„Ach, lassen Sie
mich doch in Ruhe!" sagt der Kranke und dreht sich ärgerlich in seinem
Bett um. Gleichmütig sehen die Kranken aus den andern Betten auf mich. O ja,
Seelsorge im Krankenhaus ist kein Kinderspiel!
Da ist nun einer,
der wohl ein wenig versteht, was in solch einem Augenblick im Herzen eines
Pfarrers vor sich geht. Und darum sagt er, gleichsam erklärend: „Ach, Sie
müssen verstehen: Uns ist in den vergangenen Jahren so viel vorerzählt worden. Und
wir haben das alles geglaubt. Und nun sind wir die Dummen. Da ist es ja wohl
am besten, man glaubt gar nichts mehr."
Beifällig nicken
die andern.
Ach ja, ich
verstehe das gut. Und im Geist sehe ich das riesige Heer von Menschen vor mir,
die einmal blindlings „geglaubt" haben: an den Führer und an das Gute im
Menschen und an den Sieg und an Deutschland. Und nun hat ihr Glaube entsetzlich
Bankrott gemacht. Was soll man da noch andres tun, als sich einem völligen
Nihilismus bedenkenlos in die Arme werfen?
Und da sind die
ändern, die „den Schwindel durchschaut" haben. Aber — was konnten sie
ausrichten gegen Dummheit und Bosheit? Sie hoffen nichts mehr und glauben
nichts mehr. O ja, ich verstehe sie gut.
Immer noch schauen
die Kranken mich an: Sie haben wohl das Gefühl, daß der Pfarrer nun auch nichts
mehr sagen kann und nach einem guten Abgang sucht. Vielleicht aber auch lebt
ganz tief in ihren Herzen eine stille Hoffnung, der Pfarrer könne ihnen einen
neuen Weg zeigen.
Und das will ich
tun!
„Darf ich Ihnen mal
eine kleine Geschichte erzählen?" frage ich. Alle sind sofort
einverstanden. Sogar der Unfreundliche dreht sich mir wieder zu.
Und ich erzähle
ihnen ein Erlebnis aus dem Jahr 1925. Ich war damals junger Pfarrer in einem
riesigen Bergarbeiterbezirk. In den großen Menschenmassen dieses armen Bezirks
herrschte ein dumpfer Haß gegen Kirche und Pfarrer. Weil die Menschen nicht zu
mir in die Kirche kamen, ging ich zu ihnen und suchte sie in den Wohnungen auf.
Von Haus zu Haus ging ich. Es war eigentlich immer das gleiche. Wenn ich sagte:
„Ich bin der evangelische Pfarrer", flog die Wohnungstür zu. Aber dann
hatte ich immer schon meinen Fuß dazwischen und setzte das Gespräch fort. Kurz,
langweilig war es nicht.
So komme ich eines
Tages in die Taubenstraße. Es war paradox, daß sie so hieß. Denn sie war
berühmt, weil hier die größten „Schläger" wohnten. An einer Tür klopfe
ich an. „Herein!" ruft eine männliche Stimme. Und ich trete in eine
reinliche Wohnküche, in der ein junger Mann erregt auf und ab läuft. „Was
wollen Sie?" herrscht er mich an.
„Ich bin der
evangelische Pfarrer und wollte Sie mal aufsuchen."
Geradezu
erschrocken schaut er mich an. Und dann geht's los: „Was? Ein Pfarrer? Das hat
mir gerade noch gefehlt! Raus!!!" Ich muß lachen. „Junger Mann", sage
ich. „warum so erregt? Meines Wissens habe ich Ihnen doch nichts geklaut?"
Er hält sich die
Ohren zu: „Ich will nichts hören! Gehen Sie! Ich habe den Glauben an die
Menschheit verloren."
„Kommen Sie an mein
Herz, junger Mann!" rufe ich. „Wir beide gehören zusammen. Diesen Glauben
habe ich auch verloren."
Groß schaut er mich
an: „Wie? Sie als Pfarrer müssen doch den Glauben an die Menschheit
hochhalten!"
„So, muß ich das?
Ich kann Ihnen nur versichern: Dieser Glaube ist in Fetzen davongegangen. Ich
war im Krieg, als Soldat und später als Offizier. Da habe ich die Menschen kennengelernt.
Dieser Neid! Einer gönnte dem ändern nichts. Und dann die Zoten! Von morgens
bis in die Nacht ‚Thema 1'. Und die Brutalität! Nein! Glaube an die Menschheit!
Davon habe ich genug!"
Er kann sich gar
nicht fassen. Er schüttelt den Kopf: „Das nimmt mich doch wunder, wo Sie Pastor
sind."
„Oh, ich bin sogar
radikaler als Sie", erschüttere ich ihn vollends. „Sie sind überzeugt, daß
die Menschheit nichts taugt. Nur Sie allein taugen etwas. Nur Sie allein heben
sich strahlend von diesem düsteren Hintergrund ab. Woher haben Sie ein Recht
zu dieser wunderlichen Überzeugung? Ich bin so weit, daß ich sogar den Glauben
an mich selbst verloren habe. Ich sage mit dem Apostel Paulus: Ich weiß, daß in
mir nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde
ich nicht."
Immer noch
schüttelt er den Kopf und sagt schließlich ärgerlich: „Ja, dann möchte ich nur
wissen, warum Sie überhaupt noch Pfarrer sind."
„Das will ich Ihnen
sagen. Sehen Sie, ich habe einen neuen Glauben gefunden, der mir nicht mehr
kaputt geht. Der besteht, auch wenn die ganze Welt in Trümmer fällt. Der
besteht sogar im Tode."
Jetzt ist er
richtig gespannt: „Da möchte ich doch wissen, was das für ein Glaube sein
soll?"
„Das will ich Ihnen
gern sagen: Es ist das herzliche Vertrauen zu Jesus Christus, dem Sohne
Gottes, dem Heiland der Welt."
Er greift sich an
den Kopf: „Das ist ja das alte Christentum. Ich meine, damit wäre es längst zu
Ende."
Nun muß ich wieder
lachen: „O Mann! Sie Narr! Damit fängt es nun ja erst richtig an, wenn die
Menschen mit all ihren dummen Ersatzglauben am Ende sind!"
Und dann sitzen wir
zwei zusammen. Und ich kann ihm berichten von dem Heiland, der uns Gott
geoffenbart hat, der uns mit Gott versöhnt hat und der uns mit
unaussprechlicher Liebe liebt; der gekommen ist, daß wir Leben und volle Genüge
haben sollen." — — —
Aufmerksam haben
mir die Männer im Krankenhaus zugehört. Ob ihnen wohl ein wenig deutlich
wurde, daß das Evangelium von Jesus die einzige Chance ist für eine Zeit, die
alles, aber auch alles verloren hat?