„Und sollen unter euch solche Freistädte sein vor dem Bluträcher, dass
der nicht sterben müsse, der einen Totschlag getan hat."
4. Mose 35, 12
Kein Mund ist imstande, genügend auszusagen, was an jenem Karfreitag
geschah, als Gott Seinen Sohn dahingab für uns. Kein Dogma kann das Geheimnis
des Kreuzes in genügsamer Weise beschreiben.
Aber wir dürfen ganz praktisch erfahren, dass das Kreuz Christi unsere
Errettung ist. Wie das geschieht, möchte ich euch klarmachen an einem Manne,
der viele hundert Jahre vor Jesu Geburt gelebt hat. Die Geschichte dieses
Mannes aus dem Alten Bund ist ein Vorbild unserer Errettung.
Versetzen wir uns um 3000 Jahre zurück. Wir stehen an einem Grenzstein,
der sagt, dass hier die Gemarkung der Stadt Sichern beginnt. Da kommt mit
eilendem Schritt ein Mann daher auf der Straße von Jerusalem. Er sieht nicht
die Pracht der herrlichen Berge ringsum. Er achtet nicht auf die Schönheit
dieses wundervollen Tales mit seinen Olivengärten und Obsthainen. Er eilt nur
vorwärts. Als er den Grenzstein erreicht hat, bleibt er aufatmend stehen.
„Gerettet!" ruft er jubelnd. Wir halten ihn an und legen ihm drei Fragen
vor.
1. Wohin läufst du?
»Wohin eilst du so sehr?" fragen wir den Mann. Daraufhin zeigt er
auf das Städtchen Sichern, das im Sonnenglanz vor uns liegt, und sagt das
seltsame Wort: „Zur Freistadt!"
Was ist denn das — eine Freistadt? In alter Zeit gab es eine Sitte, die
da und dort heute noch bestehen soll: die Blutrache. Wenn jemand einen andern
erschlug, dann war der nächste Verwandte verpflichtet dem Schuldigen
nachzueilen, bis er an ihm das Gericht vollzogen hatte.
Gott hat in Seiner Geduld bei den Israeliten diese Sitte bestehen lassen.
Aber Er hat eine wundervolle Einrichtung getroffen: Als sie in das Land Kanaan
zogen, befahl Er ihnen, sie sollten Freistädte schaffen. Wenn nun jemand aus
Versehen einen andern erschlüge, dann sollte der Schuldige in die Freistadt
fliehen. Hier sollte er sicher sein. Ich habe mir das lebhaft vorgestellt: Da
sind ein paar Männer beim Holzfällen. Einer holt weit aus und trifft einen
andern mit seiner Axt an den Kopf. Der sinkt tot um. Die Arbeitskameraden werden
aufmerksam. Sie springen herbei. Da lässt der Schuldige alles liegen und rennt
los. Er läuft um sein Leben. Er gönnt sich keine Ruhe. Schon liegt Sichern vor
ihm. Da sieht er die Verfolger dicht hinter sich. Obwohl seine Kraft zu Ende
ist, rennt er weiter. Da ist der Grenzstein. Er sinkt nieder. Die Verfolger
bleiben stehen, kehren um. Ich habe das früher in der Bibel recht
uninteressiert gelesen. Bis ich selber in die Lage des Schuldigen kam. Ich sah
einen furchtbaren Rächer hinter mir: Gottes Gesetz. O ja, ich habe es
übertreten! Wohin soll ich fliehen vor Seinem Zorn? Er wird mich einholen. Und
Seine Gerechtigkeit wird mich richten.
Da hörte ich im Evangelium von einer Freistadt. Es ist Jesu Kreuz auf
Golgatha. Es ist eine herrlichere Freistadt als Sichern. Dorthin durfte nur
fliehen, wer versehentlich gefehlt hatte. Golgatha aber ist Freistadt für alle
Sünder.
Nun lasst uns noch mal zu jenem Mann zurückkehren, der nach Sichern
floh. „Höre!" sagen wir zu ihm. „Du bist aber gut dran, dass du diese
Freistadt so in der Nähe hattest! Was soll aber einer tun, der weit weg von
Sichern wohnt?" Da antwortet er uns: „Gott hat bestimmt, dass mehrere
Freistädte vorhanden sind. Es gibt keinen Ort, von wo aus nicht schnell eine
Freistadt zu erreichen wäre." Welch herrliches Bild für das Kreuz von
Golgatha! Es ist jedem nahe. Jesus Christus ist überall erreichbar. Und es ist
keiner unter uns, der nicht heute zu Ihm fliehen dürfte.
2. Warum fliehst du?
Das ist die zweite Frage, die wir dem Mann dort in Sichern stellen:
„Warum läufst du nach Sichern?" Nun, nach dem bisher Gesagten
kennen wir seine Antwort: „Meine Schuld treibt mich!"
