In N..., einer orientalischen Stadt, ereignete sich vor Jahren etwas so Aufsehenerregendes und zugleich Rührendes, daß ich es auch in der deutschen Sprache weitererzählen möchte.
In dieser Stadt lebten in einem Haus zwei ganz verschieden geratene Brüder beisammen. Der Jüngere der beiden, ein gewalttätiger Mensch, führte ein zügelloses, ausschweifendes Leben. Von früh bis spät in die Nacht hinein gab er sich dem Laster hin und dachte nicht im entferntesten daran, dieses sündhafte Leben aufzugeben.
Der Ältere dagegen war ein stiller, gottesfürchtiger Mann, demütig und fleißig, der sich von den Sünden der Welt fern hielt und ein wirklich gottseliges Leben lebte. Tief betrübt über das Leben seines Bruders, ermahnte er ihn oft unter Tränen. Dieser aber achtete weder auf seine Bitten noch auf seine Tränen, sondern führte sein Leib und Seele verderbendes Leben fort. Fast Tag für Tag trieb er sich in schlechter Gesellschaft herum, während sein Bruder zu Hause oft in herzlicher Fürbitte zu Gott auf ihn wartete.
Einmal, nach Mitternacht, hörte der ältere Bruder ein heftiges Klopfen an der Wohnungstür. Schnell öffnete er, und hastig, bleich und zitternd und mit blutigen Kleidern trat der Jüngere ein: "Rette mich! Verbirg mich!" flehte er; "man verfolgt mich! - Ich habe einen Menschen umgebracht - Sieh, das Blut! . . . O, sieh hier sein Blut!" . . .
Aber wie ihn verbergen, daß man ihn nicht finden könnte? Ohne ein Wort zu verlieren, ergriff der Ältere die blutigen Kleider seines Bruders und zog sie sich an. Dann zog er ihm seinen eigenen reinen Anzug an, stieß ihn schnell in ein Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich zu.
In dem selben Augenblick hörte er es auch schon klopfen, und Polizisten drangen herein: "Ganz, wie wir es vermuteten! Hier ist der Mörder", rief einer dem anderem zu, "schon anderer Dinge wegen hatten wir diese Wohnung in Verdacht".
Sie traten an den älteren Bruder heran, sahen ihn finster an, und dann, auf seine Kleider blickend, fragten sie ihn: " Bist du der Mörder?". Er aber antwortete nichts.
"Was fragst du noch lange, du siehst doch, daß seine Kleider ganz blutig sind", sagte ungeduldig ein anderer Polizist; "laß uns ihn binden und mitnehmen!". Daraufhin banden sie ihm die Hände, zogen ihn auf dunklen Wegen mit sich, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Dort steckten sie ihn bis zum Morgen in eine dunkle Zelle. Während der ganzen Vorgänge redete der gefangene nicht ein einziges Wort.
Am folgenden Morgen kamen sie, um ihn zur Untersuchung zu führen. Er gab aber auch dort keine Antwort, sondern wiederholte nur: "Ich weiß, daß ich wegen dieses Verbrechens sterben muß, und je eher, desto lieber".
Nach verlauf einiger tage wurde er vor Gericht geführt. Die Richter zeigten auf seine blutbefleckten Kleider und sagten: "Hier bedarf es keiner Zeugen, die Sache liegt ja ganz klar auf der Hand!" - "Hast du einen Verteidiger?" fragten sie den Angeklagten.
"Ich habe keinen", antwortete er.
"Hast du etwas zu deiner Rechtfertigung zu sagen?"
"Nein", antwortete er mit fester und entschlossener Stimme, und senkte scheu seinen Kopf, damit seine Augen nicht seine Unschuld verraten möchten.
So wurde das Gerichtsverfahren bald beendet, und man verurteilte ihn zum Tode.
Am Vorabend der Urteilsvollstreckung fing der verurteilte ganz unerwartet an zu sprechen. Er bat, daß der Gefängnisdirektor zu ihm kommen möchte.
Als dieser in seine Zelle trat, sagte der Gefangene: "Wollen Sie die Güte haben, die Bitte eines dem Tode nahen Menschen zu erfüllen? Geben Sie mir bitte Papier, Feder und Tinte, daß ich einen Brief schreiben kann, und Siegellack, ihn zu versiegeln, und versprechen Sie mir vor Gott, daß Sie die Siegel nicht brechen, sondern den Brief nach meinem Tode an die Adresse schicken werden. - Seien Sie versichert, daß keine böse Absicht damit verbunden ist - wird doch meine Seele morgen vor Gott erscheinen - ich werde gewiß in meiner letzten Stunde nicht lügen".
