Wilhelm Busch

Die Tenne Ornans

 

„Also gab Ornan David den Platz um Gold... Und David baute daselbst dem Herrn einen Altar und opferte Brandopfer. Und da er den Herrn anrief, erhörte er ihn durch das Feuer vom Himmel... und der Herr sprach zum Engel, dass er sein Schwert in seine Scheide kehrte."

1. Chronik 21, 25-27

 

Gott hat es mir geschenkt, dass ich in meinem Leben viele Reisen machen durfte. Dabei habe ich manche Grenze überschritten. Das war für mich jedes mal ein erregender Augenblick. Unvergesslich ist mir, wie ich das zum erstenmal erlebte. Ich war noch ein kleiner Junge und machte mit meinem Vater eine Wanderung durchs Elsaß. Auf dem einsamen Vogesen-Kamm sah ich den ersten Grenzstein. Mir klopfte das Herz, als ich mit einem Schritt in Frankreich stand. Schließlich gewöhnte ich mich an die aufregende Sache und machte mir den Spaß, mit einem Bein in meinem Vaterland und mit dem ändern im Ausland zu stehen.

Ihr ahnt gewiss, dass wir heute von Grenzsteinen reden wollen. Nein! Nicht von Steinen! Sondern von einem einzigen, von dem wichtig­sten, den es überhaupt gibt.

Wisst ihr, welches der bedeutendste Grenzstein der Welt ist? Es ist das Kreuz Jesu Christi von Golgatha.

 

 

Das Kreuz Christi ist ein Grenzstein

 

1. Die unheimliche alte Geschichte einer Grenze

Da wird uns im Alten Testament berichtet, wie in Israel die Pest wütete. Man kann solch eine Seuche natürlich so ansehen, dass man von Bazillen redet und von hygienischen Maßnahmen. Das hat ge­wiss seine Berechtigung.

Die Bibel aber zeigt uns die Hintergründe: Der Zorn des heiligen Gottes lag über Israel. Der schreckliche Engel des Gerichtes ging durch das Land. Ob es wohl derselbe gewaltige Gottesbote war, der einst in Ägypten die Erstgeburten erwürgte?

Wir wollen jetzt nicht weiter die Ursachen betrachten, die zu diesem Gottesgericht über Israel geführt haben. Es ist genug, wenn wir hier lernen, dass es das gibt: Zorn und Gericht Gottes. Wenn unsere Zeit nicht so unheimlich verstockt wäre, müsste sie ja hellhörig geworden sein für solch ein Bibelwort: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten." (Galater 6, 7). Luther hat ganz recht, wenn er in dem Katechismus sagt: „...darum sollen wir uns fürchten vor Seinem Zorn."

Als ein Prediger einst einen Mann einlud, sonntags doch Gottes Wort zu hören, sagte der lächelnd: „Ich bringe die Sonntage immer mit dem Abschließen meiner Rechnungen zu." Ernst erwiderte der Predi­ger: „Mein Herr, Sie werden finden, dass der Tag des Gerichts auf ganz gleiche Weise zugebracht wird."

Wir haben eine Antenne, mit der wir diesen Zorn Gottes jetzt schon spüren können. Das ist das Gewissen. Wohl uns, wenn unser Ge­wissen erweckt wird! Der große Prediger Spurgeon berichtet, dass er das erste innere Aufwachen als Junge durch ein Wort seiner Mutter erlebte, die ihn mahnte: „Charles, wenn du verloren gehen solltest, dann muss ich am Tage des Gerichts zu Gott sagen: Herr, Deine Ge­richte sind gerecht und wahrhaftig!"

Aber kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Da verwüstete also die Pest das Land, bis der Augenblick kam, wo Gott zu dem Engel sagte: „Es ist genug!" Der Engel stand bei der Tenne Ornans, des Jebusiters. Es ist ein ergreifender Bericht, wie nun der König David dahinlief und den schrecklichen Engel zwischen Himmel und Erde stehen sah mit dem Schwert in der Hand, wie er dem Ornan schnell die Tenne abkaufte, einen Altar errichtete und zum Herrn schrie. Da fiel Feuer vom Himmel als Zeichen, dass die Plage hier ein Ende ge­funden hatte.

Der Altar markierte eine Grenze: Bis hierher ging der Zorn Gottes. Aber hier eben fand er sein Ende. Auf der ändern Seite des Altars waren Friede und Leben.

