nähe des „verzehrenden Feuers"
geraten, wo die Nerven wohl erschüttert werden können. Noch ein anderes
Beispiel: Mein Vater erzählte uns einst, wie er eine todkranke Frau besuchte.
Kaum hatte er das Zimmer betreten, als die Frau erregt abwinkte. Auf die Frage
meines Vaters nach dem Grunde erklärte sie: „Die Pfarrer jagen einen immer so
rum!" Diese Frau hatte begriffen, dass Gott sehr beunruhigend ist. Da hat
sich nun
mein Vater an ihr Bett gesetzt und hat ihr erzählt, dass es
eine Versöhnung mit Gott gibt und dass man Frieden mit Gott finden kann. Und
bei dieser Botschaft hat sie begierig aufgehorcht. Das ist es: Kein Mensch hält
es ungeschützt aus bei dem lebendigen Gott, dem verzehrenden Feuer. Darum kann
man schon verstehen, dass die Menschen sich von Ihm absetzen. Aber das ist
Wahnsinn. Gott trifft uns ja doch eines Tages. Die Bibel zeigt den besseren
Weg: Versöhnung mit Gott.
Also: Wer Gott wirklich will, der braucht Versöhnung! Das
hebräische Wort, das in unserem Text steht, heißt „kafar". Das bedeutet
zunächst „bedecken", dann „vergeben", und schließlich hat es die
Bedeutung „versöhnen". Daraus wird uns klar, warum eine Versöhnung nötig
ist: um unserer Schuld vor Gott willen. Betrügt doch eure Seelen nicht, dass
ihr euch einredet, ihr hättet vor Gott keine Schuld. Diese Schuld muss
„bedeckt" werden, wir müssen „Vergebung" der Sünden haben. Und so
geschieht die „Versöhnung" mit Gott.
2. Der Hohepriester und das Opfer
Unser Textwort stammt aus einem Kapitel, in dem uns die Gemeinde
des Alten Testaments vor die Augen gestellt wird. Und da heißt es: „Aaron aber
und seine Söhne hatten das Amt... zu versöhnen Israel, wie Mose, der Knecht
Gottes, geboten hatte." O seliges Volk Gottes, das solch einen
bevollmächtigten Hohenpriester hatte! Nun, wir haben einen noch besseren und
mächtigeren Hohenpriester: Es ist der Sohn Gottes, der Herr Jesus selbst. dass
wir doch nicht so verblendet wären wie die Leute, die am ersten Karfreitag die
Straße nach Golgatha umsäumten und ihren Hohenpriester nicht erkannten! Wie
sie damals, so meinen heute noch viele fälschlich, Er sei ein Volksverführer.
Andere sehen in Ihm einen religiösen Schwärmer, die Dritten einen armen
Idealisten, der scheiterte, wie alle Idealisten seit Anfang der Welt.
Israel aber, die wahre Gemeinde, erkennt: Er ist der
bevollmächtigte Hohepriester Gottes. Lasst uns mit Ihm gehen auf Seinem
Opfergang! Jetzt steigt Er den Hügel Golgatha hinauf. Nun steht Er oben: „Aaron
aber stand im Amt, zu versöhnen..." Ein Opfer braucht unser großer
Hoherpriester, ein fehlloses, ewiggültiges Opfer. Wo ist das Lamm, das Ihm
angemessen wäre? O seht, da legt Er sich selbst auf den Altar des Kreuzes, Er
opfert sich selbst! „Siehe, da ist Gottes Lamm!" (Johannes 1,
29). Er ist Hohenpriester und Opfer zugleich. Welch eine herrliche Versöhnung!
Nun muss ich für denkende Leute noch etwas Wichtiges
klarstellen. Man hat mir oft gesagt: Diese ganze Vorstellung von der Versöhnung
ist ja Gottes unwürdig; denn die Heiden stellen sich — so sagt man — die Götter
wie böse Mächte vor, die durch Opfer freundlich gestimmt werden müssen. Aber es
ist doch — so sagt man — ein unmöglicher Gedanke, dass Gott durch das Opfer
Seines Sohnes freundlich gestimmt werden soll!
Welches
Missverständnis! Es zeigt sich da wieder: „Der natürliche Mensch vernimmt
nichts vom Geiste Gottes." Die Sache ist doch so: Das Opfer Jesu ist ja
nicht unser Opfer, mit dem wir Gott besänftigen. Es ist vielmehr ein
Gnadengeschenk Gottes. Gott opfert Seinen Sohn. Um Seiner Gerechtigkeit willen.
