Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Geborgen

 

Einen Augenblick stehe ich still vor der weißgestrichenen Tür von Zimmer Nr. 24 des großen Krankenhauses. Was soll ich dem Mann sagen, der dort liegt? Er hat Schweres erlebt. Bei einer Autofahrt ist er verunglückt und liegt nun mit zerschmet­tertem Armgelenk hier in der fremden Stadt im Krankenhaus. Und inzwischen ist zu Hause seine treue und geliebte Frau einem Herzschlag erlegen und zu Grabe getragen worden. Und zu all den äußeren und inneren Schmerzen mögen die Sorgen kommen um das große Geschäft zu Hause, das den Chef so nötig braucht.

Ach, was soll ich diesem armen Mann sagen?

Ich trete in das Krankenzimmer, stehe vor dem Bett, fasse nach der gesunden Hand und stammle ein paar Trostworte.

Da schaut mich der alte Herr mit einem unbeschreiblichen Blick an und sagt: „Ich bin geborgen!"

Ich versteh ihn. Da, neben ihm auf dem Nachttisch, liegt die aufgeschlagene Bibel. Sie spricht auf jeder Seite von der Liebe Gottes, die in Jesus erschienen ist. In seiner Liebe ist dieser Last­träger geborgen.

Und nun sehe ich im Geiste die große Schar derer, die sich mit Freuden Kinder Gottes nannten. Lastträger waren alle. Aber jeder bezeugt es fröhlich: Ich bin geborgen!

Ich denke an Abraham. Er war ein Fremdling geworden. Aber der Herr hatte ihm gesagt: „Abraham, ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn!" — „Geborgen!"

Da ist Paulus. Zerschlagen, in Ketten, liegt er im Gefängnis in Philippi. Aber „um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott im Gefängnis". Ist das nicht unerhört? Das konnten sie nur tun, weil sie „geborgen" waren in der Liebe Gottes.

Da ist Luther. Der schreibt seinem Kurfürsten, der um ihn besorgt ist, er möge sich nur nicht sorgen. Denn mit all seiner Macht könne er den Luther doch nicht schützen. Vielmehr wolle er, der Luther, „Seine kurfürstlichen Gnaden schützen". „Ge­borgen!"

Und von Feinden umgeben, vom Papst gebannt, vom Kaiser geächtet, lehrt er die Christenheit das Lied:

 

„Ein feste Burg ist unser Gott,

Ein gute Wehr und Waffen."

 

Das heißt „geborgen".

Und ich denke an Paul Gerhardt, den Liederdichter. In den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, als die Flammen sein Dorf in Schutt und Asche gelegt hatten, singt er:

 

„Warum sollt ich mich denn grämen?

Hab ich doch Christum noch!

Wer will mir den nehmen?"

 

„Geborgen."

Geborgen sind sie alle, die das Heil Gottes in Jesus ergriffen haben. Geborgen sind sie in der Liebe Gottes. Und was der Dichter des 36. Psalms bezeugt hat, das ist täglich ihre Erfah­rung: „Wie teuer ist deine Güte, Gott, daß Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben."

Vor kurzem sah ich in meiner Kinderstube ein liebliches Bild. Meine Jüngste hatte sich irgendwo gestoßen. Am Kopf war eine dicke Beule. Aber nun saß sie ganz getröstet und fröhlich auf dem Schoß der Mutter. An den dicken Bäckchen hingen noch die Tränen. Aber die Augen lachten schon wieder. „Geborgen!"

Da mußte ich denken: Das ist ein Bild der Christen. Man­cherlei Wunden schlägt ihnen die Welt. Aber wenn auch das Herz zittert über mannigfacher Not und über dem, was ihr Gewissen ihnen vorhält, so sind sie doch geborgen in der Liebe ihres Herrn, und sie rühmen: „Wir überwinden weit um des­willen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn" (Römer 8, 37 ff.).