Schuld! Sünde! Das ist ein Wort, das dem natürlichen Menschen verhasst
ist. Vor kurzem sagte mir ein kluger Mann: „Ich bin so traurig über mein Volk.
Wir klagen heute die ganze Welt an. Aber wir drücken uns an dem Bekenntnis
vorbei: Wir sind schuldig! Wir ernten heute, was wir gesät haben. Und wir alle
tragen doch mit
Schuld." Haben wir uns unsern Anteil an der Schuld unseres Volkes
einmal klargemacht?
Ja, häufen wir nicht jeden Tag vor Gott Schuld auf Schuld? O dass wir
doch Zwiesprache halten wollten mit unserem Gewissen! Es ist so befreiend, wenn
wir vor Gott treten und bekennen: „Ich habe gesündigt!"
Unsere Väter waren darin — wie ich glaube — viel aufrichtiger. Ich habe
in meiner Bücherei ein altes Kommunion-Büchlein, das behilflich sein will zu
einer rechten Vorbereitung fürs Heilige Abendmahl. Da zeigt der Verfasser, wie
man sein Leben an den Geboten Gottes prüfen muss. So sollten wir mit unserem
Gewissen Zwiesprache halten. Dann verginge uns unsere falsche Sicherheit. Dann
würden wir uns dem Laufe des Mannes anschließen, der zur Freistadt eilt. Lasst
uns wieder zu diesem Manne zurückkehren. Ich möchte ihn fragen: „Sag mal, ich
sehe dich ganz allein laufen. Warum kümmerst du dich nicht darum, was die
anderen tun?" Da antwortet er mir: „Was gehen mich in meinem Fall die
anderen Leute an? Ich, ich habe gesündigt! Hier ist nur die Rede von meiner
Schuld." So geht es allen denen, die nach Golgatha eilen zum Kreuze Jesu.
Ihr Gewissen ist so laut geworden, dass es ihnen vergangen ist, von der Sünde
anderer zu reden. Sie wissen nur noch eins: Ich bin verloren, wenn sich mir
die Freistadt nicht auftut.
So eilen sie zum Kreuze. Sie haben keine Zeit zu verlieren — wie der
Mann, der nach Sichern lief. Er hatte nicht erst Abschied genommen zu Hause. Er
war noch in seiner Arbeitskleidung. O dass wir es so eilig hätten, die
Freistadt für Sünder im Kreuze Jesu aufzusuchen! Wer weiß denn, ob es morgen
nicht zu spät sein kann?! Wie, wenn der Tod uns heute überfiele in unsern
Sünden und schleppte uns vor Gottes Tribunal?
3. Wer schützt dich in der Freistadt?
Wir stehen noch einmal vor dem Mann, der nach Sichern floh. Und wir
fragen ihn: „Wer schützt dich nun hier? Wir sehen doch keine starken Mauern um
Sichern. Warum fühlst du dich hier sicher?" Und er antwortet: „Weil Gott
es so bestimmt hat."
Gott selber hat uns die Freistadt auf Golgatha geschenkt. Gott selber
hat es bestimmt: „... auf dass alle, die an den gekreuzigten Heiland glauben,
nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."
Gott selber hat es so festgesetzt, dass Jesus, der Gekreuzigte, „die
Versöhnung ist für unsre Sünden, und nicht nur für die unsrigen, sondern für
die der ganzen Welt".
Versteht ihr, was das heißt? Wenn 10000 Bluträcher gegen unsern Freund
heranzögen, dann dürfte er sich doch an den Grenzstein lehnen und gelassen
zusehen, wie alle 10 000 abziehen müssten.
Mehr als 10000 menschliche Bluträcher haben sich gegen mich aufgemacht:
Gottes Gesetz verklagt mich hart. Ich habe es übertreten. Gottes Zorn entbrennt
mit Recht gegen mich — das stellten wir eben schon fest. Dazu hält mein eigenes
Gewissen mir vor: „Du bist ein Sünder und Gottloser!" Der Teufel
behauptet, ich hätte mich ja längst mit ihm eingelassen, und er habe ein Recht
auf mich. Die Welt hält mich mit tausend Klammern und sagt: „Du gehörst
mir!" Wohin soll ich denn noch fliehen? Das Kreuz Jesu ist meine Freistadt.
Da darf ich im Glauben stehen und allem trotzen, sogar dem Tod! Gott hat die
Freistadt gesetzt. Wer will ihren Frieden brechen?! Und so singt der Glaube,
zitternd und doch geborgen:
„Nichts, nichts
kann mich verdammen,
Nichts nimmet mir
mein Herz;
Die Höll' und ihre
Flammen,
Die sind mir nur
ein Scherz;
Kein Urteil mich
erschrecket,
Kein Unheil mich
betrübt,
Weil mich mit
Flügeln decket
Mein Heiland, der mich liebt."