Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Die Enttäuschten

 

„Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe!" sagt der Kranke und dreht sich ärgerlich in seinem Bett um. Gleichmütig sehen die Kranken aus den andern Betten auf mich. O ja, Seelsorge im Krankenhaus ist kein Kinderspiel!

Da ist nun einer, der wohl ein wenig versteht, was in solch einem Augenblick im Herzen eines Pfarrers vor sich geht. Und darum sagt er, gleichsam erklärend: „Ach, Sie müssen verstehen: Uns ist in den vergangenen Jahren so viel vorerzählt worden. Und wir haben das alles geglaubt. Und nun sind wir die Dum­men. Da ist es ja wohl am besten, man glaubt gar nichts mehr."

Beifällig nicken die andern.

Ach ja, ich verstehe das gut. Und im Geist sehe ich das riesige Heer von Menschen vor mir, die einmal blindlings „geglaubt" haben: an den Führer und an das Gute im Menschen und an den Sieg und an Deutschland. Und nun hat ihr Glaube entsetz­lich Bankrott gemacht. Was soll man da noch andres tun, als sich einem völligen Nihilismus bedenkenlos in die Arme werfen?

Und da sind die ändern, die „den Schwindel durchschaut" haben. Aber — was konnten sie ausrichten gegen Dummheit und Bosheit? Sie hoffen nichts mehr und glauben nichts mehr. O ja, ich verstehe sie gut.

Immer noch schauen die Kranken mich an: Sie haben wohl das Gefühl, daß der Pfarrer nun auch nichts mehr sagen kann und nach einem guten Abgang sucht. Vielleicht aber auch lebt ganz tief in ihren Herzen eine stille Hoffnung, der Pfarrer könne ihnen einen neuen Weg zeigen.

Und das will ich tun!

„Darf ich Ihnen mal eine kleine Geschichte erzählen?" frage ich. Alle sind sofort einverstanden. Sogar der Unfreundliche dreht sich mir wieder zu.

Und ich erzähle ihnen ein Erlebnis aus dem Jahr 1925. Ich war damals junger Pfarrer in einem riesigen Bergarbeiter­bezirk. In den großen Menschenmassen dieses armen Bezirks herrschte ein dumpfer Haß gegen Kirche und Pfarrer. Weil die Menschen nicht zu mir in die Kirche kamen, ging ich zu ihnen und suchte sie in den Wohnungen auf. Von Haus zu Haus ging ich. Es war eigentlich immer das gleiche. Wenn ich sagte: „Ich bin der evangelische Pfarrer", flog die Wohnungstür zu. Aber dann hatte ich immer schon meinen Fuß dazwischen und setzte das Gespräch fort. Kurz, langweilig war es nicht.

So komme ich eines Tages in die Taubenstraße. Es war para­dox, daß sie so hieß. Denn sie war berühmt, weil hier die größ­ten „Schläger" wohnten. An einer Tür klopfe ich an. „Herein!" ruft eine männliche Stimme. Und ich trete in eine reinliche Wohnküche, in der ein junger Mann erregt auf und ab läuft. „Was wollen Sie?" herrscht er mich an.

„Ich bin der evangelische Pfarrer und wollte Sie mal auf­suchen."

Geradezu erschrocken schaut er mich an. Und dann geht's los: „Was? Ein Pfarrer? Das hat mir gerade noch gefehlt! Raus!!!" Ich muß lachen. „Junger Mann", sage ich. „warum so erregt? Meines Wissens habe ich Ihnen doch nichts geklaut?"

Er hält sich die Ohren zu: „Ich will nichts hören! Gehen Sie! Ich habe den Glauben an die Menschheit verloren."

„Kommen Sie an mein Herz, junger Mann!" rufe ich. „Wir beide gehören zusammen. Diesen Glauben habe ich auch ver­loren."

Groß schaut er mich an: „Wie? Sie als Pfarrer müssen doch den Glauben an die Menschheit hochhalten!"

„So, muß ich das? Ich kann Ihnen nur versichern: Dieser Glaube ist in Fetzen davongegangen. Ich war im Krieg, als Soldat und später als Offizier. Da habe ich die Menschen ken­nengelernt. Dieser Neid! Einer gönnte dem ändern nichts. Und dann die Zoten! Von morgens bis in die Nacht ‚Thema 1'. Und die Brutalität! Nein! Glaube an die Menschheit! Davon habe ich genug!"

Er kann sich gar nicht fassen. Er schüttelt den Kopf: „Das nimmt mich doch wunder, wo Sie Pastor sind."

„Oh, ich bin sogar radikaler als Sie", erschüttere ich ihn vollends. „Sie sind überzeugt, daß die Menschheit nichts taugt. Nur Sie allein taugen etwas. Nur Sie allein heben sich strah­lend von diesem düsteren Hintergrund ab. Woher haben Sie ein Recht zu dieser wunderlichen Überzeugung? Ich bin so weit, daß ich sogar den Glauben an mich selbst verloren habe. Ich sage mit dem Apostel Paulus: Ich weiß, daß in mir nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht."

Immer noch schüttelt er den Kopf und sagt schließlich ärger­lich: „Ja, dann möchte ich nur wissen, warum Sie überhaupt noch Pfarrer sind."

„Das will ich Ihnen sagen. Sehen Sie, ich habe einen neuen Glauben gefunden, der mir nicht mehr kaputt geht. Der be­steht, auch wenn die ganze Welt in Trümmer fällt. Der besteht sogar im Tode."

Jetzt ist er richtig gespannt: „Da möchte ich doch wissen, was das für ein Glaube sein soll?"

„Das will ich Ihnen gern sagen: Es ist das herzliche Ver­trauen zu Jesus Christus, dem Sohne Gottes, dem Heiland der Welt."

Er greift sich an den Kopf: „Das ist ja das alte Christentum. Ich meine, damit wäre es längst zu Ende."

Nun muß ich wieder lachen: „O Mann! Sie Narr! Damit fängt es nun ja erst richtig an, wenn die Menschen mit all ihren dummen Ersatzglauben am Ende sind!"

Und dann sitzen wir zwei zusammen. Und ich kann ihm berichten von dem Heiland, der uns Gott geoffenbart hat, der uns mit Gott versöhnt hat und der uns mit unaussprechlicher Liebe liebt; der gekommen ist, daß wir Leben und volle Ge­nüge haben sollen." — — —

Aufmerksam haben mir die Männer im Krankenhaus zu­gehört. Ob ihnen wohl ein wenig deutlich wurde, daß das Evan­gelium von Jesus die einzige Chance ist für eine Zeit, die alles, aber auch alles verloren hat?