Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

„Was ihr getan habt …“

 

Damals gab es in Frankfurt am Main noch keine Trümmer.

Die schöne Pauluskirche mit all ihren geschichtlichen Erinnerungen stand noch unversehrt.

Inmitten einer großen Menschenmenge saß ich als junger Student und schaute auf zu dem ehrwürdigen D. Traugott Hahn, der in großem Segen in Reval gewirkt hatte und nun an seinem Lebensabend Evangeliums-Vorträge hielt.

Er erzählte: „Eines Tages wurde ich mit meinem Schwiegersohn Sielmann auf der Straße von den Bolschewiken verhaftet und in das Gefängnis eingeliefert. Wir litten keine äußere Not dort. Und die Gemeinschaft, die wir miteinander hatten, gab reiche Stärkung. Aber es quälte uns, dass unsre Frauen gar nicht wissen konnten, wohin wir gekommen seien. Sie mussten in großer Sorge sein.

Eines Tages, als es im Gefängnis sehr still war, ging ganz leise unsere Zellentür auf, ein junger Wächter trat herein und fragte: „Väterchen, kann ich etwas für Dich tun?“ Hochbeglückt baten wir ihn, unsern Frauen Nachricht zu bringen. Das hat er auch getan. Und wir hörten später, als wir wieder frei waren, wie sehr unsre Frauen durch die Botschaft getröstet wurden …“

Und nun erhob der alte D. Hahn gewaltig seine Stimme und rief: „Wenn an dem Tage der Auferstehung die Millionen vor dem Herrn stehen, dann will ich nicht ruhen, bis ich jenen jungen Mann gefunden habe. Und dann will ich zu dem Herrn Jesus sagen:  „Herr! Du hast erklärt: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. – Dieser junge Mann, der Dich, Herr, nicht kannte, hat mir, der ich durch den Glauben Dein Bruder bin, wohlgetan, als ich gefangen war.' Und dann wird der Herr diesen jungen Mann zu Seiner Rechten stellen. Denn Er lässt es nicht unvergolten, wenn die Unwissenden Seiner Gemeinde wohl tun.“

Diese kleine Geschichte hat sich mir unvergesslich eingeprägt. Ich wusste damals noch nicht, dass ich selbst Ähnliches erleben sollte.

Das war viele Jahre später. Wieder einmal hatte mich verhaftet und in eine abscheuliche Zelle gesperrt. Man wollte von mir Aussagen über die „Bekennende Kirche“ erpressen.

Eines Tages hatte ich wieder eines der ermüdenden Verhöre hinter mir. Das schlimmste in meiner Lage war die Angst vor dem eigenen Versagen. Würden die Nerven halten, dass man nicht eines Tages nachgäbe und die Brüder verriete? Würde man nicht doch schließlich mit gebrochenem Gewissen aus diesem furchtbaren Hause gehen? Der Gestapo-Beamte hatte mich angebrüllt: „Wir haben schon andre klein gekriegt! Wir kriegen auch Sie klein!“

Nach einem der ermüdenden Verhöre hatte man mich wieder in meine trostlose Zelle zurückgebracht. Ich war erschöpft. Wenn man doch einfach hätte schlafen dürfen! Aber am Tage war es verboten, sich auf die Pritsche zu legen. So saß ich auf meinem Hocker, und quälend wanderten die Gedanken: „Welche Schmach werden meine Kinder zu erdulden haben, wenn Lehrer und Mitschüler sich lächelnd zuflüstern: Deren Vater sitzt im Gefängnis! Der ist ein Staatsfeind!“

Und dann war es auf einmal aus. Die Nerven waren am Ende. Hemmungslos musste ich weinen. Ach nein! Man war kein Held! Hier verging einem aller Heroismus.

Da öffnete sich leise die Zellentür. Ich sprang auf. Der oberste Aufseher war hereingekommen. Ich wollte meine Meldung machen. Aber er winkte ab: „Sie dürfen nicht verzweifeln. Es wird schon alles gut gehen! Und sehen Sie mal, hier habe ich Ihnen etwas zum Lesen mitgebracht. Das wird Sie auf andre Gedanken bringen!“ Und damit legte er eine – Jagdzeitung vor mich hin. Dann verschwand er wieder.

Und ich saß und schaute die Jagdzeitung an. „Halali!“ Ja, ich muss offen gestehen, dass es mir gar nicht halalimäßig zumute war. Und die Aufsätze über die Zucht guter Jagdhunde oder über die Pflege der Fasanen konnten mir in meiner Lage wenig bedeuten.

Und doch – nie wieder ist mir eine Zeitschrift so lieblich und so herrlich vorgekommen wie diese Jagdzeitung. Sie wurde mir immer schöner, je mehr ich bedachte, dass der Aufseher mit dieser scheinbar geringen Geste seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt hatte.

Während ich dort saß und auf die Jagdzeitung starrte, sah ich auf einmal wieder den alten D. Hahn vor mir. Und ich hörte das Wort Jesu: „Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.“