Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

„Kem"

 

„Kem" ist ein Bäckergeselle, der heute wacker in der evan­gelischen Jugendarbeit steht. Aber als die Geschichte passierte, war er erst Lehrling.

Ach, er war ein blasser und schwächlicher Junge. Daher hat er auch seinen seltsamen Spitznamen „Kem". Das ist nämlich eine jungensmäßige Abkürzung von „Kalkeimer". So nannten ihn die Jungen in unsrem Jugendkreis, weil er so entsetzlich blaß aussah — eben wie ein Kalkeimer.

Aber es war kein Wunder, daß er so aussah. Denn es war Krieg. Tag und Nacht war in unserer Stadt Essen Alarm. Da mußte man sehen, wie man die Arbeit dazwischenkriegte. Und an so einem kleinen Lehrling blieb natürlich eine Menge hängen.

Aber unser „Kem" fand immer noch Zeit, unsre Bibelstunden zu besuchen. Wir kamen in einem dunklen Keller zusammen, denn die Gemeindehäuser waren längst alle zerstört. Doch das machte nichts. Der Herr Jesus kam zu uns auch in den Keller und erfüllte alles mit Seiner Herrlichkeit. Und auch den jungen „Kem" gewann Er sich zu eigen. Oh, wir haben feine Stunden dort in dem Keller zusammen erlebt!

Wieder einmal war ein furchtbarer Angriff über Essen nieder­gegangen. Als der Abend sich herabsenkte, brannte die Stadt an allen Ecken und Enden. Über Häusertrümmer bahnte ich mir meinen Weg zu unsrem Keller. Wahrhaftig! Es hatte sich wieder ein Trüpplein eingefunden. Die Lichtleitungen waren zwar zer­stört, und wir mußten bei einem kleinen Kerzenstümpfchen bei­sammensitzen. Aber das „Licht der Welt" ging hell in unsren Herzen auf. Und uns Leuten, die wir „in Finsternis und Schatten des Todes" saßen, ging auf „der Aufgang aus der Höhe". (Wer die Bibel kennt, weiß, daß das Wort aus dem Lobgesang des Zacharias im 1. Kapitel des Lukas-Evangeliums stammt.)

Als wir auseinandergingen, blieb „Kem" vor mir stehen. Einen Moment sah ich eine große Traurigkeit in seinem Ge­sicht, als er sagte: „Nun haben wir auch alles verloren. Eine Luftmine hat das Haus, in dem wir wohnten, in einen Trüm­merhaufen verwandelt . . ." Aber dann ging auf einmal ein un­beschreiblicher Glanz über das blasse Gesicht. Es war, als wenn ihm die Freude aus allen Knopflöchern strahlte, als er fortfuhr: „. . . jetzt habe ich nichts mehr als bloß meinen Heiland."

„O Junge", sagte ich und drückte ihm die Hand, „da ist dir ja das Beste geblieben! Da ist dir ja der eigentliche Reichtum nicht verloren gegangen!"

Und „Kem" nickte freudestrahlend — mit Tränen in den Augen.

Als ich die Tränen sah, fiel mir ein Verslein aus dem würt­tembergischen Gesangbuch ein, das heißt:

 

„So wein' ich, wenn ich wein',

Doch noch mit Loben.

Das Loben schickt sich fein

Zu solchen Proben.

Man kann den Kummer sich

Vom Herzen singen.

Nur Jesus freuet mich!

Dort wird es klingen!"