Engadin! –
Der Name klingt wie ein Gedicht. Wir hatten einen Sommertag lang die Schönheit
dieses herrlichen Landes genossen. Nun war es Abend. Wir bummelten noch ein
wenig durch die Strassen von Pontresina. Kurgäste aus
aller Herren Länder, Hotelburschen, Sennen, Alte und Junge, Reiche und Arme belebten
die Straßen.
Auf einmal schritten zwei
junge Männer an uns vorbei, die aller Blicke auf sich zogen: straff, braungebrannt,
gingen sie mit langen, federnden Schritten gleichmütig durch die Menge.
„Das sind zwei berühmte
Bergführer!“ sagte jemand.
Wir sahen ihnen nach. Ein
Hauch von Abenteuern lag über ihnen. Und dann kam die Rede natürlich auf die
Bergführer.
Während des Gesprächs gingen
meine Blicke immer wieder hinüber zu den weißen Schneegipfeln der Bernina, die
leise im Abend verdämmernd über die dunklen Tannenwälder herübergrüßten.
Mein Schweizer Freund folgte
meinen Blicken. „Ja, sieh dort den scharfen Grat! Das ist der Bianco-Grat. Da hat es ein Bergführer einmal erlebt, dass
Amerikaner schwindlig wurde. Er kauerte sich nieder und war durch alles Zureden
nicht zu bewegen, weiterzugehen. Da erhob der Führer drohend seinen Eispickel
und schrie: „Ich schlag' Sie jetzt über den Grat hinunter, wenn Sie nicht
sofort weitergehen!“ Da erschrak der Amerikaner so fürchterlich, dass er
aufsprang und – um sein Lehen zu retten – die beängstigende Gratwanderung
fortsetzte. Und als sie wieder im Tal waren, da gab der reiche Mann dem Führer
einen Extra-Dollarschein. Denn er hatte begriffen, wie prächtig ihm der Führer
geholfen hatte.“
„Von dem Bianco-Grat
weiß ich noch eine andre Bergführer-Geschichte“, sagte jetzt ein anderer
Freund. „Da geht es steil bergauf durch harten Schnee, rechts und links aber
schauerlich hinunter in endlose Tiefen. Und dann kommt da eine Stelle – da ist
der Grat ausgebrochen ...“
„Da hört es einfach auf?“
frage ich erschrocken.
„Nun ja, es ist nicht so
schlimm. Aber man muss eben doch etwas über einen Meter springen zu der Stelle
hin, wo der Grat weitergeht.“
Uns, die wir aus der Ebene
kommen, schaudert ein wenig hei diesem Bild. Aber mein Freund fährt fort: „Nun,
für geübte Leute ist es nicht gefährlich. Also – dort ist nun die Geschichte
passiert. Da geht eine Gesellschaft über den Grat. Sie kommen an diese Stelle.
Der Führer springt voran. Der Nächste zögert. Da streckt der Führer ihm die
Hand hin.
Der Ängstliche sieht nachdenklich
auf die Hand – er überlegt, ob er es wagen kann. Da schüttelt der Bergführer
nachdrücklich diese seine sehnige, braungebrannte Hand und ruft: „Sie können es
getrost wagen. Diese Hand hat nie jemand
losgelassen!”
Was nun noch weiter
gesprochen wurde, habe ich nicht mehr gehört. Denn meine Gedanken gingen ihre
eigenen Wege. Ich sah im Geist diese starke Hand vor mir und hörte das
unendlich stolze Wort: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“ Aber vor
meinen Augen änderte sich das Bild der Hand. Die Hand, die ich sah, war
durchbohrt.
Mein Leben mit Jesus ist
auch eine Gratwanderung. Seitdem ich mein Leben an Ihn angeseilt habe, ging es
oft über steile und gefährliche Wege. Und immer wieder wollte mir schwindlig
werden. Immer wieder sagte das verzagte Herz: „Man kann nicht einfach gegen
alle Berechnung nur auf Jesus hin leben.“ Aber dann war es immer so, wie dort
am Bianco-Grat. Er streckte mir Seine Hand, die für
mich durchbohrt war, entgegen und sagte: „Diese Hand hat noch nie jemand
losgelassen.“
Ja, so ist es! O, diese
starke Hand Jesu! Man kann sich ihr getrost anvertrauen. Jesus sagt im 10. Kapitel
des Johannes-Evangeliums: „Niemand soll die Meinen aus meiner Hand reißen.“ Und
ich bin gewiss, dass niemand und nichts Ihn zum Lügner machen wird.