Rolf Scheffbuch

 

Packend die Bibel auslegen

Ludwig-Hofacker-Jahrestagung 20.05.2002

 

 

Anschaulich erzählt wurde einst in der Sonntagschule. Etwa vom jungen Samuel. Wir fühlten uns im Geist versetzt die gespenstisch-nachtdunkle Stiftshütte, in der noch die Lampe flackerte. Und wir sahen den kleinen Samuel hellwach zum Priester Eli flitzen. Das war anschaulich. Das hielt die Aufmerksamkeit wach. "Packende Auslegung" jedoch war es, wenn unsere Mutter dieselbe Geschichte erzählte. Auch sie konnte das höchst anschaulich. Aber es ging um mehr: Wir haben mit Gott gebangt, ob es denn in seinem Volk Israel noch einen Einzigen gibt, der auf Gott zu hören bereit ist. Ja, wir haben uns gefragt, ob denn wir bereit gewesen wären zum echten Hören auf Gott. Das war es, was uns "gepackt" hat.

Wenn die Tübinger Professoren die biblischen Schriften erklärten, wurde vieles verständlich. Wenn jedoch Walter Tlach die Bibel auslegte, dann war das "packend". Wir konnten uns nicht dem Eindruck entziehen: "Da geht es doch um mich, um mein Heil!" "Packende" Auslegung der Bibel ist also mehr als anschauliche Erklärung. Menschen sollen nämlich sich von Christus Jesus "ergriffen" wissen (vgl. Philipper 3, 13). Das kann man nicht lernen. Aber wollen. Und erbitten. Rette sich, wer kann!

Die Bibel ist packend. Sie berichtet von der übernatürlichen Rettungsaktion Gottes. Deshalb muss die Frage "Worüber kann ich nichts als staunen?" alle umtreiben, die das Vorrecht haben, biblische Geschichten zu erzählen. - "Das ist ja atemberaubend!", diese Faszination muss alle durchzittern, die gewürdigt sind, Abschnitte aus der Heiligen Schrift auszulegen.

Der Berliner Stadtmissionsdirektor Heinrich Giesen konnte, wenn er einen Bibelabschnitt verlesen hatte, die Auslegung beginnen mit einem ungestümen Ausruf: "Ist das nicht ein bisschen doll, liebe Gemeinde!?" Oder: "Das ist ja nicht zu fassen!" Das war kein rhetorischer Trick, sondern so musste er "rüberbringen", was ihn an diesem Bibelabschnitt fasziniert hatte. Für Gottes Rettungsaktion ist jeder Gottesdienst, jede Gemeinschaftsstunde, jede Jungscharandacht ein göttlicher Kairos, ein unwiderbringlicher Zeitpunkt, eine einmalige Chance. Die Auslegenden müssen von der Überzeugung durchdrungen sein: "Jetzt ist eine Entscheidung auf Leben und Tod dran! Jetzt! Denn ‚heute' Gott will doch gerade jetzt rettungsbedürftigen Menschen seine Hand rettend entgegenstrecken".

Man kann es Auslegenden sehr genau abspüren, ob sie mit ihrem Auslegen den Anspruch vertreten: "Alles herhören! (Bengel hätte gesagt: ‚Colligite animas!') Jetzt berührt sich dann gleich die Welt Gottes mit unserer Welt!" Diese heilige Rettungsabsicht Gottes darf nicht ins Leere laufen. Das wäre unentschuldbar.

Es ist Frevel, wenn die von Gott her kommende Dynamik abgewürgt wird. Es ist eben ein wesentlicher Unterschied zwischen der papierenen Instruktion über das "Verhalten in Notfällen" und dem Ruf "Rette sich, wer kann!" Wer die Bibel auslegen möchte, lasse lieber die Finger davon, wenn er nicht zu solchem Rufen bereit ist: "Lasst euch doch retten!"

Die Ausleger müssen sich selbst "packen" lassen

In der gegenwärtigen Christenheit gibt es eine merkwürdige Fehleinschätzung. Sie besteht in der überaus schädlichen, noch dazu hin völlig unberechtigten und darum falschen Überzeugung: Man muss die gleichgültigen Menschen für das Reden Gottes wecken mit einer Fülle von sprühenden "Gags", mit Conferenciergehabe und mit packenden "Aufhänger"-Stories. Das "Drumherum" gilt als das Packende; das Biblische wird als so ungenießbar angesehen, dass es erst noch Aufsehen erregender Garnierung bedarf. Nein! Und noch einmal: Nein! Welch eine Vermessenheit! Wer sind denn wir, dass wir uns zutrauen, eine offenbar etwas unattraktiv gewordene Bibel wieder aufmotzen zu können! Was wir brauchen, ist eine neue Demut für das, was wir in Wirklichkeit leisten könne. Erst recht brauchen wir eine neue Ehrfurcht gegenüber der Bibel als der Membrane für Gottes Reden. Auch die meisten pietistischen, evangelikalen, bibeltreuen Ausleger müssen sich erst wieder neu von der Bibel packen lassen. Sie müssen entdecken, wie packend die Bibel ist. Denn noch so richtige, bibeltreue, erbauliche Bibelauslegung ist noch keineswegs "packend"! "Packend" kann nur der Mensch auslegen, der sich selbst von der Bibel ganz neu packen lässt. Man muss es Auslegern der Bibel abspüren können, dass sie von der Sache gepackt sind, - so sehr gepackt, dass sie darauf "brennen", diese Sache weitergeben zu können.

"Packende" Bibelauslegung ist bewusstes Kampfgeschehen. Es geht darum, Menschen zu "gewinnen" aus dem Machtbereich der Finsternis, um sie zu versetzen in das Reich des Christus Jesus. "Packende Bibelauslegung" ist also auf mehr aus als auf Verständlichkeit, Anschaulichkeit und auf so geweckte Aufmerksamkeit der Zuhörer, so wichtig dies alles ist. Wahren Auslegern soll man jedoch die Spannung abnehmen können: "Jetzt will ich doch einmal sehen, wie Jesus sich durchsetzen wird!" Solche gespannte Erwartung ist das Kennzeichen packender Bibelauslegung!