 

2. Das Kreuz, die entscheidende Grenze

Damit wird dieser Altar zu einem Vorbild für das Kreuz Jesu Christi

auf Golgatha.

Achtet darauf, dass ein Altar die Grenze war zwischen dem Reich des Zorns und dem Reich der Gnade. Alle Gottesaltäre des Alten Testaments aber sind Hinweise auf den einen Altar, auf dem ge­opfert wurde „Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt" — auf das Kreuz. Das Kreuz Jesu ist die Grenze zwischen der Welt, die unter Gottes Gerichtszorn steht, und dem Reich der himmlischen Gnade.

Achtet ferner darauf, dass dieser Altar von Gott selbst durch Feuer vom Himmel legitimiert wurde. Auch das Opfer Jesu wurde so von Gott anerkannt — und zwar durch die Auferweckung Jesu von den Toten. Damit hat Er deutlich gemacht, dass das Opfer Jesu Ihm wohl­gefällig sei und die Grenze Seines Zorns darstelle. So ist also das Kreuz die Grenze. Wer noch nicht durch eine gänz­liche Hinwendung zum gekreuzigten Heiland gekommen ist, steht unter dem Zorn Gottes. Welch ein gefährlicher Stand! Wenn wir doch die Menschen warnen könnten!

Wer aber im Glauben zum gekreuzigten Herrn Jesus kommt, ist ein­getreten in das Reich der Gnade. Das ist ein herrliches und liebliches Reich! Da ist Friede und Freude im Heiligen Geist! Da ist Leben und Seligkeit! Da hat man Gott zum Vater. Man geht mit Ihm um und freut sich, einst ganz bei Ihm zu sein.

Es darf jeder diese Grenze überschreiten. Sie steht für alle offen. Der Schacher ging am Karfreitag hinüber. Und der Hauptmann unter dem Kreuze auch.

Einigen unter uns aber muss ich dies zur Warnung sagen: Man kann es mit diesem Grenzstein nicht machen, wie ich es als Junge mit dem Grenzstein in den Vogesen tat, dass ich nämlich halb diesseits und halb jenseits stand. So wollen manche in der Welt des Zornes Gottes und zugleich im Reich der Gnade leben. Das geht nicht. Wir sind ent­weder hier oder dort.

Haben wir es ganz gefasst: Das Kreuz Jesu ist die Grenze zwischen dem Reich des Zornes Gottes und dem Reich der Gnade. Wir Men­schen wollen nämlich gern eine andere Grenze aufstellen. Da sagt einer: „Ich bin doch ein guter Mensch. Wie sollte Gott mir zürnen!" O Freunde, im Reich des Zornes sind sogenannte „gute Menschen" und offenbare Sünder. Im Reich der Gnade aber sind mit Gott ver­söhnte Leute. Nur das Kreuz ist die Grenze! Denkt auch nicht, dass man sich mit einem unbekehrten Herzen etwa auf seine Kindertaufe berufen könnte! Der Glaubensschritt zum Kreuz kann durch nichts ersetzt werden.

Es muss auch noch darauf hingewiesen werden: Wir haben in unserer Zeit viele Grenzveränderungen erlebt. Die Grenze aber zwischen dem Reich des Verlorenseins und dem Reich der Gnade ist ewig unver­rückbar. Die hat Gott gesetzt.

 

3. Die Flucht über die Grenze

Ich las einmal einen Bericht, wie ein Mann in der Zeit des Dritten Reiches von der Gestapo gehetzt wurde. Er floh. Die Angst jagte ihn. Was war das für eine Stunde, als er in einer dunklen Nacht die Schweizer Grenze überschritt! Als die Sonne aufging, war er in der Freiheit. „Gerettet!" sagte er nur immer wieder vor sich hin, als er auf der anderen Seite des Grenzsteines stand.

So geht es den Leuten, die zu Jesu Kreuz gekommen sind. Vorher fühlten sie im Gewissen den Zorn Gottes über ihre Sünde stärker und stärker. Doch war keine Kraft da, anders zu werden. So war ihr Herz nur voll Angst und Unruhe. Vor dem Worte Gottes flohen sie. Denn es schien ihnen lauter Drohungen zu enthalten. Bis sie an den Grenzstein kamen. Zinzendorf singt: „Ich bin durch manche Zeiten, / ja auch durch Ewigkeiten / in meinem Geist ge­reist. / Nichts hat mir's Herz genommen, / als da ich angekommen / auf Golgatha. Gott sei gepreist!"