Die Institution der Versöhnung aber kommt aus Gottes Liebe. Seine
Gerechtigkeit erfordert das Gericht über die Sünde. Seine Liebe aber kommt der
Gerechtigkeit zuvor und opfert den Sohn als Bürgen. So ist es: Im Versöhnungsopfer
Jesu ist die Liebe Gottes gleichsam der Gerechtigkeit Gottes zuvorgelaufen und
hat eine Versöhnung geschaffen, ehe der Zorn Gottes über uns kam. Durch die
Versöhnung entgehe ich der Offenbarung Seines Zornes und werde aufgenommen in
den Bund mit Gott.
3. Friede mit Gott durch Jesus allein
Einst hat ein katholischer Priester mein Buch über die
Heimkehr des „verlorenen Sohnes" gelesen. Nachher sagte er mir: „Genauso
würden wir in einer Volksmission auch reden. Nur da, wo Sie raten: Nun geh zu
Jesus! — da sagen wir: Nun geh in den Beichtstuhl. " — Ich fragte: „Muss
man denn nicht zu Jesus kommen?" Darauf erwiderte er: „Sicher! Aber — das
werden doch nur die Auserwählten begreifen. Sie sind unbarmherzig mit der
großen Masse, der doch auch in irgendeiner Weise geholfen werden muss."
Was sollen wir dazu sagen? Gott gebe, dass wir alle zu den Auserwählten
gehören, die es begreifen: „Jesus ist unser großer Hoherpriester, der uns durch
Sein Blut mit Gott versöhnt. Darum wollen wir zu Ihm gehen und Frieden mit Gott
finden."
Es gibt keinen anderen, keinen schwierigeren und keinen
bequemeren Weg, als dass man wirklich ernst macht mit Jesus und sich Ihm
ausliefert.
Ihr werdet es nicht bereuen. Versöhnung! Frieden mit Gott
für Zeit und Ewigkeit — im Leben und Sterben! Ich weiß nichts Größeres. Ein
Missionar erzählte uns von einem reichen Hindu, der Frieden suchte. Er badete
sich im heiligen Fluss, er machte mühselige Wallfahrten — sein Herz blieb ohne
Frieden. Bis ihm ein Missionar das
Kreuz zeigte. Da jubelte er: „Ich habe die Botschaft
geschlürft wie Honig. Nun bin ich am Ziel aller Sehnsucht."
„Also gab Ornan David den Platz um Gold... Und David baute
daselbst dem Herrn einen Altar und opferte Brandopfer. Und da er den Herrn
anrief, erhörte er ihn durch das Feuer vom Himmel... und der Herr sprach zum
Engel, dass er sein Schwert in seine Scheide kehrte."
1. Chronik 21, 25-27
Gott hat es mir geschenkt, dass ich in meinem Leben viele
Reisen machen durfte. Dabei habe ich manche Grenze überschritten. Das war für
mich jedes mal ein erregender Augenblick. Unvergesslich ist mir, wie ich das
zum erstenmal erlebte. Ich war noch ein kleiner Junge und machte mit meinem
Vater eine Wanderung durchs Elsaß. Auf dem einsamen Vogesen-Kamm sah ich den
ersten Grenzstein. Mir klopfte das Herz, als ich mit einem Schritt in
Frankreich stand. Schließlich gewöhnte ich mich an die aufregende Sache und
machte mir den Spaß, mit einem Bein in meinem Vaterland und mit dem ändern im
Ausland zu stehen.
Ihr ahnt gewiss, dass wir heute von Grenzsteinen reden
wollen. Nein! Nicht von Steinen! Sondern von einem einzigen, von dem wichtigsten,
den es überhaupt gibt.
Wisst ihr, welches der bedeutendste Grenzstein der Welt ist?
Es ist das Kreuz Jesu Christi von Golgatha.
1. Die unheimliche alte Geschichte einer Grenze
Da wird uns im Alten Testament berichtet, wie in Israel die
Pest wütete. Man kann solch eine Seuche natürlich so ansehen, dass man von
Bazillen redet und von hygienischen Maßnahmen. Das hat gewiss seine
Berechtigung.
