„O, welch köstlicher
Sonnenschein! Da möchte ich wirklich ins Freie hinaus!“ rief ich an einem
prächtigen März-Morgen. „ Wo könnte ich denn hin?“ fragte ich meine Familie.
„Besuche doch wieder einmal
die Tante Regine! Wir haben schon lange nichts mehr von ihr gehört“, meinte
meine Frau.
Das war eine gute Idee.
Tante Regine war eine prächtige Frau: klug, gebildet, fromm, aufrichtig – kurz,
man hatte immer etwas davon, wenn man mit ihr zusammen war.
Diese Tante wohnte in
Wuppertal. Mit dem Rad war das Städtchen in einer guten Stunde zu erreichen, man
erlebte dabei das schöne bergische Land und tat obendrein noch etwas
Nützliches. Gewiss würde es die Tante freuen, wenn ich einmal nach ihr sah.
So fuhr ich also los in den
schönen Sonnenschein.
Da stand ich auch schon vor
dem Hause meiner Tante und klopfte. – Keine Stimme noch Antwort. Ich pochte
heftiger.
Endlich ging oben ein
Fenster auf, eine Frau schaute heraus und teilte mir mit, die Tante sei krank
und liege im Krankenhaus.
Die arme, alte, einsame
Tante! Die braucht mich! Ich frage mich durch zu dem Spital.
Und dann stehe ich vor dem
Bett der Patientin. Ich sehe sofort, dass es ernst um sie steht. Sie ist sehr elend.
Aber nun bin ich soweit gefahren. Da möchte ich doch nicht ganz umsonst
gekommen sein! Und wenn aus einem Gespräch auch nichts wird, so möchte ich ihr
doch wenigstens ein Wort Gottes sagen.
So nehme ich ihre schmale,
blasse Hand, beuge mich zu ihr hinab und sage langsam das herrliche Wort aus dem
23. Psalm: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein
Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“
Da schüttelt sie traurig den
Kopf und zeigt auf ihre Ohren. Ich verstehe: Sie ist so schwerhörig geworden,
dass ich lauter sprechen muss. Also brülle ich ihr das Wort noch einmal ins
Ohr. Aber sie schüttelt ihren weißen Kopf. Sie hat es nicht verstanden.
Einen Augenblick bin ich
ratlos. Soll die ganze Fahrt umsonst gewesen sein?
Da fällt mir etwas ein: Ich reiße
ein Blatt aus meinem Notizbuch und schreibe den Spruch groß und deutlich
darauf. Sie nimmt das Blatt, versucht zu lesen – es geht auch nicht. Ihre Augen
sind zu schwach. Mühselig richtet sie sich auf, nimmt ein Vergrößerungsglas vom
Nachttisch und versucht, damit das Geschriebene zu entziffern.
Sie versucht! Aber es
gelingt nicht. Und mit einer erschütternden Gebärde lässt sie Blatt und Glas
sinken und legt sich in die Kissen zurück. – –
Mir wollen die Tränen
kommen: Wie furchtbar ist das! Ich verstehe, dass diese Frau wie lebendig
eingemauert ist. Kein Ton und keine Nachricht von draußen dringen zu ihr
hinein. Und dies bei einem so regen und lebendigen Geist!
Da sagt sie mit leiser
Stimme: „Ja, ich bin ein armer Mensch. Ich kann nicht mehr sehen und nicht mehr
hören …“ Und dann – mit einem tiefen Aufatmen: „Aber ich habe den Heiland!
Und wer den Heiland hat, der hat genug.“
Müde fuhr ich mit meinem Rad
nach Hause zurück. Aber in meinem Herzen lag ein großes Freuen: Wie reich macht
der Herr Jesus Seine Leute! Und auf einmal erkannte ich, wozu mir diese Fahrt
bestimmt gewesen war: Ich wollte eine alte Frau trösten, und sie hat mich
herrlich getröstet.