Affen sind anders – aber
wie?
Prof.
Dr. Peter Imming
Wer
sind wir? Diese Frage hat die Menschen schon immer interessiert. Wie können wir
uns ausfindig machen? Im persönlichen wie im wissenschaftlichen Bereich
versuchen wir es gern durch Vergleiche mit anderen. Wir wollen wissen, wie wir
uns von ihnen unterscheiden. Danach hoffen wir, uns selbst erkannt oder
wenigstens definiert zu haben.
Was
dabei wenig hilft, ist der Vergleich mit jemandem, der sich sehr stark von uns
unterscheidet. Das ist zu weit weg, das liefert nicht die gesuchte
Selbstfindung durch Selbstabgrenzung. Teenager etwa suchen hoffnungsvoll
Unterschiede zu ihren Eltern, obwohl diese Differenz meist der geringste zu
irgendwelchen anderen Menschen ist. Beim traditionellen Bildungscurriculum
sollen wir unsere heutige westliche Kultur kennen lernen, indem wir sie nicht
mit der chinesischen vergleichen, sondern mit einer viel näheren: der
griechisch-römischen Antike, in der viele unserer Wurzeln liegen.
Biologen
gehen im Prinzip denselben Weg. Auf der Suche nach „dem“ Menschen vergleichen
sie uns mit denen, die anders und uns doch am ähnlichsten zu sein scheinen: den
großen Affen, also Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans. Die Biologen, die an
Evolution glauben, postulieren zusätzlich, dass wir mit diesen Tieren
gemeinsame Abstammungswurzeln haben.
Bisher
waren es die Paläoanthropologie und die vergleichende Anatomie, die gemeinsame
Merkmale herausgestellt haben. Jetzt ist die vergleichende Erbgutforschung
hinzugekommen und fragt: Was macht den Menschen genetisch zum Homo sapiens? Das
menschliche Erbgut, das Genom, ist bereits als Zeichenkette bekannt. Die
Publikation der Sequenz des Schimpansen-Genoms erfolgte vor kurzem, am 10.
Dezember, durch das National Humane Genome Research Institute (siehe
www.nhgri.nih.gov/11509418). Die Übereinstimmungen sind groß. In den Medien
werden wir wohl bald lesen, jetzt habe man verstanden, was den Mensch zum
Menschen macht. Die Frage bleibt aber, was Gemeinsamkeiten und Unterschiede in
Affen- und Menschengenomen zum Selbstverständnis des Menschen beigetragen
haben.
Mit
der biblischen Vorgabe, dass wir im Bild und Gleichnis Gottes geschaffen
wurden, die Tiere – einschließlich der Affen – jedoch „nach ihrer Art“, böte
sich vor allem der Vergleich mit Gott selbst an. So reizvoll es wäre, das Wesen
des Menschen im Wesen Gottes zu suchen, soll es hier „nur“ um einige
Gesichtspunkte des Genomvergleichs von Menschen und Affen gehen.
In
seinem Übersichtsartikel „Genetik und die Entstehung und Ausstattung von Homo
sapiens“ erklärt Sean Carroll, Professor für Genetik und Molekularbiologie an
der Universität von Wisconsin in Madison (siehe „Nature“, Band 422/2003, Seite
849-857), dass eine genetische Analyse unserer Ursprünge nicht ohne einen
historischen Abstammungsrahmen auskommt. Nach Carroll würde es zu falschen
Ergebnissen führen, nur die Anatomie und das Genom gegenwärtig existierender
Menschen und Affen zu vergleichen, um die Entstehung des Gencodes heutiger
Merkmale zu erschließen. Jede Art habe nämlich auch ihre eigene
Evolutionsgeschichte hinter sich, die vor der eventuellen gemeinsamen Evolution
stattfand. Er macht deutlich, dass die vergleichende Genetik höchstens und vor
allem das finden wird, was sie an Vorgabe hineinsteckt: einen Evolutionsbaum
der Hominiden, also der afrikanischen Großaffen und Vormenschen.
