Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

Die Synagoge

 

Gott hat manchmal seltsame und wunderliche Prediger. Der Arzt Lukas berichtet uns in seinem „Evangelium“, dass ein gehenkter Mörder in seiner Todesstunde vom Kreuz herab eine unerhört eindrückliche Predigt gehalten habe.

Und das Alte Testament weiß, einmal zu erzählen, dass sogar ein richtiger, vierbeiniger Esel geredet habe.

Manche glauben diese Geschichte nicht. Ich glaube sie. Denn ich weiß, dass sich Gott oft wunderliche Prediger Seiner Wahrheit erwählt.

Unter diesen ist mir besonders eindrücklich ein großes, totes und ausgebranntes Gebäude. So oft ich daran vorbeikomme, fängt dies Haus an, mir eine Predigt zu halten. Und ich weiß, dass es eine ganze Nacht lang zu vielen hundert Menschen gesprochen hat.

Dies seltsame, predigende Gebäude steht mitten in einer lauten Großstadt des Ruhrgebietes.

Hier muss einmal eine reiche jüdische Gemeinde gewesen sein, dass sie sich solch eine großartige Synagoge hat bauen können. Es ist ein riesiger Kuppelbau aus grauem Naturstein! Vor vielen Jahren habe ich den Bau einmal von innen angesehen. Die Pracht dort entsprach ganz dem wundervollen Äußeren. Man sah, dass ein großer Künstler dies Haus entworfen und gebaut hatte.

Dann kam jener schreckliche Tag, der für Jahrhunderte ein dunkler Fleck auf der Geschichte unseres Landes sein wird; jener Tag, da das deutsche Volk mit einem Male vergaß, dass es einen Luther, Kant, Bach, Goethe gehabt hat; da es mit einem riesigen Satz aus dem 20. Jahrhundert in das Mittelalter zurücksprang …

Es raste der Pöbel; die jüdischen Geschäfte wurden geplündert; die Wohnungen der Juden demoliert; Unschuldige getreten, erschlagen und erschossen …

Ein wüster Haufe drang auch in die herrliche Synagoge und steckte sie in Brand. Was nur brennbar war, wurde ein Raub der Flammen. Aber am Ende stand noch der riesige, nun so kahle Kuppelbau. Die großen Steinquadern hatten dem Feuer getrotzt.

Damals fing dies Gebäude an, peinlich zu werden. Es redete noch nicht. Aber in seiner toten Schweigsamkeit begann es, die Menschen zu beunruhigen. Die Lautsprecher dröhnten von dem „deutschen Kulturwillen“. – Und da stand dies Haus! Über dem Portal konnte jeder es noch lesen: „Mein Haus soll ein Bethaus sein vor allen Völkern!“ Da stand es mit seinen rauchgeschwärzten Mauern und seinen leeren Fensteröffnungen.

Man sprach immer wieder davon, dies Haus müsse abgerissen werden. Aber – es kam nicht dazu. Es war, als habe man den Mut verloren, noch einmal die Hand an dies stumme, riesige Gebäude zu legen.

Und die Synagoge schwieg – schwieg – als warte sie auf den Tag, da sie würde reden können.

Und der kam!

Dieser Tag fing in der Grosstadt an wie alle andern. Die Kaufleute gingen in ihre Geschäfte die Hausfrauen hatten Wäsche oder standen in Schlangen vor den Läden, in denen die Waren schon knapp wurden; die Bergleute fuhren in die Tiefe, und andre kamen herauf … Es war wie immer. So verging der Tag. Es kam der Abend. Dunkel lagen die Straßen. Alle Häuser waren verdunkelt, alle Lichter draußen gelöscht. Es war ja Krieg, und schon war manche Bombe über der Stadt gefallen.

Um 21 Uhr tönten die Sirenen. Die Menschen liefen in die Keller … und dann kam der Schrecken!

Der erste große Angriff mit „Bombenteppich“ und „Flächenbränden“. Die Menschen in den Kellern spürten die furchtbare Hitze. Sie stürzten heraus! Nein! Viele kamen nicht mehr heraus. Sie fanden die Zugänge verschüttet und verbrannten bei lebendigem Leibe …

Aber die herauskamen, entsetzten sich. Rings um die Synagoge waren enge, dicht besiedelte Straßen. Und nun stand alles in Flammen. Wohin man sich auch wandte, – Feuer! Feuer! Dieser furchtbare Brand schaffte sich selbst den Sturm, der das Feuer brausend weitertrug.

