Sonntag Reminiscere 1944
»Sie spotteten und sprachen: >...Er hat Gott vertrat der
erlöse ihn nun, hat er Lust zu ihm.<« (Matthäus 27, 43)
Aus den dunklen Urzeiten der Menschheit wird uns 1. Mose 11 eine aufwühlende Geschichte berichtet. Es hat damals alle Welt einerlei Sprache. Eines Tages fassten die Menschen den Beschluss: »Wohlauf, lasst uns einen Tun bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht, dass wir uns einen Namen machen.«
Nun beginnt der Titanentrotz des Menschen den Bau des
babylonischen Turms, der als phantastisches Zeichen die »Pensionierung Gottes«
und die Selbstherrlichkeit des Menschen proklamieren soll.
Ihr wisst, wie es weiterging: Der Turm wurde nie fertig. Der
Herr fuhr hernieder und verwirrte ihre Sprache, dass einer den ändern nicht
mehr verstand. Und dabei ist es geblieben, wie ja die Gegenwart zeigt. Aber
die Verwirrung ging noch tiefer. Nicht nur zwischen Mensch und Mensch wurde die
»Sprache verwirrt«, sondern auch zwischen Mensch und Gott. Der Mensch versteht
auch die Sprache Gottes nicht mehr, solange Gott ihm nicht durch den Heiligen
Geist hilft. Davon redet unser Text. Das Kreuz ist die deutlichste Rede Gottes.
Aber — wer versteht sie? Die Leute unter dem Kreuz jedenfalls nicht.
Das dreifache Missverständnis des Kreuzes.
1. Es geht nicht um Jesu Not, sondern um unsre
Da stehen die Spötter unter dem Kreuz. Und es ist, als
streife ihr Herz eine Ahnung von Jesu ungeheurer Not. Aber auch daraus machen
sie nun einen Spott: »Du hast dich ja so oft erfolgreich an Gott gewandt. Tu es
doch auch jetzt in deiner Not!«
Welch ungeheures Missverständnis! Es geht auf Golgatha gar
nicht um Jesu Not. Es geht vielmehr um unsre Not. Dieses Missverständnis hat
die ganze Kirchengeschichte durchzogen. Die katholische Mystik des
Mittelalters, besonders die franziskanische Mystik, geht in der Linie des
Mitleids mit dem leidenden Heiland. In dem bekannten Lied »Stabat mater« stellt
sich die Seele gleichsam neben Maria unter das Kreuz und klagt mit ihr: »Lass
mein Weinen um den Reinen mit dem Deinen sich vereinen, bis zu meiner letzten
Stund; trauernd mich mit dir zu sehen, an dem Fuß des Kreuzes stehen, wünsch
ich mir von Herzensgrund.«
Ja, sogar im evangelischen Gesangbuch findet sich dieses
Missverständnis, als gehe es um Jesu Not: »O süßer Bund, o Glaubensgrund, wie
bist du doch zerschlagen! Alles, was auf Erden lebt, muss dich ja beklagen.«
Luther nennt das in der lateinischen Ausgabe der Schrift »Von der Freiheit
eines Christenmenschen« einen »kindischen und weibischen Unsinn«.
Es geht am Kreuz um unsre Not! Und zwar um eine größere, als
die der Krieg mit sich bringt. Es geht um die Not unseres Gewissens, um die Not
unserer friedlosen Seele, um die Not, dass wir der Hölle zueilen. Ein
befreundeter Missionar erzählte mir einst von einem indischen Götzenfest.
Tausende sind versammelt. Da kommen die riesigen Triumphwagen der Götter. Ihre
Räder sind wie ungeheure Walzen. Und auf einmal stürzt ein Mann aus der Menge,
wirft sich unter die Räder und lässt sich zermalmen. Aus Hunger nach Frieden
des Herzens!
Um diese Not, welche die wahre Menschheitsnot ist, geht es
an Jesu Kreuz. Diese Not will er stillen. Hier wird für uns alle der Friede mit
Gott erfochten.
2. Es geht nicht um Jesu Erlösung, sondern um unsre
Da stehen sie unter dem Kreuz des Sohnes Gottes und spotten:
»Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun...!« Welch ungeheures
Missverständnis! Es geht auf Golgatha nicht darum, dass Jesus erlöst wird. Es
geht um unsre Erlösung!