Nun
ist an der Evolution der Hominiden allerdings nur unumstritten, dass sie
umstritten ist, was angesichts der wenigen Fossilien auch kein
wissenschaftliches Wunder ist. Darum ging es am Beispiel neuer Funde in Afrika
im Text des Paläoanthropologen Friedemann Schrenk in der Weihnachtsausgabe 2002
des Rheinischen Merkur. Mit Blick auf Vergleiche zu
anderen Menschen – wohlgemerkt zu Menschen – kam er zu dem Ergebnis: „Wir sind
alle Afrikaner.“
Bedenkt
man, dass es kein einziges wirklich für alt gehaltenes Schimpansenfossil gibt,
so wird der Wagemut mancher Forscher offenbar, aus den oft dünnen Daten ein
Modell Millionen Jahre langer Abstammungsgeschichte von Menschen und Tieren zu
konstruieren.
Darüber
hinaus wird hier ein Gedankensprung sichtbar, der vielen Organismen-Vergleichen
innewohnt und normalerweise nicht klar benannt wird. Man findet Ähnlichkeiten
und interpretiert sie als Beweis für Evolution. Die Ähnlichkeiten haben aber eo
ipso diese Beweiskraft nicht, sondern man war in die ganze Überlegung mit der
Annahme eingestiegen, dass alle Lebewesen durch ungelenkte Evolution
auseinander entstanden seien. Und diese Annahme findet man zwangsläufig wieder.
Die
alternative Folgerung, dass die Ähnlichkeiten auf einen gemeinsamen Baumeister
zurückgehen, wird aus meist nicht erläuterten Gründen nicht erwogen. Sean
Carroll liefert gegen Ende seines Artikels ein schönes Beispiel für den
genannten Zirkelschluss: „Die drei Ansätze auf Genomebene, die hier
herausgestellt wurden – Populationsgenetik, Vergleich der Genome und Genexpressions-Analyse – haben alle erfolgreich gefunden,
was sie suchten: Tausende potenzieller adaptiver Ersetzungen im genetischen
Code, Unterschiede der Regulation der Genexpression
und Genduplikationen und -umlagerungen . . . Es ist
so gut wie sicher, dass – wie in anderen Abstammungslinien – alle diese Typen
genetischer Mechanismen zur Evolution der Hominiden beigetragen haben“ (Seite
855).
Gefunden
wurden aber nur viele Ähnlichkeiten und damit einhergehend Unterschiede in der
DNS-Basensequenz. Die Unterschiede sind eigentlich die wissenschaftlichen
Fakten. Sie betreffen einen nichtdynamischen Vergleich existierender Menschen
und Affen, nichtdynamisch in diesem Sinn: ohne die Beobachtung evolutionärer
Abläufe. Die Aussage jedoch, die mit „Es ist so gut wie sicher“ beginnt, findet
ihre Begründung nur im vorgelagerten Glauben an die
Herkunft der gefundenen Ähnlichkeiten und Unterschiede.
Das
gilt ebenso für Carrolls Formulierung „adaptive Ersetzungen“. Tatsache ist: Es
wurden Unterschiede gefunden, aber nicht der Vorgang einer Ersetzung
beobachtet. Dass die Unterschiede „Ersetzungen“ seien, noch dazu adaptive (also
Folgen von Anpassung), geht nicht aus den
Unterschieden selbst hervor, sondern entspricht der Anfangshypothese. Dazu ein
Beispiel: Wenn Sie diesen Text lesen, wissen Sie nicht, welche Worte und
Passagen zunächst anders formuliert waren und später durch (hoffentlich)
bessere ersetzt wurden. Dasselbe gilt für „Texte“ der Erbsubstanz DNS, der
Desoxyribonukleinsäure.