Die Bibel aber zeigt uns die Hintergründe: Der Zorn des
heiligen Gottes lag über Israel. Der schreckliche Engel des Gerichtes ging
durch das Land. Ob es wohl derselbe gewaltige Gottesbote war, der einst in
Ägypten die Erstgeburten erwürgte?
Wir wollen jetzt nicht weiter die Ursachen betrachten, die
zu diesem Gottesgericht über Israel geführt haben. Es ist genug, wenn wir hier
lernen, dass es das gibt: Zorn und Gericht Gottes. Wenn unsere Zeit nicht so
unheimlich verstockt wäre, müsste sie ja hellhörig geworden sein für solch ein
Bibelwort: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der
Mensch säet, das wird er ernten." (Galater 6, 7). Luther hat ganz recht,
wenn er in dem Katechismus sagt: „...darum sollen wir uns fürchten vor Seinem
Zorn."
Als ein Prediger einst einen Mann einlud, sonntags doch
Gottes Wort zu hören, sagte der lächelnd: „Ich bringe die Sonntage immer mit
dem Abschließen meiner Rechnungen zu." Ernst erwiderte der Prediger:
„Mein Herr, Sie werden finden, dass der Tag des Gerichts auf ganz gleiche Weise
zugebracht wird."
Wir haben eine Antenne, mit der wir diesen Zorn Gottes jetzt
schon spüren können. Das ist das Gewissen. Wohl uns, wenn unser Gewissen
erweckt wird! Der große Prediger Spurgeon berichtet, dass er das erste innere
Aufwachen als Junge durch ein Wort seiner Mutter erlebte, die ihn mahnte:
„Charles, wenn du verloren gehen solltest, dann muss ich am Tage des Gerichts
zu Gott sagen: Herr, Deine Gerichte sind gerecht und wahrhaftig!"
Aber kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Da verwüstete
also die Pest das Land, bis der Augenblick kam, wo Gott zu dem Engel sagte: „Es
ist genug!" Der Engel stand bei der Tenne Ornans, des Jebusiters. Es ist
ein ergreifender Bericht, wie nun der König David dahinlief und den
schrecklichen Engel zwischen Himmel und Erde stehen sah mit dem Schwert in der
Hand, wie er dem Ornan schnell die Tenne abkaufte, einen Altar errichtete und
zum Herrn schrie. Da fiel Feuer vom Himmel als Zeichen, dass die Plage hier ein
Ende gefunden hatte.
Der Altar markierte eine Grenze: Bis hierher ging der Zorn
Gottes. Aber hier eben fand er sein Ende. Auf der ändern Seite des Altars waren
Friede und Leben.
2. Das Kreuz, die entscheidende Grenze
Damit wird dieser Altar zu einem Vorbild für das Kreuz Jesu
Christi
auf Golgatha.
Achtet darauf, dass ein Altar die Grenze war zwischen dem
Reich des Zorns und dem Reich der Gnade. Alle Gottesaltäre des Alten Testaments
aber sind Hinweise auf den einen Altar, auf dem geopfert wurde „Gottes Lamm, welches
der Welt Sünde trägt" — auf das Kreuz. Das Kreuz Jesu ist die Grenze
zwischen der Welt, die unter Gottes Gerichtszorn steht, und dem Reich der
himmlischen Gnade.
Achtet ferner darauf, dass dieser Altar von Gott selbst
durch Feuer vom Himmel legitimiert wurde. Auch das Opfer Jesu wurde so von Gott
anerkannt — und zwar durch die Auferweckung Jesu von den Toten. Damit hat Er
deutlich gemacht, dass das Opfer Jesu Ihm wohlgefällig sei und die Grenze
Seines Zorns darstelle. So ist also das Kreuz die Grenze. Wer noch nicht durch
eine gänzliche Hinwendung zum gekreuzigten Heiland gekommen ist, steht unter
dem Zorn Gottes. Welch ein gefährlicher Stand! Wenn wir doch die Menschen
warnen könnten!
Wer aber im Glauben zum gekreuzigten Herrn Jesus kommt, ist
eingetreten in das Reich der Gnade. Das ist ein herrliches und liebliches
Reich! Da ist Friede und Freude im Heiligen Geist! Da ist Leben und Seligkeit!
Da hat man Gott zum Vater. Man geht mit Ihm um und freut sich, einst ganz bei
Ihm zu sein.
Es darf jeder diese Grenze überschreiten. Sie steht für alle
offen. Der Schacher ging am Karfreitag hinüber. Und der Hauptmann unter dem
Kreuze auch.
