Wilhelm Busch

Die Freistädte

 

„Und sollen unter euch solche Freistädte sein vor dem Bluträcher, dass der nicht sterben müsse, der einen Totschlag getan hat."                                                                

4. Mose 35, 12

 

Kein Mund ist imstande, genügend auszusagen, was an jenem Kar­freitag geschah, als Gott Seinen Sohn dahingab für uns. Kein Dogma kann das Geheimnis des Kreuzes in genügsamer Weise beschreiben.

Aber wir dürfen ganz praktisch erfahren, dass das Kreuz Christi unsere Errettung ist. Wie das geschieht, möchte ich euch klarmachen an einem Manne, der viele hundert Jahre vor Jesu Geburt gelebt hat. Die Geschichte dieses Mannes aus dem Alten Bund ist ein Vorbild unserer Errettung.

Versetzen wir uns um 3000 Jahre zurück. Wir stehen an einem Grenzstein, der sagt, dass hier die Gemarkung der Stadt Sichern be­ginnt. Da kommt mit eilendem Schritt ein Mann daher auf der Straße von Jerusalem. Er sieht nicht die Pracht der herrlichen Berge ringsum. Er achtet nicht auf die Schönheit dieses wundervollen Tales mit sei­nen Olivengärten und Obsthainen. Er eilt nur vorwärts. Als er den Grenzstein erreicht hat, bleibt er aufatmend stehen. „Gerettet!" ruft er jubelnd. Wir halten ihn an und legen ihm drei Fragen vor.

 

 

Drei Fragen an einen, der sich um seine Rettung sorgt

 

1. Wohin läufst du?

»Wohin eilst du so sehr?" fragen wir den Mann. Daraufhin zeigt er auf das Städtchen Sichern, das im Sonnenglanz vor uns liegt, und sagt das seltsame Wort: „Zur Freistadt!"

Was ist denn das — eine Freistadt? In alter Zeit gab es eine Sitte, die da und dort heute noch bestehen soll: die Blutrache. Wenn jemand einen andern erschlug, dann war der nächste Verwandte verpflichtet dem Schuldigen nachzueilen, bis er an ihm das Gericht vollzogen hatte.

Gott hat in Seiner Geduld bei den Israeliten diese Sitte bestehen las­sen. Aber Er hat eine wundervolle Einrichtung getroffen: Als sie in das Land Kanaan zogen, befahl Er ihnen, sie sollten Freistädte schaf­fen. Wenn nun jemand aus Versehen einen andern erschlüge, dann sollte der Schuldige in die Freistadt fliehen. Hier sollte er sicher sein. Ich habe mir das lebhaft vorgestellt: Da sind ein paar Männer beim Holzfällen. Einer holt weit aus und trifft einen andern mit seiner Axt an den Kopf. Der sinkt tot um. Die Arbeitskameraden werden auf­merksam. Sie springen herbei. Da lässt der Schuldige alles liegen und rennt los. Er läuft um sein Leben. Er gönnt sich keine Ruhe. Schon liegt Sichern vor ihm. Da sieht er die Verfolger dicht hinter sich. Ob­wohl seine Kraft zu Ende ist, rennt er weiter. Da ist der Grenzstein. Er sinkt nieder. Die Verfolger bleiben stehen, kehren um. Ich habe das früher in der Bibel recht uninteressiert gelesen. Bis ich selber in die Lage des Schuldigen kam. Ich sah einen furchtbaren Rächer hinter mir: Gottes Gesetz. O ja, ich habe es übertreten! Wo­hin soll ich fliehen vor Seinem Zorn? Er wird mich einholen. Und Seine Gerechtigkeit wird mich richten.

Da hörte ich im Evangelium von einer Freistadt. Es ist Jesu Kreuz auf Golgatha. Es ist eine herrlichere Freistadt als Sichern. Dorthin durfte nur fliehen, wer versehentlich gefehlt hatte. Golgatha aber ist Freistadt für alle Sünder.

Nun lasst uns noch mal zu jenem Mann zurückkehren, der nach Sichern floh. „Höre!" sagen wir zu ihm. „Du bist aber gut dran, dass du diese Freistadt so in der Nähe hattest! Was soll aber einer tun, der weit weg von Sichern wohnt?" Da antwortet er uns: „Gott hat bestimmt, dass mehrere Freistädte vorhanden sind. Es gibt keinen Ort, von wo aus nicht schnell eine Freistadt zu erreichen wäre." Welch herrliches Bild für das Kreuz von Golgatha! Es ist jedem nahe. Jesus Christus ist überall erreichbar. Und es ist keiner unter uns, der nicht heute zu Ihm fliehen dürfte.

 

2. Warum fliehst du?

Das ist die zweite Frage, die wir dem Mann dort in Sichern stellen:

„Warum läufst du nach Sichern?" Nun, nach dem bisher Gesagten

kennen wir seine Antwort: „Meine Schuld treibt mich!"