Was
können wir von Vergleichen unseres Erbguts mit dem von Schimpansen erwarten und
erhoffen? Sehr viel über Einzelheiten des Seins, doch vom Sein kann man nicht
direkt auf das Werden schließen. Die Erweiterung unseres Wissens über Bau und
Regulation des Genoms wird für Grundlagenforschung und Medizin enorm viele
brauchbare (leider zugleich missbrauchbare) Erkenntnisse bringen. Mit Blick auf
die Frage, wie sehr und worin wir uns von Affen und anderen Säugetieren und
Lebewesen unterscheiden, ist viel Detail und wenig Grundsätzliches zu erwarten.
Der
Zellkern mit seiner DNS ist ja auch nur sozusagen ein Körperteil. Er arbeitet
nicht „von eigenen Gnaden“ in einem Kompartiment, das
nur Befehle erteilt, sondern auch seine Aktivität ist reguliert. So wird man
durch Genomvergleich im Prinzip dasselbe finden wie schon bei anatomischen
Vergleichen – nur auf einer anderen Organisationsebene des Organismus. Ein
Blick in die jüngere Vergangenheit hilft uns, diese Erkenntnis richtig zu
gewichten.
Herbert
George Wells folgt im Science-Fiction-Roman „Die Insel des Dr. Moreau“ (1896)
der These, nur der Körperbau mache ein Lebewesen zu dem, was es ist. Dr. Moreau
lässt sich lebende Tiere schicken und operiert sie so um, dass sie menschliche
Anatomie haben. Daraufhin nehmen sie menschliche Verhaltensweisen an, lernen
beispielsweise zu sprechen. Nun funktioniert das schon im Roman nicht auf
Dauer. In Wirklichkeit funktioniert es gar nicht.
Heutige
Versuche, den Menschen in Theorie und Praxis nur aus seiner Genausstattung zu
verstehen oder gar „zusammenzubasteln“, gehen ebenso in die Irre wie die
damalige Überbewertung der Anordnung von Körpergliedern. Die Gene sind
unverzichtbare Bausteine unserer Anatomie im Kleinen, also Teil des großen
Ganzen, das Mensch heißt. In ihrer Statik (Sequenz) und Dynamik (Expression)
sind sie ebenso wie unser Körperbau und unsere anatomische Flexibilität
Bestandteil, aber nicht Ursache unserer Ganzheit als Menschen.
Das
Erkunden der genetischen Hierarchieebene wirft schließlich die Frage auf: Wo
findet Selektion eigentlich statt? Welche Organisationsebene ist dafür
verantwortlich, die treibende Kraft? Was ist Ursache, was Wirkung? Steuern die
Gene die Veränderung der Anatomie, oder kann es auch umgekehrt sein? Und
weiter: Welche Molekülart ist am Ruder? Kontrollieren unsere Nukleinsäuren die
Proteine, Kohlenhydrate und so weiter, oder geht es auch andersherum? Sind Gene
egoistisch („selfish“) oder Sklaven einer anderen
Machtzentrale?
Mit
der Entdeckung der epigenetischen Programmierung
könnte der lange überwunden geglaubte Lamarckismus in veränderter Form wieder auftauchen. Es gibt
auf den Chromosomen Marker, die offenbar entscheiden, welche DNS-Abschnitte
aktiv sind, also abgelesen werden. Die Marker sind molekulare Veränderungen
weniger der DNS selbst, sondern der Proteine, mit der sie assoziiert ist. Das
führt zu der Frage: Kontrollieren Proteine die DNS?
Da
die Marker nicht einfach vererbt, sondern mindestens teilweise während des
Lebens von der Verschmelzung von Ei und Samenzelle an aufgebracht und verändert
werden, ist auch das zu fragen: Gibt es einen Informationsfluss nicht von,
sondern sozusagen zur DNS? Welcher Code ist der „Master“-Code?
Die DNS-Basensequenz, die epigenetische
Programmierung? Ein uns noch gänzlich unbekannter Strukturcode des räumlichen
Baues der DNS? Die Taktung der Transkription?