Einigen unter uns aber muss ich dies zur Warnung sagen: Man
kann es mit diesem Grenzstein nicht machen, wie ich es als Junge mit dem
Grenzstein in den Vogesen tat, dass ich nämlich halb diesseits und halb
jenseits stand. So wollen manche in der Welt des Zornes Gottes und zugleich im
Reich der Gnade leben. Das geht nicht. Wir sind entweder hier oder dort.
Haben wir es ganz gefasst: Das Kreuz Jesu ist die Grenze
zwischen dem Reich des Zornes Gottes und dem Reich der Gnade. Wir Menschen
wollen nämlich gern eine andere Grenze aufstellen. Da sagt einer: „Ich bin doch
ein guter Mensch. Wie sollte Gott mir zürnen!" O Freunde, im Reich des
Zornes sind sogenannte „gute Menschen" und offenbare Sünder. Im Reich der
Gnade aber sind mit Gott versöhnte Leute. Nur das Kreuz ist die Grenze! Denkt
auch nicht, dass man sich mit einem unbekehrten Herzen etwa auf seine
Kindertaufe berufen könnte! Der Glaubensschritt zum Kreuz kann durch nichts
ersetzt werden.
Es muss auch noch darauf hingewiesen werden: Wir haben in
unserer Zeit viele Grenzveränderungen erlebt. Die Grenze aber zwischen dem
Reich des Verlorenseins und dem Reich der Gnade ist ewig unverrückbar. Die hat
Gott gesetzt.
3. Die Flucht über die Grenze
Ich las einmal einen Bericht, wie ein Mann in der Zeit des
Dritten Reiches von der Gestapo gehetzt wurde. Er floh. Die Angst jagte ihn.
Was war das für eine Stunde, als er in einer dunklen Nacht die Schweizer Grenze
überschritt! Als die Sonne aufging, war er in der Freiheit. „Gerettet!"
sagte er nur immer wieder vor sich hin, als er auf der anderen Seite des
Grenzsteines stand.
So geht es den Leuten, die zu Jesu Kreuz gekommen sind.
Vorher fühlten sie im Gewissen den Zorn Gottes über ihre Sünde stärker und
stärker. Doch war keine Kraft da, anders zu werden. So war ihr Herz nur voll
Angst und Unruhe. Vor dem Worte Gottes flohen sie. Denn es schien ihnen lauter
Drohungen zu enthalten. Bis sie an den Grenzstein kamen. Zinzendorf singt: „Ich
bin durch manche Zeiten, / ja auch durch Ewigkeiten / in meinem Geist gereist.
/ Nichts hat mir's Herz genommen, / als da ich angekommen / auf Golgatha. Gott
sei gepreist!"
„Gott hat Christus vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch
den Glauben in seinem Blut."
Römer 3, 25
Auf einer meiner Fahrten sah ich irgendwo eine zerstörte
Kirche. Eingestürzt waren die Mauern, verbrannt Orgel und Altäre. Nur ein
riesiges Steinkruzifix überragte die Trümmer. Es geht einem ja manchmal so,
dass man ein Bild flüchtig aufnimmt. Und erst später merkt man, dass es sich im
Bewusstsein festgesetzt und als bedeutsam erwiesen hat.
So ging es mir mit diesem Kreuzesbild über den Trümmern.
Welch ein großartiges Symbol ist das! Die ganze Erde ist ja im Grunde ein
großes Trümmerfeld. Wie viel Kulturen, Städte, Länder und Völker sind
untergegangen! Wie viel Firmen, die einst einen großen Namen hatten, haben
ihren Bankrott erlebt! Wie viel Weltanschauungen und Religionen, die einst die
Menschen fanatisch hoffen und glauben hießen, sind verschwunden, zertrümmert,
vergangen! Aber über den Trümmern ragt unversehrt das Kreuz Christi als das
einzige Heilszeichen. Gott schenke uns einen hellen Blick auf dies Kreuz! Wir
lassen es uns wieder deuten durch eines der Vorbilder, die wir im Alten
Testament finden.
1. Der Mittelpunkt der Gemeinde
Welch packende Bilder hat doch die Bibel! Wenn sie z. B. das
Wesen der Kinder dieser Welt ohne Gott darstellen will, spricht sie von ihnen
als von „Schafen, die verirrt und auf den Bergen zerstreut sind".
