„Nach dem Winde kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im
Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im
Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Da das Elia hörte,
verhüllte er sein Antlitz..."
1. Könige 19, 11-13
Das Christentum hat in unserer Zeit noch einmal eine
seltsame Breitenwirkung erlangt: Die Kirche hat eine Bedeutung im öffentlichen
Leben, die Zeitungen berichten von kirchlichen Tagungen, leitende Kirchenmänner
bekommen eine unerhörte Popularität. Es liegt darin eine Gefahr: Ein schmaler
Fluss fließt tief und reißend. Wenn aber der Fluss über die Ufer tritt und das
Land überschwemmt, entsteht leicht ein stagnierender Sumpf.
In dieser unserer Situation wurde mir eine kleine Geschichte
aus dem Neuen Testament wichtig. Da traten die Jünger zu Jesus: „Herr, meinst
du, dass viele selig werden?" Es ging ihnen auch um große Wirkungen. Aber
Jesus antwortete: „Ringet danach, dass ihr durch die enge Pforte
eingehet!" Jesus ist doch ein rechter Individualist! Wie wenig passt Er in
dies Zeitalter der Massenbewegungen! Aber wir müssen Ihn ernst nehmen! „Durch
die enge Pforte eingehen" — das heißt: Seinen ganzen Willen dem Sohne
Gottes hingeben, der uns versöhnt und erlöst hat — am Kreuz.
Ja, das Kreuz ist das Wichtigste! Darum soll hier immer
neues Licht auf das Kreuz fallen — auch durch diese Geschichte vom Erleben des
Elia am Berge Horeb. Lasst uns heute nachdenken über
1. Es sagt uns, wie Gott sich offenbart
Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Geschichte selbst. Der
gewaltige Prophet Elia musste fliehen vor der blutgierigen gottlosen Königin
Isebel. In einer Höhle des einsamen Felsengebirges am Horeb fand er Zuflucht.
Eines Tages rief ihn eine Stimme: „Geh hinaus und tritt vor
den Herrn!" Elia tat es. Und dann kam ein großer, starker Wind, der die
Felsen zerriss und die Bäume entwurzelte. Aber der Herr war nicht in dem Sturm.
Dann kam ein Erdbeben. Der Felsen schwankte. Aber der Herr war nicht im Erdbeben.
Dann kam ein verzehrendes Feuer.
Aber der Herr war nicht im Feuer. Und dann wurde es auf
einmal totenstill. In diese Stille hinein tönte ein liebliches, sanftes Sausen.
Da verhüllte Elia sein Angesicht vor dem Herrn mit dem Zipfel seines Gewandes.
Unser Gott kann auch in Feuer und Sturm und Erdbeben kommen.
So hat Ihn Israel erlebt, als Er ihm an diesem Berge Horeb die Zehn Gebote gab.
Davon spricht der 18. Psalm Vers 8-11: „Die Erde bebte und ward bewegt, und die
Grundfesten der Berge regten sich... verzehrendes Feuer ging von seinem Munde
... er schwebte auf den Fittichen des Sturmes..."
Aber nun kündigt hier der Herr dem Elia eine neue, ganz
andere Offenbarung an: nicht in Sturm und Feuer und Erdbeben, sondern im
stillen, sanften Sausen. Was bedeutet das nun? Das ist die herzbewegliche
Liebe, die den eingeborenen Sohn an unsrer Statt dahingab, das ist die
Botschaft von der freien Gnade Gottes für solche, die vor Gott schuldig sind. O
dies herrliche sanfte Sausen! Tersteegen singt im Anblick des Kreuzes: „Ich
bete an die Macht der Liebe, / die sich in Jesus offenbart. / Ich geb mich hin
dem freien Triebe, / mit dem ich Wurm geliebet ward ..."
Nirgendwo anders finden wir heute Gott als in dem stillen,
sanften Sausen, das vom Kreuz von Golgatha herweht. „Gott war nicht im Sturm,
Erdbeben und Feuer." Solche Dinge haben wir auch erlebt. Da ging im Jahre
1933 ein Sturm durch unser Land. Und viele sagten: „In diesem Aufbruch unseres
Volkes haben wir Gott erlebt." Der Herr aber war nicht im Sturm. — Und
dann hat die Erde unter uns gewankt: Alles wurde unsicher. Verzehrendes Feuer
ging über unsere Städte. Aber der Herr war nicht im Erdbeben und Feuer. Er ließ
nur eine blinde, verlorene Welt, die sich von Ihm losgesagt hatte, tun, was
sie wollte.