Die Ordnung, die hinter all diesen Phänomen steckt, scheint uns zu überfordern; noch sind die Rätsel zu groß. Wir wissen nicht, ob wir bei so komplexen Objekten wie Menschen und Affen überhaupt in der Lage sein werden, Ursache und Wirkung im biochemischen Detail jemals zu unterscheiden. Vielleicht kommen wir nie über die vage Erkenntnis hinaus, dass alles mit allem zusammenhängt – in sich und mit der Umwelt.
Das Wissen wird unsicher
Was
ist der Mensch? Je mehr wir von uns wissen, desto unsicherer werden gesichert
geglaubte Grundannahmen. Möglicherweise ist das gut so, damit wir nicht
überheblich werden. „Du gleichst dem Geist, den du erkennst“, heißt es im
„Faust“. Gleichen wir nicht einmal uns selbst, da wir uns selbst kaum
begreifen? Oder vergleichen wir an der falschen Stelle? Verlieren wir, was wir
schon wissen, weil wir uns nur im materiellen (biochemischen, genetischen)
Detail suchen, nicht im Geistigen? Suchen wir im Nebensächlichen, wenn wir das
Menschliche vor allem im Affen suchen?
Angesichts
so vieler Anfragen an Materialismus, Naturalismus und die Evolutionshypothese
darf auch einmal daran erinnert werden, dass diese Anschauungen in der jüngsten
abendländischen Geschichte leider mehrfach missbraucht und in den Dienst
menschenverachtender Ideologien gestellt wurden. Das spricht faktisch so wenig
gegen sie, wie der Missbrauch des Christentums automatisch gegen die Historizität der Bibel spricht. Doch wäre es eine gute
Sicherheitsmaßnahme und ein gutes Korrektiv, auch jene andere
Weltentstehungserklärung nicht völlig unter den Tisch zu kehren oder ins
Lächerliche zu ziehen, die den Gedanken an einen schaffenden Gott für denkbar
und wissenschaftlich fruchtbar hält. Das wäre eine Prophylaxe gegen die moderne
Hybris, sich ganz oben und niemandem verantwortlich zu dünken, und entsprechend
von oben herab und unverantwortlich zu handeln, zum Schaden für alles Leben auf
diesem Planeten.
Da
die heutigen Fragen auch schon früher behandelt wurden, sollen nun Stimmen
zweier berühmter Denker in unsere Zeit hinein sprechen. „Wir müssen also
wissen, wer wir sind und dass wir nicht aus uns selbst das sind, was wir sind“,
so Bernhard von Clairvaux (1090–1153) in seiner
Schrift „Über die Gottesliebe“. Weiter meint er: „Wenn sich der Mensch nicht
als Geschöpf kennt, das sich von den vernunftlosen Tieren durch den Besitz des
Verstandes unterscheidet, dann beginnt er, sich mit ihnen zu verwechseln. Weil
er seine wahre innere Herrlichkeit nicht kennt, wird er von seiner Neugier
gefangen und beschäftigt sich mit äußerlichen, sensualistischen Dingen.“
Bei
Blaise Pascal, der von 1623 bis 1662 lebte, heißt es im Traktat „Über die
Religion“: „Was für ein Hirngespinst ist dann der Mensch? Was soll aus euch
Menschen werden, die ihr durch natürliche Einsicht erkennen wollt, was eure
wirkliche Seinslage ist? Erkenne also, Hochmütiger, was für ein Widerspruch du
dir selbst bist. Demütige dich, unmächtige Vernunft, schweige still, törichte
Natur, begreife: Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen. Vernehme von
deinem Herrn deine wirkliche Lage, von der du nichts weißt. Höre auf Gott.“
Aus:
Rheinischer Merkur Nr. 51/52, 18.12.2003, Wissenschaft
Dr.
Peter Imming, ist Professor für Pharmazeutische
Chemie in Halle/Wittenberg