Auch dieses Missverständnis ist bis zum heutigen Tag vorhanden.
Nicht nur Jesus hat am Kreuz gehangen. Auch die Sache seines Reiches geht in
dieser Weltzeit den Kreuzesweg. Den Feinden Christi ist das nun Anlass zu
höhnischem Triumpfgeschrei, den gutmeinenden Leuten aber zu schwerer Sorge.
Wie oft begegnen mir wohlmeinende Leute, die um die Kirche Christi recht
besorgt sind und allerlei gute Vorschläge haben, wie man der Sache der Kirche
und Christi aufhelfen könnte. Also: diese Sorge dürfen wir getrost fallen
lassen. Es geht nicht darum, dass Jesus und seine Sache erlöst werden. Nein! Es
geht vielmehr darum, dass wir erlöst werden.
Oh, ihr törichten Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten!
Da steht ihr nun und ruft: »Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun!« Ja, habt
ihr euch denn schon mal Gedanken gemacht, wer euch erlösen soll? Erlösen von
eurer Blindheit, von eurem geistlichen Tod, von eurer Schuld, von
der Gewalt der Finsternis, von der Hölle, ja, von euch selbst? Wer soll euch
denn erlösen? Seht nur auf den Mann am Kreuz! Der tut es!
Einer der edelsten Männer der katholischen Kirche, Vinzenz
von Paul (gest. 1660), traf in einer französischen Hafenstadt einen
Galeerensklaven, der ihm durch sein trauriges Gesicht auffiel. Auf Befragen
erfuhr er, dieser Mann sei wegen Wilderns zu sechs Jahren Galeere verurteilt
worden. Vier Jahre habe er verbüßt. Seine Frau und Kinder seien in großer Not.
Wenn jemand für ihn einträte, würde er natürlich freigelassen. Da ließ sich
Vinzenz von Paul an die Galeere schmieden. Und der Mann durfte heimkehren.
Das ist ein schwaches Gleichnis für die Erlösung Jesu. Wer
will sie auch erklären? Aber im Glauben darf man es erfahren: »Die Strafe
liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten« (Jesaja 53, 5).
Und der Glaube bekennt mit Luther: »Ich glaube, dass Jesus
Christus sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset
hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des
Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blut
und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben, auf dass ich sein eigen sei...
«
3. Es geht nicht darum, ob Gott zu Jesus Lust hat, sondern
darum, ob er zu uns noch Lust hat
Da spotteten die Feinde Jesu in ihrer geistlichen Blindheit
unter dem Kreuz: »Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, hat er Lust zu
ihm!« Welch ein Missverständnis! Das ist keine Frage, ob Gott Lust zu seinem
Sohn hat. Zweimal hat Gott vernehmlich gesagt: »Dies ist mein lieber Sohn, an
dem ich Wohlgefallen habe.« Nein, darum geht es, ob Gott noch Lust zu diesen
Menschen hat. Wenn ich Gott wäre, hätte ich keine Lust zu dieser blinden,
blutdürstigen, verkehrten, charakterlosen Menschheit. Aber — und das ist das
unfassbare Wunder des Evangeliums — Gott hat zu dieser Menschheit Lust, so
Lust, dass er seinen eingeborenen Sohn ans Kreuz gab. Lasst mich ein Bild
gebrauchen. Und nun will ich reden mit denen, die einen Sohn im Felde verloren
haben. Oh, wie blutet da das Herz! Wenn es könnte, würde es den Sohn aus der
Erde holen. Meint ihr, Gottes Vaterherz sei anders? Er hat auch Söhne und
Töchter, die tot sind, geistlich tot, tot in Sünde und Gottesferne, gefallen!
Ja, gefallen in Unglaube, Ungehorsam, Verdammnis.
Da entbrennt sein Herz. Er kann es nicht lassen: Er will sie
aus dem Tode erretten. Darum hängt der Heiland am Kreuz.
Wer's nicht verstehen kann, der glaube doch denen, die es
schon erfahren haben: sein Tod ist unser Leben; sein Sterben ist unsere
Versöhnung. Sieh doch Gottes Werben um dich, dass er seinen Sohn gibt. Oh, wie
hat Gott Lust an denen, die glauben und sich bekehren, die gekleidet sind in
die Gerechtigkeit Jesu Christi.