Wilhelm Busch – Es geht am Kreuz um unsere Not

 

Sonntag Reminiscere 1944

»Sie spotteten und sprachen: >...Er hat Gott vertrat der erlöse ihn nun, hat er Lust zu ihm.<« (Matthäus 27, 43)

 

Aus den dunklen Urzeiten der Menschheit wird uns 1. Mose 11 eine aufwühlende Geschichte berichtet. Es hat damals alle Welt einerlei Sprache. Eines Tages fassten die Menschen den Beschluss: »Wohlauf, lasst uns einen Tun bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht, dass wir uns einen Namen machen.«

Nun beginnt der Titanentrotz des Menschen den Bau des babylonischen Turms, der als phantastisches Zeichen die »Pensionierung Gottes« und die Selbstherrlichkeit des Menschen proklamieren soll.

Ihr wisst, wie es weiterging: Der Turm wurde nie fertig. Der Herr fuhr hernieder und verwirrte ihre Sprache, dass einer den ändern nicht mehr verstand. Und dabei ist es ge­blieben, wie ja die Gegenwart zeigt. Aber die Verwirrung ging noch tiefer. Nicht nur zwischen Mensch und Mensch wurde die »Sprache verwirrt«, sondern auch zwischen Mensch und Gott. Der Mensch versteht auch die Sprache Gottes nicht mehr, solange Gott ihm nicht durch den Heiligen Geist hilft. Davon redet unser Text. Das Kreuz ist die deutlichste Rede Gottes. Aber — wer versteht sie? Die Leute unter dem Kreuz jedenfalls nicht.

 

 

Das dreifache Missverständnis des Kreuzes.

 

 

1. Es geht nicht um Jesu Not, sondern um unsre

Da stehen die Spötter unter dem Kreuz. Und es ist, als streife ihr Herz eine Ahnung von Jesu ungeheurer Not. Aber auch daraus machen sie nun einen Spott: »Du hast dich ja so oft erfolgreich an Gott gewandt. Tu es doch auch jetzt in deiner Not!«

Welch ungeheures Missverständnis! Es geht auf Golgatha gar nicht um Jesu Not. Es geht vielmehr um unsre Not. Dieses Missverständnis hat die ganze Kirchengeschichte durchzogen. Die katholische Mystik des Mittelalters, be­sonders die franziskanische Mystik, geht in der Linie des Mitleids mit dem leidenden Heiland. In dem bekannten Lied »Stabat mater« stellt sich die Seele gleichsam neben Maria unter das Kreuz und klagt mit ihr: »Lass mein Weinen um den Reinen mit dem Deinen sich vereinen, bis zu meiner letzten Stund; trauernd mich mit dir zu sehen, an dem Fuß des Kreuzes stehen, wünsch ich mir von Her­zensgrund.«

Ja, sogar im evangelischen Gesangbuch findet sich dieses Missverständnis, als gehe es um Jesu Not: »O süßer Bund, o Glaubensgrund, wie bist du doch zerschlagen! Alles, was auf Erden lebt, muss dich ja beklagen.« Luther nennt das in der lateinischen Ausgabe der Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« einen »kindi­schen und weibischen Unsinn«.

Es geht am Kreuz um unsre Not! Und zwar um eine größere, als die der Krieg mit sich bringt. Es geht um die Not unseres Gewissens, um die Not unserer friedlosen Seele, um die Not, dass wir der Hölle zueilen. Ein befreundeter Missionar erzählte mir einst von einem indischen Götzenfest. Tausende sind versammelt. Da kommen die riesigen Triumphwagen der Götter. Ihre Räder sind wie ungeheure Walzen. Und auf einmal stürzt ein Mann aus der Menge, wirft sich unter die Räder und lässt sich zermalmen. Aus Hunger nach Frieden des Herzens!

Um diese Not, welche die wahre Menschheitsnot ist, geht es an Jesu Kreuz. Diese Not will er stillen. Hier wird für uns alle der Friede mit Gott erfochten.

 

2. Es geht nicht um Jesu Erlösung, sondern um unsre

Da stehen sie unter dem Kreuz des Sohnes Gottes und spotten: »Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun...!« Welch ungeheures Missverständnis! Es geht auf Golgatha nicht darum, dass Jesus erlöst wird. Es geht um unsre Er­lösung!

