Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Licht im Dunkel

 

Einen Augenblick zögere ich in dem dunklen Hausgang. Den ganzen Morgen bin ich durch meine Gemeinde gegangen, um meine Gemeindeglieder kennenzulernen.

Ja, nun kommt es mir auf einmal zum Bewußtsein: Ich bin müde, hundemüde! Und — es sei ehrlich gestanden — auch ein wenig verzagt. Überall fand ich kühle Ablehnung des Evange­liums; Herzen, die, von tausend Sorgen beschwert, die eine große Sorge nicht mehr haben: wie man selig wird. Herzen voll von Bitterkeit und Not, daß sie nicht mehr hören konnten auf das, was ich ihnen sagen wollte.

Da hinten, in dem dunklen Hinterhaus, soll ein alter, blinder Mann wohnen. Ich habe fast keine Kraft und keinen Mut mehr zu diesem Besuch. Was wird der erst klagen! Und schimpfen!

Aber dann fasse ich mir doch ein Herz, überquere den klei­nen dunklen Hof und betrete die düstere Korbmacherwerkstatt.

Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit: Da, hinter Bergen von Körben und zerbrochenen Stühlen, erhebt sich ein alter Mann. Als er steht, sehe ich, daß er eine stattliche Erscheinung ist. Erloschene Augen richten sich fragend auf mich.

„Guten Tag! Ich bin der neue Pfarrer der Gemeinde."

Da geht ein freundliches Lächeln über sein Gesicht. Höflich lädt er mich zum Niedersetzen ein auf einem niedrigen Hocker. Ich bitte ihn, mir ein wenig von seinem Leben zu erzählen.

Ja, und dann kommt ein großes Staunen über mich. Kein Klagen höre ich, kein Schimpfen! Im Gegenteil: der alte Mann erzählt mir, wieviel Barmherzigkeit ihm Gott in seinem Leben getan habe. Je länger er spricht, desto mehr wird sein Erzählen ein fröhliches Loben des großen Gottes, der durch Jesus, unsern Heiland, sein Vater sei.

Als ich gehen will, bittet er: „Herr Pfarrer, ich habe einen Wunsch. Lesen Sie mir doch einmal meinen Lieblingspsalm vor, den Psalm 34." Ich ziehe mein Testament heraus und fange an zu lesen:

 

„Ich will den Herrn loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein.

Meine Seele soll sich rühmen des Herrn . . .

. . . welche auf ihn sehen, die werden erquickt, und ihr An­gesicht wird nicht zuschanden . . .

Der Herr erlöst die Seele seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen, werden keine Schuld haben."

 

Immer noch läßt er mich nicht gehen. „Herr Pfarrer, wir müssen noch einen Vers zusammen singen!"

Mit sicheren tastenden Bewegungen räumt er einen ganzen Berg Weiden und Körbe beiseite. Dann kommt ein kleines Har­monium zum Vorschein, das er sorgfältig mit einem roten Tuch zugedeckt hat.

Nun sitzt der alte Mann vor dem Harmonium. Sicher glei­ten seine Finger über die Tasten. Und während seine blinden Augen aussehen, als schauten sie in die Ewigkeit, fängt er mit kräftiger Stimme an zu singen:

 

Weil denn weder Ziel noch Ende sich in Gottes Liebe findt,

Ei, so heb ich meine Hände zu dir, Vater, als dein Kind,

Bitte, wollst mir Gnade geben, dich aus aller meiner Macht

Zu umfangen Tag und Nacht hier in meinem ganzen Leben,

Bis ich dich nach dieser Zeit lob und lieb in Ewigkeit."

 

Erschüttert stand ich da. Hier saß ein armer, blinder Mann und lobte Gott. Mir fiel eine biblische Geschichte ein. Als Salomo den neuen Tempel einweihte, „konnten die Priester nicht stehen im Hause des Herrn, weil die Herrlichkeit des Herrn das Haus erfüllte". So ähnlich ging es hier.

Als er ausgesungen hatte, verließ ich still die Werkstatt.