Wenn sie aber die Gemeinde des Herrn schildern will, zeigt
sie ein ganz anderes Bild: Israel zieht aus Ägypten, errettet durch eine gewaltige
Tat Gottes. Es zieht wohl durch eine schreckliche Wüste, bedroht von tausend
Nöten und Gefahren. Aber der Herr selbst geht mit in der Wolkensäule. Und vor
dem Volk Gottes leuchtet das Ziel, das herrliche Kanaan.
Ich weiß kein schöneres Bild für die Gemeinde Jesu auch in
unsern Tagen.
In 4. Mose 24 wird uns erzählt, wie der moabitische König
Balak mit großem Gefolge auf dem Berge Peor steht und auf Israels Lager
hinabsieht.
Was stellte sich seinen Augen dar? Er sah die Stämme
Israels, gelagert im Kreis um einen Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt war ein
großes Zelt, ein transportabler Tempel, die „Stiftshütte". Schneeweiße
Leinwand umschloss einen weiten Vorhof. Große Vorhänge führten in die
leuchtende Pracht des Heiligtums. Jeder Israelit aber wusste, was Balak nicht
sah, dass der eigentliche Mittelpunkt im „Allerheiligsten" war. Hier stand
die Bundeslade, ein länglicher Kasten, den ein massiv-goldener Deckel zudeckte.
Auf dieser Platte erhoben sich zwei gewaltige goldene Engelgestalten. Dieser
goldene Deckel hieß der „Gnadenstuhl". Hier war Gott gegenwärtig unter
Seinem Volke.
Wenn sie zogen, dann wurde die Bundeslade von Priestern an
Stangen getragen. Hoch ragte inmitten des Volkes der Gnadenstuhl. Wenn sie
sich lagerten, bauten sie ihre Zelte um diesen Gnadenstuhl auf.
Nicht der gewaltige Führer Mose hielt das Volk zusammen. Es
waren auch nicht die gemeinsamen Interessen, welche die Leute verbanden. Der
Gnadenstuhl war der Mittelpunkt, um den Israel sich sammelte.
Das heißt: Die Gemeinde des Neuen Bundes lagert sich um das
Kreuz. Das Kreuz hält die Gemeinde zusammen. Das Kreuz ist ihr Panier.
Das ist eigentlich verwunderlich und der Vernunft unfassbar.
Die Vernunft sagt: „Das Kreuz Jesu ist doch eine einmalige geschichtliche
Tatsache. Es ist längst vermodert." Der Glaube aber weiß: Dieses Kreuz hat
eine überzeitliche Gegenwärtigkeit. Und wo rechte Christen sind, sind sie um
das Kreuz gelagert.
2. Die Wohnung Gottes unter Menschenkindern
Wir müssen die Frage aufwerfen: Wo wohnt Gott? Ein
schlichtes Gemüt zeigt auf eine Kirche und sagt: „Das ist Gottes Haus."
Wenn es so ist, kann man am Sonntag Gott in Seinem Hause besuchen und dann in
sein eigenes Haus zurückkehren und eine Woche lang gottlos leben. Da stimmt
doch etwas nicht. Ich kannte einen Mann, der war ein großer Jäger. Über seinem
Schreibtisch hing ein Wandspruch, der hatte etwa folgenden Inhalt: „Nicht in
dumpfen Kirchenhallen kann ich Gott begegnen. Nein, der Waldesdom ist Seine
herrliche, weite Wohnung." Das klang ja ganz nett. Aber ich habe mich doch
immer darüber gewundert, dass der Mann sich in seinem Gotteshaus damit
vergnügte, Gottes Kreaturen totzuschießen. Da stimmt doch auch etwas nicht!
Wo wohnt Gott? Salomo betete: „Aller Himmel Himmel vermögen
dich nicht zu fassen." Das ist die Wahrheit! Es gibt eine hübsche
Anekdote: Ein Spötter traf ein Kind. „Was machts du?" fragte er. Das Kind
antwortete: „Ich denke über Gott nach." Da zog der Atheist einen Apfel
heraus: „Den bekommst du, wenn du mir sagst, wo Gott ist." Da zog das Kind
zwei Äpfel heraus: „Die bekommst du, wenn du mir sagst, wo Gott nicht
ist." Ein kluges Kind!