Schuld! Sünde! Das ist ein Wort, das dem natürlichen Menschen verhasst ist. Vor kurzem sagte mir ein kluger Mann: „Ich bin so traurig über mein Volk. Wir klagen heute die ganze Welt an. Aber wir drücken uns an dem Bekenntnis vorbei: Wir sind schuldig! Wir ernten heute, was wir gesät haben. Und wir alle tragen doch mit

Schuld." Haben wir uns unsern Anteil an der Schuld unseres Volkes einmal klargemacht?

Ja, häufen wir nicht jeden Tag vor Gott Schuld auf Schuld? O dass wir doch Zwiesprache halten wollten mit unserem Gewissen! Es ist so befreiend, wenn wir vor Gott treten und bekennen: „Ich habe ge­sündigt!"

Unsere Väter waren darin — wie ich glaube — viel aufrichtiger. Ich habe in meiner Bücherei ein altes Kommunion-Büchlein, das behilf­lich sein will zu einer rechten Vorbereitung fürs Heilige Abendmahl. Da zeigt der Verfasser, wie man sein Leben an den Geboten Gottes prüfen muss. So sollten wir mit unserem Gewissen Zwiesprache hal­ten. Dann verginge uns unsere falsche Sicherheit. Dann würden wir uns dem Laufe des Mannes anschließen, der zur Freistadt eilt. Lasst uns wieder zu diesem Manne zurückkehren. Ich möchte ihn fra­gen: „Sag mal, ich sehe dich ganz allein laufen. Warum kümmerst du dich nicht darum, was die anderen tun?" Da antwortet er mir: „Was gehen mich in meinem Fall die anderen Leute an? Ich, ich habe gesündigt! Hier ist nur die Rede von meiner Schuld." So geht es allen denen, die nach Golgatha eilen zum Kreuze Jesu. Ihr Gewissen ist so laut geworden, dass es ihnen vergangen ist, von der Sünde anderer zu reden. Sie wissen nur noch eins: Ich bin ver­loren, wenn sich mir die Freistadt nicht auftut.

So eilen sie zum Kreuze. Sie haben keine Zeit zu verlieren — wie der Mann, der nach Sichern lief. Er hatte nicht erst Abschied genommen zu Hause. Er war noch in seiner Arbeitskleidung. O dass wir es so eilig hätten, die Freistadt für Sünder im Kreuze Jesu aufzusuchen! Wer weiß denn, ob es morgen nicht zu spät sein kann?! Wie, wenn der Tod uns heute überfiele in unsern Sünden und schleppte uns vor Gottes Tribunal?

 

3. Wer schützt dich in der Freistadt?

Wir stehen noch einmal vor dem Mann, der nach Sichern floh. Und wir fragen ihn: „Wer schützt dich nun hier? Wir sehen doch keine starken Mauern um Sichern. Warum fühlst du dich hier sicher?" Und er antwortet: „Weil Gott es so bestimmt hat."

Gott selber hat uns die Freistadt auf Golgatha geschenkt. Gott selber hat es bestimmt: „... auf dass alle, die an den gekreuzigten Heiland glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."

Gott selber hat es so festgesetzt, dass Jesus, der Gekreuzigte, „die Versöhnung ist für unsre Sünden, und nicht nur für die unsrigen, sondern für die der ganzen Welt".

Versteht ihr, was das heißt? Wenn 10000 Bluträcher gegen unsern Freund heranzögen, dann dürfte er sich doch an den Grenzstein leh­nen und gelassen zusehen, wie alle 10 000 abziehen müssten.

Mehr als 10000 menschliche Bluträcher haben sich gegen mich auf­gemacht: Gottes Gesetz verklagt mich hart. Ich habe es übertreten. Gottes Zorn entbrennt mit Recht gegen mich — das stellten wir eben schon fest. Dazu hält mein eigenes Gewissen mir vor: „Du bist ein Sünder und Gottloser!" Der Teufel behauptet, ich hätte mich ja längst mit ihm eingelassen, und er habe ein Recht auf mich. Die Welt hält mich mit tausend Klammern und sagt: „Du gehörst mir!" Wohin soll ich denn noch fliehen? Das Kreuz Jesu ist meine Frei­stadt. Da darf ich im Glauben stehen und allem trotzen, sogar dem Tod! Gott hat die Freistadt gesetzt. Wer will ihren Frieden brechen?! Und so singt der Glaube, zitternd und doch geborgen:

 

„Nichts, nichts kann mich verdammen,

Nichts nimmet mir mein Herz;

Die Höll' und ihre Flammen,

Die sind mir nur ein Scherz;

Kein Urteil mich erschrecket,

Kein Unheil mich betrübt,

Weil mich mit Flügeln decket

Mein Heiland, der mich liebt."