Aber — Gott wird noch heute gefunden im stillen, sanften
Sausen Seiner unendlichen Liebe, die wir im Angesicht des gekreuzigten Sohnes
Gottes lesen dürfen. „Für mich gab er sein Leben dar, / der ich von seinen
Feinden war!"
2. Es ist ein stilles Sausen
Erlaubt mir, dass ich eine kleine Verschiebung in den
Kulissen des
Welttheaters vornehme, und stellt euch vor, dort am Horeb
habe ein
modernes Kurhaus gestanden. Wie wäre es da zugegangen?
Als das Erdbeben und das Feuer kamen —: Gekreisch, Panik,
Fluchen
und Geschrei! Dann ist der Sturm vorüber. Die Gäste atmen
auf. Das Radio wird wieder angestellt, Tanzmusik ertönt, das junge Volk improvisiert
ein kleines Fest, die älteren Herren gehen an die Bar, um auf den Schrecken hin
einen Kognak zu trinken... Und das stille, sanfte Sausen? Das hätte keiner mehr
gehört. Denn — es war zu laut in ihnen und um sie herum.
Bitte, haltet das jetzt nicht für eine Spielerei der
Phantasie. Denn tatsächlich ereignet sich gerade dies beständig unter uns. Das
stille, sanfte Sausen — das Gnadenwort Gottes für bedrückte, hungrige Herzen,
ergeht auch in dieser Stunde von dem Kreuze Jesu. Dieses ewige Kreuz ist wie
ein Sender des lebendigen großen Gottes. Unablässig sendet es den Ruf in die
Welt: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem
Namen gerufen. Du bist mein!" (Jesaja 43, 1). Oder: „Ich vertilge deine
Missetaten wie eine Wolke und deine Sünden wie den Nebel. Kehre dich zu mir,
denn ich erlöse dich" (Jesaja 44, 22). Oder: „Fürwahr, er trug unsre
Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen" (Jesaja 53, 4). Oder: „Gott
war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber... Lasset euch versöhnen
mit Gott" (2. Korinther 5, 20).
Aber wer hört schon diese Sendung Gottes? Es heißt von
diesem stillen, sanften Sausen, das vom Kreuz ausgeht, an einer anderen Stelle
des Propheten Jesaja: „Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird
man nicht hören auf den Gassen."
O Freunde, das Geschrei der Gasse ist so laut geworden mit
Radio, Politik, Fußball, Karneval, Reklame, Kino und Fernsehen, dass es uns
grauenvoll gefangen nimmt.
Wie heißt es nun aber in unsrer Geschichte? „Da das Elia
hörte ..." Er hörte es! O macht's wie er! Geht an euren Horeb! Ringt um
Stille, bis das stille, sanfte Sausen der Liebe und freien Gnade Gottes in
euer Herz hineindringt!
Eine stille Schar sammelt sich um das Kreuz. Und sie, die
das stille Sausen gehört hat, bekennt: „Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du
aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn
du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück" (Jesaja 38, 17).
3. Was vorausgeht, ist auch wichtig
Ehe das Sausen kam, gingen Feuer, Sturm und Erdbeben voraus.
Das ist auch bedeutungsvoll. Ehe man nämlich das stille, sanfte Sausen der
herzbeweglichen Sünderliebe Gottes vom Kreuze her richtig hören kann, muss ein
Zerbrechen vorausgehen. Da kommt der Sturm, der unsre Selbstsicherheit
zerstört. Da kommt das Erdbeben, dass wir merken: Alles, worauf wir uns
verließen, ist unsicher und schwankend! Da kommt das Feuer des heiligen
Gerichtes Gottes über unser Gewissen, dass wir auf einmal ganz genau wissen:
So, wie ich bin, fahre ich mit all meinem Christentum zur Hölle! So zerbricht
der Herr unser Herz. Da wird es dann aufgetan für das sanfte Sausen: „Kommet
her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch
erquicken."
Denken wir an Petrus. Wie ein stolzer Felsen (Petrus heißt
ja Fels!) stand er, als er seinem Heiland versicherte: „Wenn dich alle verlassen
— ich gehe mit dir in den Tod!"
Aber dann kam die Nacht zum Karfreitag: Der Sturm der Ereignisse verwirrte ihn. Ihn überfiel die Angst vor Menschen; da schwankte der Boden. Und als er seinen Heiland verleugnet hatte, und als Jesus ihn ansah, brannte das Feuer: „Ich bin verloren, ich Verleugner!" Seht, da wurde der Petrus reif für das stille Sausen der Gnade. Der Herr helfe uns zu einer seligen Gnadenerfahrung unter dem Kreuz von Golgatha!