Aber diese Allgegenwart verbirgt uns auch wieder Gott. Wo
können wir Ihn fassen? Wo in Sein Herz und Angesicht sehen? Wo können wir
Seine Hand ergreifen? So muss der fragen, dem es ernstlich um Gott zu tun ist.
Die Gemeinde in der Wüste wusste es: Dort ist der
Gnadenstuhl. Es hat Gott in Seiner Herablassung gefallen, ihn zu Seinem Thron
zu erwählen. Hier wohnt Er unter Menschenkindern.
„Gott hat Christus
vorgestellt zu einem Gnadenstuhl... in seinem Blut", jubelt die Gemeinde
des Neuen Bundes. Wir wissen, wo wir Gott finden, wo uns Sein Angesicht
leuchtet und wo Sein gnädiges Herz offenbar wird: im Kreuze Christi. Hier ist
Sein Thron, Seine Wohnung unter Menschenkindern.
3. Das Gerät, das zudeckt
„Gnadenstuhl" — die hebräische Bibel hat hier das Wort
„kapporet", d. h, wörtlich „ein Gerät, das zudeckt". Ja, was deckte
denn der Gnadenstuhl zu? Die Bundeslade! In der lagen die zwei steinernen
Tafeln, auf denen die Zehn Gebote standen.
Und nun kann ich nur weiterreden mit Leuten, die etwas
wissen von der Macht des unruhigen Gewissens. Man spricht heute so viel von der
Stumpfheit der Menschen. Schlimmer als die Stumpfheit der Herzen ist die
Stumpfheit der Gewissen. Warst du schon einmal beunruhigt darüber, wie wenig
dein Leben Gottes Geboten entspricht? O wie kann dies unwandelbare Gesetz
Gottes uns verklagen! Wie wird es gegen uns zeugen am Jüngsten Tage!
Wer um die Not des Gewissens weiß, der horcht auf bei der
Botschaft : Der Gnadenstuhl deckt das anklagende Gesetz zu. Das Kreuz Christi
bringt das anklagende Gesetz zum Schweigen. Jesus hat das Gesetz erfüllt bis
zum Tode. Seine Gerechtigkeit darf ich mir im Glauben aneignen. Das Gesetz
spricht mich vor Gott schuldig. Aber Christi Blut spricht mich Sünder frei.
„Kapporet", d. h. „das Gerät, das zudeckt". Es
steckt in dem hebräischen Wort ein geheimnisvoller Sinn. Es ist nicht nur
daran gedacht, dass die Bundeslade zugedeckt wird. Der Sinn ist tiefer: das
Gerät, das die Schuld zudeckt. Daher übersetzte die griechische Bibel:
„Sühnegerät". Das heißt: Meine Schuld wird hier zugedeckt, weil sie
gesühnt ist.
Wenn der Hohepriester vor dem Gnadenstuhl stand, sah er kaum
noch das Gold. Es war ganz bedeckt mit Blut. Hier wurde nämlich am
Versöhnungstage das Blut des Versöhnungsopfers ausgegossen. Und dies Blut
deckte Sünde und Schuld zu.
Das Kreuz Jesu ist unser Gnadenstuhl. Sieh dir Jesus am
Kreuze an! Da leuchtet nichts mehr vom Gold Seiner Herrlichkeit. Du siehst nur
das Blut. Das Blut, das zudeckt, was uns in die Hölle bringt. Das Blut, das
meine Sünde zudeckt. Wir singen oft im Jugendkreis: „Sein Kreuz bedeckt meine
Schuld, / sein Blut macht hell mich und rein."
O wie sehr kann Gott mir gnädig sein, wenn meine Schuld
zugedeckt
ist!
Wenn unser Gewissen erwacht ist, dann können wir in Zeit und
Ewigkeit nicht aufhören, den Gnadenstuhl des Kreuzes zu
preisen.
„Durch den Glauben hielt Mose Passah und das Blutgießen, auf
dass, der die Erstgeburten würgte, sie nicht träfe."
Hebräer 11, 28
Bei meinen Besuchen im Krankenhaus gab ich kürzlich einem
jungen Zechenbeamten ein Blatt, in dem das Kreuz Christi bezeugt wurde.
Als ich ihn am nächsten Tage wiedersah, sagte er: „Ich habe
das Blatt gelesen. Aber es kommt mir so seltsam weltfremd vor." Da fiel
mir das Wort eines modernen Dichters ein: „Die Welt des Christlichen ist uns
ferner als die Ammoniten der Kreidezeit."
