Prof.
Dr. Werner Gitt
Ein
Auszug aus dem Buch: „Fragen, die immer wieder gestellt werden“
16.
Auflage
In der Bibel ist von der Erwählung des Menschen durch Gott die Rede. Haben
wir dann noch einen freien Willen, wenn Entscheidungen über Rettung oder Verlorensein
längst gefallen sind?
Vor
allem von Augustinus und Calvin ist die sog. Prädestinationslehre (lat.
praedestinatio = Vorherbestimmung) vertreten worden. Es ist eine Lehre, die von
der göttlichen Vorherbestimmung ausgeht, dass die Menschen entweder zum Glauben
oder zum Unglauben, zum Heil oder zum Verderben vorgesehen sind. Wegen dieser
zweifachen Möglichkeit spricht man von der „doppelten Prädestination“. Diesen
Gedanken gilt es, an der Bibel zu prüfen. In den Antworten zu den
vorangegangenen Fragen wurde besonders die Freiheit des Menschen bezüglich
seiner Entscheidung herausgestellt. Dabei könnte der Eindruck entstehen, als
sei der Mensch der allein Handelnde und Gott würde sich dabei völlig passiv
verhalten. Das aber ist dem biblischen Zeugnis nicht angemessen. In Römer 9,
16+18 lesen wir: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern
an Gottes Erbarmen. So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt,
welchen er will.“ Hier liegt die Betonung eindeutig im Handeln Gottes. Der Mensch
befindet sich ebenso in der aktiven und frei gestaltenden Hand des Schöpfers
wie der Ton in des Töpfers formender Hand: „Ja, lieber Mensch, wer bist du
denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister:
Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht, aus einem Klumpen zu
machen ein Gefäß zu Ehren und das andere zu Unehren?“ (Römer 9, 20-21). Wir
haben somit keinerlei Anspruch auf das Heil. Die freie Entscheidung des
Menschen ist immer gepaart mit der freien Erwählung durch Gott. Der Gedanke der
Erwählung wird insbesondere durch die folgenden Bibelstellen belegt:
- Matthäus 22, 14: „Denn
viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“
- Johannes 6, 64-65:
„Aber es sind etliche unter euch, die glauben nicht. Denn Jesus wusste von
Anfang wohl, wer die waren, die nicht glaubten und wer ihn verraten würde.
Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es
sei ihm denn von meinem Vater
gegeben.“
- Epheser 1, 4-5: „Denn
in ihm (= Jesus) hat er uns erwählt,
ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir sollten heilig und
unsträflich sein vor ihm; in seiner Liebe hat er uns dazu verordnet, dass
wir seine Kinder seien.“
- Römer 8, 29-30: „Denn
welche er zuvor ersehen hat, die hat er auch verordnet, dass sie gleich
sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes. Welche er aber verordnet hat,
die hat er auch berufen; welche er aber berufen hat, die hat er auch
gerecht gemacht; welche er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch
herrlich gemacht.“
- Apostelgeschichte 13,
48: „Da das die Heiden hörten, wurden sie froh und priesen das Wort des
Herrn und wurden gläubig, wie viel ihrer zum ewigen Leben verordnet
waren.“
Bezüglich
des biblischen Verständnisses von der Erwählung sind folgende Aspekte von
grundlegender Bedeutung:
- Zeitpunkt: Die
Erwählung geschieht in einem weiten zeitlichen Rückgriff, der in jedem
Falle vor unserer Existenz liegt: Vor Grundlegung der Welt (Epheser 1, 4),
vor der Zeugung (Jeremia 1, 5) und von Anfang an (2. Thessalonicher 2,
13).
- Dienst: Die Erwählung
beinhaltet stets den Dienst für Gott. So erwählt Gott z. B. Salomo, um den
Tempel zu bauen (1. Chronik 28,10), den Stamm Levi zum priesterlichen
Dienst (5. Mose 18, 5); Jesus erwählt die Jünger zum Apostelamt (Lukas 6,
13; Apostelgeschichte 1, 2), Paulus wird das „auserwählte Rüstzeug“ zur
Heidenmission (Apostelgeschichte 9, 15), und alle Gläubigen sind dazu
erwählt, Frucht zu bringen (Johannes 15, 16).
- Ohne Ansehen der
Person: Die Erwählung geschieht nicht nach menschlichen Verdiensten oder
Maßstäben. Vielmehr sieht Gott auf das Geringe: Israel ist das kleinste
Volk (5. Mose 7, 7), Mose ist nicht redegewandt (2. Mose 4, 10), Jeremia
hält sich noch für zu jung (Jeremia 1, 6), und zur Gemeinde Jesu gehören
meist die Unbedeutenden dieser Welt (1. Korinther 1, 27-28).
- Zum Heil, aber nicht
zum Unheil: Woran ist Gott gelegen – an unserem Heil oder Unheil? Seine
Absicht teilt uns Gott eindeutig mit: „Wie ein Hirte seine Schafe sucht,
wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen“
(Hesekiel 34, 12). Jesus fasst den Grund seines Kommens in diese Welt in
den Satz: „Des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, was verloren
ist“ (Matthäus 18, 11). Gott macht sich in Jesus selbst auf die Suche, um
Menschen für das ewige Leben zu gewinnen. Der Wille Gottes zur Errettung
ist auf die gesamte Menschheit gerichtet: „Gott will, dass allen Menschen
geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Timotheus
2, 4). Dieser Wille Gottes ist auch in 1. Thessalonicher 5, 9 offenbart: „Gott
hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen.“ Es
wird deutlich: Zwischen Errettung und Erwählung finden wir in der Schrift einen festen, untrennbaren
Zusammenhang, hingegen gibt es zwischen Verdammnis und Erwählung keine solche Kopplung. Gott
erwählt also niemand zur Verlorenheit. So verhärtet Gott das Herz des
Pharao erst aufgrund seiner beharrlichen heidnischen Haltung, keineswegs
war er vor seiner Geburt dazu vorherbestimmt. Dass es ein „Zu spät“ gibt,
bezeugt die Bibel immer wieder, aber eine Vorherbestimmung zur Hölle lehrt
die Bibel nirgends. Herodes hatte mit der Hinrichtung Johannes des Täufers
den Bogen seines Hörvermögens überspannt, so dass Jesus ihm nicht mehr
antwortete (Lukas 23, 9).
Halten wir fest: Es gilt beides (komplementäre
Aussage!): Gott erwählt Menschen zum Heil. Der Mensch wird jedoch in die
Verantwortung gestellt, das Heil für sich in Anspruch zu nehmen. Als der
verlorene Sohn den Entschluss ausführte „Ich will mich aufmachen und zu meinem
Vater gehen“ (Lukas 15, 18), lief der Vater ihm entgegen, um ihn anzunehmen
(Lukas 15, 20). Wenn wir die Errettung in freier Entscheidung annehmen, wird an
uns Gottes Verheißung wahr: Ich habe dich je und je geliebt (Jeremia 31, 3),
und ich habe dich bereits erwählt vor Grundlegung der Welt (Epheser 1, 4). Ehe
wir uns für Gott entscheiden, hat er sich schon längst vor unserer Zeit für uns
entschieden. Gott erwartet und respektiert unsere Willensentscheidung; aber
ohne sein Erbarmen wäre keine Annahme möglich (Römer 9, 16). Bei wie vielen
Menschen die göttliche Erwählung (Philipper 2, 13) und der freie menschliche
Wille (Philipper 2, 12) zusammenwirken, weiß nur der Herr.