Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Kleine Gottesboten

 

Ein Lied in der Bahnhofshalle — Ein getrösteter Bergmann

 

Es war vormittags, so gegen neun Uhr.

Ich ging quer durch die große Bahnhofshalle. An meiner rechten Hand hielt sich mein kleiner Junge, an die linke klam­merte sich mein Töchterlein fest, damit es im Gedränge nicht losgerissen würde.

Die weite Halle machte den beiden kleinen Trabanten sicht­lich Eindruck. Das dumpfe Gemurmel der Menschenmenge gab einen verworrenen Widerhall. Da meinten die beiden, sie müß­ten doch einmal ausprobieren, ob ihre Stimmen auch so schön hallen in diesem weiten Raum.

Also stieß bald der Junge, bald das kleine Mädchen einen hellen Juchzer aus. Und sie freuten sich königlich an dem ge­wünschten Erfolg.

Aber so ein Juchzer ist schnell vorüber. Und darum war der Genuß immer nur kurz. Um ihn auszudehnen, gingen sie zu einem Liede über.

Das kleine Mädchen stimmte an, und der Junge fiel mit sei­ner lauten, hellen Stimme ein:

 

„Harre, meine Seele, harre des Herrn!

Alles ihm befehle,

Hilft er doch so gern . . .!"

 

Das war natürlich eine ungewohnte Melodie, vormittags um neun Uhr, in der Bahnhofshalle. "Wenn da eine Lokomotive gel­lend zischte, wenn ein Zigarettenverkäufer brüllend seine Ware anpries, wenn ein Bursche unbekümmert den allerneuesten Schla­ger pfiff —, da drehte sich natürlich kein Mensch um.

Aber ein geistliches Lied! In der Bahnhofshalle! Schallend gesungen von zwei hellen Kinderstimmen — das gab schon einiges Aufsehen. Etliche lächelten, ein paar guckten verlegen, wieder andere schüttelten den Kopf.

Die Kinder ließ das völlig unbekümmert; fröhlich sangen sie weiter:

 

„. . . . größer als der Helfer

Ist die Not ja nicht."

 

Da ging ein Bergmann vorbei. Er hatte wohl den Weg quer durch die Bahnhofshalle gewählt, um schneller heimzukommen. Mit seinem müden Gang, seinem gesenkten Kopf und den hän­genden Schultern sah er aus, als wenn unsichtbare Lasten auf ihn drückten. Die „Kaffeetöte" auf seinem Rücken zeigte, daß er von Schicht kam.

Jetzt drang der Gesang an sein Ohr. Er blieb stehen. Ernst schaute er auf die Kinder. Es war, als wolle er dieses Lied in sich hineintrinken:

 

„. . . rett' auch meine Seele,

Du treuer Gott."

 

Dann ging er weiter. Ganz anders auf einmal ... als wenn er aus einer Quelle getrunken hätte! Und da wußte ich, daß die beiden Kinder in aller Dummheit und Schwachheit etwas Großes vollbracht hatten. — —

Am Nachmittag besuchte mich ein lieber Gast von auswärts.

„Mann", sagte er, „ich muß dir mal eine köstliche Geschichte erzählen. Heute morgen, als ich auf eurem Hauptbahnhof an­kam, war ich ein sehr verdrießlicher und sorgenbeladener Mann. Es war mir Verschiedenes quer gegangen. Und als ich nun so recht betrübt durch die Sperre gehe, da klingt es an mein Ohr:

 

„In allen Stürmen, in aller Not

Wird er dich beschirmen,

Der treue Gott."

 

Das hallte durch die Bahnhofshalle, als wenn vom Himmel herab eine Stimme zu mir sprechen wollte. Es müssen wohl Kinder gewesen sein, die irgendwo sangen. Ich habe sie im Gedränge nicht sehen können. Aber ich habe da alle meine Sor­gen auf meinen himmlischen Herrn geworfen und bin fröhlich weitergegangen."

Ich aber bin schnell zu meinen Kindern gelaufen und habe ihnen einen kräftigen Kuß gegeben.