Auch dieses Missverständnis ist bis zum heutigen Tag vor­handen. Nicht nur Jesus hat am Kreuz gehangen. Auch die Sache seines Reiches geht in dieser Weltzeit den Kreu­zesweg. Den Feinden Christi ist das nun Anlass zu höhni­schem Triumpfgeschrei, den gutmeinenden Leuten aber zu schwerer Sorge. Wie oft begegnen mir wohlmeinende Leute, die um die Kirche Christi recht besorgt sind und al­lerlei gute Vorschläge haben, wie man der Sache der Kirche und Christi aufhelfen könnte. Also: diese Sorge dürfen wir getrost fallen lassen. Es geht nicht darum, dass Jesus und seine Sache erlöst werden. Nein! Es geht vielmehr darum, dass wir erlöst werden.

Oh, ihr törichten Hohenpriester, Schriftgelehrten und Äl­testen! Da steht ihr nun und ruft: »Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun!« Ja, habt ihr euch denn schon mal Ge­danken gemacht, wer euch erlösen soll? Erlösen von eurer Blindheit, von eurem geistlichen Tod, von eurer Schuld, von der Gewalt der Finsternis, von der Hölle, ja, von euch selbst? Wer soll euch denn erlösen? Seht nur auf den Mann am Kreuz! Der tut es!

Einer der edelsten Männer der katholischen Kirche, Vinzenz von Paul (gest. 1660), traf in einer französischen Hafenstadt einen Galeerensklaven, der ihm durch sein trauriges Gesicht auffiel. Auf Befragen erfuhr er, dieser Mann sei wegen Wilderns zu sechs Jahren Galeere verur­teilt worden. Vier Jahre habe er verbüßt. Seine Frau und Kinder seien in großer Not. Wenn jemand für ihn einträte, würde er natürlich freigelassen. Da ließ sich Vinzenz von Paul an die Galeere schmieden. Und der Mann durfte heimkehren.

Das ist ein schwaches Gleichnis für die Erlösung Jesu. Wer will sie auch erklären? Aber im Glauben darf man es er­fahren: »Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten« (Jesaja 53, 5).

Und der Glaube bekennt mit Luther: »Ich glaube, dass Jesus Christus sei mein Herr, der mich verlorenen und ver­dammten Menschen erlöset hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben, auf dass ich sein eigen sei... «

 

3. Es geht nicht darum, ob Gott zu Jesus Lust hat, sondern darum, ob er zu uns noch Lust hat

Da spotteten die Feinde Jesu in ihrer geistlichen Blindheit unter dem Kreuz: »Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, hat er Lust zu ihm!« Welch ein Missverständnis! Das ist keine Frage, ob Gott Lust zu seinem Sohn hat. Zweimal hat Gott vernehmlich gesagt: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.« Nein, darum geht es, ob Gott noch Lust zu diesen Menschen hat. Wenn ich Gott wäre, hätte ich keine Lust zu dieser blinden, blutdürstigen, verkehrten, charakterlosen Menschheit. Aber — und das ist das unfassbare Wunder des Evange­liums — Gott hat zu dieser Menschheit Lust, so Lust, dass er seinen eingeborenen Sohn ans Kreuz gab. Lasst mich ein Bild gebrauchen. Und nun will ich reden mit denen, die einen Sohn im Felde verloren haben. Oh, wie blutet da das Herz! Wenn es könnte, würde es den Sohn aus der Erde holen. Meint ihr, Gottes Vaterherz sei anders? Er hat auch Söhne und Töchter, die tot sind, geistlich tot, tot in Sünde und Gottesferne, gefallen! Ja, gefallen in Unglaube, Unge­horsam, Verdammnis.

Da entbrennt sein Herz. Er kann es nicht lassen: Er will sie aus dem Tode erretten. Darum hängt der Heiland am Kreuz.

Wer's nicht verstehen kann, der glaube doch denen, die es schon erfahren haben: sein Tod ist unser Leben; sein Sterben ist unsere Versöhnung. Sieh doch Gottes Werben um dich, dass er seinen Sohn gibt. Oh, wie hat Gott Lust an denen, die glauben und sich be­kehren, die gekleidet sind in die Gerechtigkeit Jesu Christi.