So ist es in der Tat: Die Welt und die Gemeinde Jesu haben
sich auseinandergelebt. Was bedeutet schon der Welt das Leiden Jesu?! Den
Christen aber ist es die höchste Freude, sich mit dem Kreuze Christi zu
befassen.
Wir wollen es uns jetzt deuten und erläutern lassen von
einem seiner alttestamentlichen Vorbilder.
1. Das Passah-Lamm in der Geschichte
Wir gehen zurück in
graue Vorzeit. Es ist etwa um das Jahr ein-tausendvierhundert vor Christi
Geburt. Wir befinden uns in Ägypten, das damals durch seine hohe Kultur eine
Weltmacht war. Wir gehen nun nicht in das Königsschloss. Wir lassen auch die
großen Häuser der übermütigen Ägypter hinter uns und treten in eine armselige
Hütte am Rande der Stadt.
Da wohnen arme Leute aus der Gemeinde des Herrn im Alten
Bund, aus Israel. Man sieht ihnen an, dass sie schreckliche Jahre hinter sich
haben: Die Ägypter haben Gottes Volk furchtbar bedrückt und sind dabei vor
grauenvollen Morden nicht zurückgeschreckt.
Es ist Abend. Aber niemand hat sich in der Hütte zur Ruhe
gelegt, sondern hier herrscht eine wunderliche Betriebsamkeit. Es ist, als wenn
zwei ganz verschiedene Tätigkeiten durcheinander liefen: Die Hausmutter packt
den notwendigsten Hausrat in Bündel zusammen; sie rüstet ihre Kinder zu einer
großen Reise. Es sieht aus wie bei unsern Flüchtlingen, wenn sie sich auf die
Reise machen mussten. Der Hausvater aber ist beschäftigt, ein Lamm zu
schlachten. Er trifft alle Vorbereitungen zu einem Festmahl. Was ist da los?
Von Gott gesandt, hat Mose am Morgen das Volk des Herrn
zusammengerufen. Er hat ihnen gesagt: „Heute nacht wird Gott an den Ägyptern
ein schreckliches Zeichen tun. Er wird alle Erstgeburt schlagen. Dann werden
sie uns ausziehen lassen. Und wir werden in das Land ziehen, das Gott uns gibt,
in das Land, wo Milch und Honig fließt. Aber ehe ihr auszieht, soll jede
Familie das Passah-Lamm schlachten und essen."
Nun, wir wissen, wie die Israeliten in jener Nacht auszogen.
Und wie sie in das verheißene Land kamen. Und Jahr für Jahr wurde zur
Erinnerung an diese Erlösung das Passah-Lamm geschlachtet — bis Jesus, der Sohn
Gottes, kam und als das wahre Passah-Lamm starb.
Gott hat es recht deutlich gemacht, dass Sein Sohn das
Passah-Lamm ist. Denn Jesus wurde gerade am Passah-Fest gekreuzigt. Vorher
hatten die Ältesten gesagt: „Ja nicht auf das Fest, weil da so viele Leute
beisammen sind! Da könnte es einen Aufruhr geben." Aber gegen ihren Willen
kam es so heraus, dass Jesus als Passah-Lamm erwiesen wurde.
2. Die neutestamentliche Bedeutung des Passah-Lammes
Alle, die in jener Nacht in Ägypten das Lamm aßen, waren
gegürtet zur Wanderung, waren Fremdlinge in Ägypten und waren bereit, nach
Kanaan zu gehen.
Und wer es mit dem gekreuzigten Jesus zu schaffen hat, wer —
wie Er selbst sagt — im Glauben „sein Fleisch isset und trinket sein Blut"
(Johannes 6, 56), der ist ein Fremdling in dieser Welt. Er hat einen anderen
Geist als die Welt. Sein Ziel ist das himmlische Kanaan. Allezeit ist er fertig
zur Abreise dorthin.
Aber in einem tieferen Sinn noch ist Jesus das Passah-Lamm.
Um das zu erklären, muss ich noch einmal auf jene Versammlung zurückkommen, in
der Mose die Anweisungen gab. Da sagte er: „Wenn ihr das Lamm schlachtet, dann
sollt ihr das Blut des Lammes oben an die Türschwelle der Haustüre streichen.
