Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

Tante Regine

 

„O, welch köstlicher Sonnenschein! Da möchte ich wirklich ins Freie hinaus!“ rief ich an einem prächtigen März-Morgen. „ Wo könnte ich denn hin?“ fragte ich meine Familie.

„Besuche doch wieder einmal die Tante Regine! Wir haben schon lange nichts mehr von ihr gehört“, meinte meine Frau.

Das war eine gute Idee. Tante Regine war eine prächtige Frau: klug, gebildet, fromm, aufrichtig – kurz, man hatte immer etwas davon, wenn man mit ihr zusammen war.

Diese Tante wohnte in Wuppertal. Mit dem Rad war das Städtchen in einer guten Stunde zu erreichen, man erlebte dabei das schöne bergische Land und tat obendrein noch etwas Nützliches. Gewiss würde es die Tante freuen, wenn ich einmal nach ihr sah.

So fuhr ich also los in den schönen Sonnenschein.

Da stand ich auch schon vor dem Hause meiner Tante und klopfte. – Keine Stimme noch Antwort. Ich pochte heftiger.

Endlich ging oben ein Fenster auf, eine Frau schaute heraus und teilte mir mit, die Tante sei krank und liege im Krankenhaus.

Die arme, alte, einsame Tante! Die braucht mich! Ich frage mich durch zu dem Spital.

Und dann stehe ich vor dem Bett der Patientin. Ich sehe sofort, dass es ernst um sie steht. Sie ist sehr elend. Aber nun bin ich soweit gefahren. Da möchte ich doch nicht ganz umsonst gekommen sein! Und wenn aus einem Gespräch auch nichts wird, so möchte ich ihr doch wenigstens ein Wort Gottes sagen.

So nehme ich ihre schmale, blasse Hand, beuge mich zu ihr hinab und sage langsam das herrliche Wort aus dem 23. Psalm: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“

Da schüttelt sie traurig den Kopf und zeigt auf ihre Ohren. Ich verstehe: Sie ist so schwerhörig geworden, dass ich lauter sprechen muss. Also brülle ich ihr das Wort noch einmal ins Ohr. Aber sie schüttelt ihren weißen Kopf. Sie hat es nicht verstanden.

Einen Augenblick bin ich ratlos. Soll die ganze Fahrt umsonst gewesen sein?

Da fällt mir etwas ein: Ich reiße ein Blatt aus meinem Notizbuch und schreibe den Spruch groß und deutlich darauf. Sie nimmt das Blatt, versucht zu lesen – es geht auch nicht. Ihre Augen sind zu schwach. Mühselig richtet sie sich auf, nimmt ein Vergrößerungsglas vom Nachttisch und versucht, damit das Geschriebene zu entziffern.

Sie versucht! Aber es gelingt nicht. Und mit einer erschütternden Gebärde lässt sie Blatt und Glas sinken und legt sich in die Kissen zurück. – –

Mir wollen die Tränen kommen: Wie furchtbar ist das! Ich verstehe, dass diese Frau wie lebendig eingemauert ist. Kein Ton und keine Nachricht von draußen dringen zu ihr hinein. Und dies bei einem so regen und lebendigen Geist!

Da sagt sie mit leiser Stimme: „Ja, ich bin ein armer Mensch. Ich kann nicht mehr sehen und nicht mehr hören …“ Und dann – mit einem tiefen Aufatmen: „Aber ich habe den Heiland! Und wer den Heiland hat, der hat genug.

Müde fuhr ich mit meinem Rad nach Hause zurück. Aber in meinem Herzen lag ein großes Freuen: Wie reich macht der Herr Jesus Seine Leute! Und auf einmal erkannte ich, wozu mir diese Fahrt bestimmt gewesen war: Ich wollte eine alte Frau trösten, und sie hat mich herrlich getröstet.