Einen Augenblick
zögere ich in dem dunklen Hausgang. Den ganzen Morgen bin ich durch meine
Gemeinde gegangen, um meine Gemeindeglieder kennenzulernen.
Ja, nun kommt es
mir auf einmal zum Bewußtsein: Ich bin müde, hundemüde! Und — es sei ehrlich
gestanden — auch ein wenig verzagt. Überall fand ich kühle Ablehnung des Evangeliums;
Herzen, die, von tausend Sorgen beschwert, die eine große Sorge nicht
mehr haben: wie man selig wird. Herzen voll von Bitterkeit und Not, daß sie
nicht mehr hören konnten auf das, was ich ihnen sagen wollte.
Da hinten, in dem
dunklen Hinterhaus, soll ein alter, blinder Mann wohnen. Ich habe fast keine
Kraft und keinen Mut mehr zu diesem Besuch. Was wird der erst klagen! Und
schimpfen!
Aber dann fasse ich
mir doch ein Herz, überquere den kleinen dunklen Hof und betrete die düstere
Korbmacherwerkstatt.
Langsam gewöhnen
sich meine Augen an die Dunkelheit: Da, hinter Bergen von Körben und
zerbrochenen Stühlen, erhebt sich ein alter Mann. Als er steht, sehe ich, daß
er eine stattliche Erscheinung ist. Erloschene Augen richten sich fragend auf
mich.
„Guten Tag! Ich bin
der neue Pfarrer der Gemeinde."
Da geht ein
freundliches Lächeln über sein Gesicht. Höflich lädt er mich zum Niedersetzen
ein auf einem niedrigen Hocker. Ich bitte ihn, mir ein wenig von seinem Leben
zu erzählen.
Ja, und dann kommt
ein großes Staunen über mich. Kein Klagen höre ich, kein Schimpfen! Im
Gegenteil: der alte Mann erzählt mir, wieviel Barmherzigkeit ihm Gott in seinem
Leben getan habe. Je länger er spricht, desto mehr wird sein Erzählen ein
fröhliches Loben des großen Gottes, der durch Jesus, unsern Heiland, sein Vater
sei.
Als ich gehen will,
bittet er: „Herr Pfarrer, ich habe einen Wunsch. Lesen Sie mir doch einmal
meinen Lieblingspsalm vor, den Psalm 34." Ich ziehe mein Testament heraus
und fange an zu lesen:
„Ich will den Herrn loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem
Munde sein.
Meine Seele soll sich rühmen des Herrn . . .
. . . welche auf ihn sehen, die werden erquickt, und ihr Angesicht wird
nicht zuschanden . . .
Der Herr erlöst die Seele seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen,
werden keine Schuld haben."
Immer noch läßt er
mich nicht gehen. „Herr Pfarrer, wir müssen noch einen Vers zusammen
singen!"
Mit sicheren
tastenden Bewegungen räumt er einen ganzen Berg Weiden und Körbe beiseite. Dann
kommt ein kleines Harmonium zum Vorschein, das er sorgfältig mit einem roten
Tuch zugedeckt hat.
Nun sitzt der alte
Mann vor dem Harmonium. Sicher gleiten seine Finger über die Tasten. Und
während seine blinden Augen aussehen, als schauten sie in die Ewigkeit, fängt
er mit kräftiger Stimme an zu singen:
Weil denn weder
Ziel noch Ende sich in Gottes Liebe findt,
Ei, so heb ich
meine Hände zu dir, Vater, als dein Kind,
Bitte, wollst mir
Gnade geben, dich aus aller meiner Macht
Zu umfangen Tag und
Nacht hier in meinem ganzen Leben,
Bis ich dich nach
dieser Zeit lob und lieb in Ewigkeit."
Erschüttert stand
ich da. Hier saß ein armer, blinder Mann und lobte Gott. Mir fiel eine
biblische Geschichte ein. Als Salomo den neuen Tempel einweihte, „konnten die
Priester nicht stehen im Hause des Herrn, weil die Herrlichkeit des Herrn das
Haus erfüllte". So ähnlich ging es hier.
Als er ausgesungen
hatte, verließ ich still die Werkstatt.