Die Menschen hüllten sich in nasse Tücher und machten sich auf, irgendwo Schutz zu suchen. Aber die Straßenausgänge waren mit Trümmern versperrt. Der Rauch nahm ihnen den Atem. Da sank manch einer um und wurde von stürzenden Mauern erschlagen, vom Rauch erstickt, vom Feuer verschlungen …

Die sich durchschlugen, suchten mit vor Angst irren Augen nach einem Ort, der Schutz böte vor dem Feuer. Sie fanden nur einen: die riesige, kahle, längst ausgebrannte Synagoge. Hunderte haben in jener schrecklichen Nacht dort Rettung gefunden.

Da saßen sie, eng gedrängt und zitternd auf dem nackten Boden, während draußen der schauerliche Tod umging. Da saßen sie und konnten nicht weglaufen, als nun die Synagoge anfing zu predigen.

Es war eine schreckliche Predigt. Sie bestand nur aus einem einzigen Satz: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten.“

Da war manch einer, der hatte an jenem Frühlingstag mitgemacht, als man das Feuer an diese Synagoge legte. Und die andern hatten neugierig zugesehen, hatten vielleicht gelacht. Sicher hatten sie geschwiegen. Aber – wer hatte an Gott gedacht, an Gott, der nicht schweigt?

Damals hatte das Feuer dies eine Gebäude verzehrt. Nun ging die Stadt im Feuer unter … Und ausgerechnet dies Gebäude war nun Zuflucht!

Die Synagoge predigte. Und selbst der Verstockteste hat in jener Nacht des Grauens die Predigt gehört: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten ...“

Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende.

Unter den Flüchtlingen war einer, dem hielt die Synagoge eine besondere Predigt.

Er war ein einfacher Mann, der einen kümmerlichen Lohn auf einer Kohlenzeche verdiente. Aber er gehörte zu den Leuten, von denen der Herr Jesus sagte, dass sie „reich sind in Gott“.

Dieser Mann saß unter dem bestürzten Volk und war weder sehr verwundert noch unruhig. Verwundert war er nicht, weil er aus dem Wort Gottes längst wusste, dass dies Volk schrecklichen Gerichten entgegengehen musste. Und unruhig war er nicht, weil er Frieden mit Gott hatte.

So saß er nun in seiner Ecke, nachdem er vielen Leuten zurechtgeholfen hatte. Er war müde. Aber schlafen konnte man ja nicht.

Und da fing die Synagoge an, ihm ihre besondere Predigt zu halten. Sie fragte: „Weißt du auch, warum ihr hier geborgen seid vor dem Feuer?“ Und er antwortete: „Ja, weil hier das Feuer schon einmal getobt und alles, was brennbar war, verzehrt hat.“

„Weißt du auch“, fragte die Synagoge, „dass es noch ein andres und schrecklicheres Feuer gibt als dies, vor dem ihr euch hier geborgen habt?“

„Das weiß ich wohl“, sagte der Mann, „das ist das schreckliche Feuer des Gerichtes und Zornes Gottes, das einmal entbrennen wird über alles ungöttliche und unheilige Wesen der Menschen.“

„Da weißt du ja schon viel!“ sagte die Synagoge. „Aber meinst du, dass du dann auch eine Zuflucht finden wirst, wenn dies Feuer entbrennt? Meinst du, dass dann auch solch eine Stelle da sein wird, die Zuflucht bieten kann, weil das Feuer schon darüber ging?“

Nun lächelte der Mann inmitten des erschrockenen und betrübten Volkes und sagte: „O, ich weiß, wo du hinaus willst. Ja, es gibt einen einzigen Ort, über den das Feuer des Zornes Gottes schon ging und der darum Zuflucht bietet: Das ist das Kreuz Jesu auf Golgatha.“

„Du hast recht!“ sagte die Synagoge. „Sieh mich nur an! Wie sicher seid ihr in meinem Schoße, weil ich früher das Feuer erlitten habe. Und so ist man sicher unter dem Kreuz Jesu. Wie hat dort das Feuer gebrannt, als Jesus rief: ,Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen!' – Jetzt ist man in alle Ewigkeit dort sicher vor dem Gericht Gottes.“

Da freute sich der einfache Mann, dass er um diese ewige Zuflucht wusste. Dann legte er sich, so gut es bei dem Gedränge eben möglich war, zurecht und schlief nun doch ein – er ruhte so friedlich und getröstet wie ein Kind am Herzen der Mutter.