„Jakob sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts
anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels."
1. Mose 28, 17
Haltet es bitte nicht für eine Spielerei, wenn wir in der
Passionszeit den alttestamentlichen Vorbildern des Kreuzes Christi nachdenken.
Ich bin gewiss, dass es dem Heiligen Geist gefallen hat, auch schon durch das
Wort des Alten Bundes das Kreuz Christi zu verkündigen. Allerdings in
verhüllter Form. Und wenn wir uns die Mühe machen, durch die Verhüllung
durchzuschauen, dann wird uns durch diese alt-testamentliche Kreuzespredigt
manches Wichtige über unser Heil in Christus geoffenbart werden.
So lasst es euch denn gefallen, dass wir darin fortfahren.
Wir wollen heute an Jakob sehen:
1. Die große
Verlassenheit
Durch die einsame Steppe im Norden Palästinas wandert ein
junger Mann. Ringsum grauenvolle Öde: kein Haus und kein Mensch, so weit das
Auge schaut.
Hier zieht nicht ein kühner Forscher mit starkem Herzen in unbekannte
Lande. Hier ist auch nicht ein junger Mann, der gern Freiheit und Abenteuer
kosten möchte. Von diesem Jakob heißt es in Kapitel 25: „Er war ein sanfter
Mann und blieb in den Hütten." Dieser junge Mann war herausgerissen aus
seiner sicheren Welt. Ihm war gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen
worden. So ist der Jakob recht ein Abbild vom Menschen unserer Tage, der aus
aller Sicherheit gerissen ist und ohne Halt durch eine zertrümmerte Welt geht.
Aber warum war der Jakob aus den Zelten des Vaters
ausgezogen? Er hatte seinen Bruder betrogen. Nun musste er vor dessen Rache
fliehen. Die Schuld war das unsichtbare, schwere Gepäck, das Jakob
mitschleppte. Und darin gleicht er anderen biblischen Gestalten. So wanderte
Adam über den Acker, der Dornen und Disteln trug, entwurzelt und vereinsamt
durch Schuld. So zog Kain „von dem Angesicht des Herrn in das Land Nod",
ein schuldbeladener Mann.
Wir tragen alle in irgendeiner Weise dies Bild Adams an uns:
aus dem Frieden verjagt durch Schuld vor Gott. So also zog nun auch Jakob durch
die Einsamkeit. Und dann brach eine Nacht herein. Die Bibel spricht von dem
„Grauen der Nacht". Jakob bettete sich auf einen Stein. Über ihm
leuchteten kalt die Sterne. Und der Himmel war so fern! So fern!
Ja, das ist der Grund für die grenzenlose Verlassenheit bei
den Menschen unserer Tage: Gott und der Himmel sind so fern. Die Oberflächlichen
suchen sich zu helfen: „Nun müssen wir eben ohne den Himmel fertig
werden." Und die ernsten Herzen bekümmern sich: „Wie sollte Gott auch zu
unserm schuldbeladenen Leben sich herabneigen!"
2. Der offene Himmel
Ich denke, Jakob hat lange zu dem fernen, verschlossenen
Himmel aufgeschaut. Schließlich fielen ihm die müden, brennenden Augen zu.
Und nun schenkte ihm Gott einen wundersamen Traum. Der Himmel
tat sich auf: Neben dem Schlafenden erhob sich eine Treppe, deren „Spitze bis
an den Himmel reichte". Und die Engel Gottes stiegen daran auf und ab. Der
Himmel stand offen; Himmel und Erde waren verbunden.
Ist das nicht eine herrliche Darstellung des Kreuzes Jesu
Christi? Ja, so steht es mit dem Kreuz: Es ist die einzige Verbindung zwischen
der Welt Gottes und dem Menschen. Es ist die Treppe, auf der die Kräfte der
unsichtbaren Welt in diese Todeswelt einströmen. Es ist die Leiter, auf der
verlorene Sünder in den Himmel kommen. In der wunderbaren Schilderung vom Traum
Jakobs heißt es: „Er sah eine Leiter, die rührte mit der Spitze an den
Himmel." Kenner der Bibel denken hier sofort an eine andre Geschichte, in
der auch davon die Rede ist, dass eine Leiter gebaut werden soll, deren Spitze
an den Himmel reiche. Ich meine den Turmbau zu Babel. Nun, aus dieser Treppe
wurde nichts. Solch eine Treppe kann nicht von unten nach oben, sondern nur von
oben nach unten gebaut werden. Und das ist die Herrlichkeit des Kreuzes, dass
hier nicht Menschen etwas Vergebliches versucht haben. Nein! Gott selbst hat
diese Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde hergestellt. F. v.
Bodelschwingh hat einmal gesagt: „Wenn man an keinem andern Ort etwas merken sollte
— unter dem Kreuz von Golgatha kann man es studieren, wie herrlich Gott den
Elenden hilft."
„Hier ist die Pforte des Himmels", sagte Jakob, als er
die Leiter gesehen hatte. „Hier ist die Pforte des Himmels", sagen wir
unter dem Kreuze Jesu. Ich habe mir vorgestellt, wie Adam nach dem Sündenfall
manchmal um das verschlossene Paradies geirrt ist und eine Tür gesucht hat.
Hier unter dem Kreuz geht die Türe auf. Jesus sagt in Johannes 10, 9: „Ich bin
die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden."
„Hier ist das Haus Gottes", sagte Jakob, als er die
Himmelsleiter gesehen hatte. „Hier wohnt Gott auf Erden", sagen wir unter
dem Kreuze Christi. Das ist wichtig! Wo ist Gottes Haus? Ich habe Dome gesehen,
die Gotteshäuser genannt wurden. Aber mit ihren Bildern und Altären glichen sie
eher Götzentempeln. Hier beim Kreuz von Golgatha ist Gottes Wohnung. Da
begegnen wir dem lebendigen Gott. Hier schauen wir in den geöffneten Himmel.
Hier walten die Engel, die Mächte und Kräfte der unsichtbaren Welt.
3. Das Gnadenwort
Jakob hat in jener Nacht große Dinge nicht nur gesehen,
sondern auch gehört. Der Herr stand oben an der Leiter und verhieß ihm: „Ich
bin mit dir!"
Welch ein Wort! Der „Hohe und Erhabene" schließt einen
Bund mit dem Staube. Und die Schuld Jakobs? Ja, gerade hieran wird deutlich,
wie sehr diese Himmelsleiter ein Abbild des Kreuzes Jesu ist: Im Kreuz schließt
Gott einen Bund mit dem Sünder. Und die Schuld? „Wo sind die Sündenschulden
all? / Im Meer des Bluts versenkt! / Ich weiß, dass er von ihrer Zahl / nicht
einer mehr gedenkt." — Jakob ist an dem Morgen nach dieser Nacht
weitergewandert. Er war immer noch einsam. Und es war noch dieselbe Wüste,
durch die er zog. Und doch — alles war anders geworden. „Ich bin mit dir!"
Im Bunde mit Gott durch Vergebung der Sünden. Welch ein frohes Wandern wurde
das nun!
Ich habe keine Hoffnung, dass die Welt, in der wir leben müssen, sich bald verändern wird. Wir werden noch manchen sauren Tritt tun müssen. Aber wie ist doch alles verändert, wenn wir die Himmelsleiter von Golgatha kennen! Im Frieden mit Gott durch Vergebung der Sünden kann man fröhlich und getrost seine Straße ziehen — und wenn sie nur durch Trümmer führte.