Damals gab es in Frankfurt
am Main noch keine Trümmer.
Die schöne Pauluskirche mit
all ihren geschichtlichen Erinnerungen stand noch unversehrt.
Inmitten einer großen Menschenmenge
saß ich als junger Student und schaute auf zu dem ehrwürdigen D. Traugott Hahn,
der in großem Segen in Reval gewirkt hatte und nun an seinem Lebensabend
Evangeliums-Vorträge hielt.
Er erzählte: „Eines Tages
wurde ich mit meinem Schwiegersohn Sielmann auf der Straße von den Bolschewiken
verhaftet und in das Gefängnis eingeliefert. Wir litten keine äußere Not dort.
Und die Gemeinschaft, die wir miteinander hatten, gab reiche Stärkung. Aber es
quälte uns, dass unsre Frauen gar nicht wissen konnten, wohin wir gekommen
seien. Sie mussten in großer Sorge sein.
Eines Tages, als es im
Gefängnis sehr still war, ging ganz leise unsere Zellentür auf, ein junger
Wächter trat herein und fragte: „Väterchen, kann ich etwas für Dich tun?“ Hochbeglückt baten wir ihn, unsern Frauen Nachricht zu
bringen. Das hat er auch getan. Und wir hörten später, als wir wieder frei
waren, wie sehr unsre Frauen durch die Botschaft getröstet wurden …“
Und nun erhob der alte D.
Hahn gewaltig seine Stimme und rief: „Wenn an dem Tage der Auferstehung die
Millionen vor dem Herrn stehen, dann will ich nicht ruhen, bis ich jenen jungen
Mann gefunden habe. Und dann will ich zu dem Herrn Jesus sagen: „Herr! Du hast erklärt: Was ihr getan habt
einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. – Dieser junge Mann,
der Dich, Herr, nicht kannte, hat mir, der ich durch den Glauben Dein Bruder
bin, wohlgetan, als ich gefangen war.' Und dann wird der Herr diesen jungen
Mann zu Seiner Rechten stellen. Denn Er lässt es nicht unvergolten, wenn die
Unwissenden Seiner Gemeinde wohl tun.“
Diese kleine Geschichte hat
sich mir unvergesslich eingeprägt. Ich wusste damals noch nicht, dass ich selbst
Ähnliches erleben sollte.
Das war viele Jahre später.
Wieder einmal hatte mich verhaftet und in eine abscheuliche Zelle gesperrt. Man
wollte von mir Aussagen über die „Bekennende Kirche“ erpressen.
Eines Tages hatte ich wieder
eines der ermüdenden Verhöre hinter mir. Das schlimmste in meiner Lage war die
Angst vor dem eigenen Versagen. Würden die Nerven halten, dass man nicht eines
Tages nachgäbe und die Brüder verriete? Würde man nicht doch schließlich mit
gebrochenem Gewissen aus diesem furchtbaren Hause gehen? Der Gestapo-Beamte
hatte mich angebrüllt: „Wir haben schon andre klein gekriegt! Wir kriegen auch Sie
klein!“
Nach einem der ermüdenden
Verhöre hatte man mich wieder in meine trostlose Zelle zurückgebracht. Ich war
erschöpft. Wenn man doch einfach hätte schlafen dürfen! Aber am Tage war es
verboten, sich auf die Pritsche zu legen. So saß ich auf meinem Hocker, und
quälend wanderten die Gedanken: „Welche Schmach werden meine Kinder zu erdulden
haben, wenn Lehrer und Mitschüler sich lächelnd zuflüstern: Deren Vater sitzt
im Gefängnis! Der ist ein Staatsfeind!“
Und dann war es auf einmal
aus. Die Nerven waren am Ende. Hemmungslos musste ich weinen. Ach nein! Man war
kein Held! Hier verging einem aller Heroismus.
Da öffnete sich leise die
Zellentür. Ich sprang auf. Der oberste Aufseher war hereingekommen. Ich wollte
meine Meldung machen. Aber er winkte ab: „Sie dürfen nicht verzweifeln. Es wird
schon alles gut gehen! Und sehen Sie mal, hier habe ich Ihnen etwas zum Lesen
mitgebracht. Das wird Sie auf andre Gedanken bringen!“ Und damit legte er eine –
Jagdzeitung vor mich hin. Dann verschwand er wieder.
Und ich saß und schaute die
Jagdzeitung an. „Halali!“ Ja, ich muss offen gestehen, dass es mir gar nicht halalimäßig zumute war. Und die Aufsätze über die Zucht
guter Jagdhunde oder über die Pflege der Fasanen konnten mir in meiner Lage
wenig bedeuten.
Und doch – nie wieder ist
mir eine Zeitschrift so lieblich und so herrlich vorgekommen wie diese Jagdzeitung.
Sie wurde mir immer schöner, je mehr ich bedachte, dass der Aufseher mit dieser
scheinbar geringen Geste seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt hatte.
Während ich dort saß und auf
die Jagdzeitung starrte, sah ich auf einmal wieder den alten D. Hahn vor mir.
Und ich hörte das Wort Jesu: „Was ihr getan habt einem meiner geringsten
Brüder, das habt ihr mir getan.“