Heute nacht wird Gottes Gerichtsengel durch Ägypten gehen. Er wird alle
Erstgeburt töten, im Königsschloss ebenso wie in der Sklavenhütte. Nur wo er
das Blut des Lammes sehen wird, da wird er vorübergehen." Das wurde eine
schauerliche Nacht. Ägypten erfuhr, was bis zu diesem Tage jeder irgendeinmal
erfährt: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten." Da hebt das
Klagegeschrei der Heiden an im Königsschloss. Von Haus zu Haus geht das Weinen
und Schreien. Überall leuchtet Licht auf und zeigt an, wo der unsichtbare
Gerichtsbote sein Werk tut.
Erschrocken sitzt Gottes Volk in seinen Hütten bei dem Mahl
des Lammes. Erschrocken — und doch voll stolzer Ruhe. Das Blut ist ja über der
Türschwelle, das rettende Blut.
Und nun höre ich den Apostel Paulus jubeln: „Wir haben auch
ein Passah-Lamm. Das ist Christus, für uns geopfert" (1. Korinther 5, 7).
Das versteht nur der, der etwas weiß vom Zorne Gottes über die Sünde, der
diesen Zorn im Gewissen erfahren hat. Die blinde Welt verharmlost Gott. Wie
wird sie erschrecken, wenn Er Gericht hält! Denn: „Es ist dem Menschen gesetzt,
einmal zu sterben, danach aber das Gericht." Das sagt Gottes Wort. Findet
sich über der Tür unserer Wohnung — ist an der Schwelle unseres Herzens das
Blut Christi? Haben wir uns schon im Glauben unter den Schutz und die Bedeckung
des Blutes Jesu gestellt? Dann dürfen wir in stolzer Ruhe und in tiefem Frieden
Gottes leben.
Als der Gerichtsengel Gottes damals durch Ägypten zog,
fragte er nicht, ob die Leute, die unter dem Schütze des Blutes standen, gut
oder böse waren. Es gehörten sicher böse Buben dazu, die ihren Eltern viel
Herzeleid gemacht hatten. Aber nun standen sie unter dem Blut und waren
gerettet. Das Blut Jesu ist auch für die größten Sünder geflossen und rettet
die ärgsten Feinde Gottes im Gericht. Der Engel fragte auch nicht, ob der
Glaube der Leute dort hinter der blutigen Schwelle groß oder klein war. So wird
dich nur das eine im Gericht retten, ob du im Glauben Jesu Blut dir angeeignet
hast.
3. Die notwendige Voraussetzung für die Passah-Feier
Das war ein seltsames Mahl, das Gottes Volk in jener Nacht
einnahm. Man aß das Fleisch des Lammes, aber dazu auch Brot. Ein seltsames
Brot, ein Brot, bei dem keinerlei Sauerteig verwendet werden
durfte.
Bis zu diesem Tage wird es in den streng-jüdischen Häusern
so gehalten, dass zu Beginn des Passah-Festes der Hausvater mit einem Licht
durch das ganze Haus geht und sich überzeugt davon, dass kein Sauerteig im
Hause ist. Und damit machen die Juden deutlich, dass — wie Paulus sagt — „eine
Decke vor ihren Augen hängt"; dass sie Gottes Anweisung nur äußerlich und
mechanisch verstehen.
In 1. Korinther 5, 8 deutet uns Paulus diese Sache
geistlich. Er sagt: „Lasst uns Passah halten, nicht im alten Sauerteig (er
meint das alte Wesen des unbekehrten Menschen), auch nicht im Sauerteig der
Bosheit und Schalkheit, sondern in dem Süßteig der Lauterkeit und
Wahrheit."
Seht, da war in der korinthischen Gemeinde ein böser Fall
von Ehebruch vorgekommen. Das war schlimm. Aber wir sehen ja an David, dass
der Heiland sogar solch einen Sünder annimmt und dass Sein Blut rein macht von
aller Sünde. Aber furchtbar war es, dass man in Korinth sich mit der Sache
abgefunden hatte. Man ließ sie in der Gemeinde stillschweigend weiter
geschehen.
Sehr ernst straft Paulus die Korinther und sagt ihnen in
Vollmacht: Das Blut Christi, das errettet, verträgt sich nicht damit, dass man
den Sauerteig des alten Wesens duldet. Mit Jesu Blut, im Glauben ergriffen,
beginnt ein Neues. Und wer den Schutz des Blutes haben will, der muss täglich
das alte Wesen ausfegen. Der Herr schenke uns den Mut zu solch tapferem Tun!