Der Direktor beobachtete das Gesicht des verurteilten. Er konnte nicht an der Wahrheit seiner Worte zweifeln und brachte es nicht übers Herz, ihm seine Bitte abzuschlagen. Es schien, als hätte er seine ganze Seele in diese Bitte gelegt. Er war so ruhig, so sanft, und in seinen Augen leuchtete es wie ein überirdisches Licht.
Der Direktor brachte eigenhändig, was er brauchte, und versprach, die angesichts des Todes an ihn gerichtete Bitte gewissenhaft zu erfüllen.
Als man am Abend den Rundgang bei den Zellen machte, nahm man dem zum Tode Verurteilten stillschweigend den versiegelten Brief ab.
Die Nacht verging; eine Nacht der Ruhe für manche - eine Nacht der Schmerzen und der Sünden für viele - für den Eingekerkerten eine Nacht zwar ohne Schlaf, aber des vollen Friedens. Auf seinen Knien in seiner Zelle, an der Schwelle der Ewigkeit stehend, redete seine Seele mit Gott - und in dem Frieden der Versöhnung des Blutes Christi schaute er hinüber in die vor ihm liegende andere Welt. Ein neuer Tag brach an, die Menschen machten sich an die Arbeit, auch diejenigen, welche den vermeintlichen Verbrecher zum Tode führen sollten. Nur noch eine Stunde, und dann war alles vorbei.
Bald danach wurde jemand beauftragt, den Brief an die aufgegebene Adresse zu überbringen. Mit dem Brief in der Hand klopfte er an die Tür der Wohnung der beiden Brüder
Ein Mann mit blassem und verwirrt - erregtem Gesicht übernahm den Brief. Er schaute ihn lange starr an, als sei er unrichtig zugestellt, dann endlich brach er die Siegel. - Er las - und Laute des Schmerzes rangen sich aus seiner Brust! -
Dann stürmte er zur Tür . . . . . und wieder zurück ins Zimmer - wie wahnsinnig. Am ganzen Körper zitternd fing er laut an zu jammern.
Was stand denn in dem Brief? Nicht viel, nur wenige Worte. Sie lauteten:
"Morgen, mit deinen Kleidern angetan, sterbe ich für dich, und du, mit meiner Kleidung angetan, führe im Gedanken an mich ein gerechtes und heiliges Leben!"
"Ich sterbe für dich!" Diese Worte erschütterten den von der Sünde und der Todesfurcht wie Versteinerten und Erstarrten bis in die Tiefe seines Herzens. Gleich einem, der zum erwachen kommt, wiederholte er immer wieder: "Ich sterbe für dich!"
"Vielleicht ist er noch nicht gestorben?!" Er stürzte zur Tür hinaus, um seinen Bruder zu retten. Er kam bis zum Gefängnis. Dort wurde er angehalten. Flehentlich bat er immer wieder, den Direktor sprechen zu dürfen bis man sich erbarmte und ihn einließ.
Der Direktor las den Brief. Die Worte: "Ich sterbe für dich" bewegten sein herz tief. Er erinnerte sich der inständigen Bitte des dem Tod geweihten Gefangenen, des ruhigen, friedvollen Blickes, dem er nicht hatte widerstehen können. In großer Gemütsbewegung brachte er den Brief jenem Richter. Auch dieser las ihn und begann dann den Schuldigen auszufragen: Dieser bekannte alles: Das vergangene Leben - das letzte Verbrechen - die Furcht vor der Entdeckung - sein schändliches schweigen - und schloß mit der Bitte: "Tötet mich! Bitte, laßt mich sterben!"
Aber das Wort des Hingerichteten: "Ich sterbe für dich", war dem Richter heilig - heilig in seiner ganzen Tragweite. Ein so großes Opfer durfte nicht verloren und vergeblich sein. Tief gerührt schaute er auf den Schuldigen, der der Gegenstand einer so großen Liebe gewesen, und er urteilte, daß er kein Recht mehr habe, ihn zu töten, ja nicht einmal das Recht, ihn gefangenzusetzen.
Leben und Freiheit waren ihm somit verbürgt. Mit dem Brief in der Hand kehrte der nun auf Grund des Todes seines Bruders Begnadigte und Freigesprochene in seine Wohnung zurück. Mit zerknirschtem Herzen schrie er in Schmerz und Buße zu Gott. Inbrünstig flehte er unter Tränen: "Laß mich nicht in meinen Sünden sterben! Erbarme dich meiner!"
Wenn er auch durch den Tod seines Bruders nun dem irdischen Richter entgangen war, die Stimme des Gewissens rief ihm laut ins Herz, daß die Frage seiner Sünden, ja seines ganzen sündbefleckten Lebens noch vor einem anderen - dem himmlischen und göttlichen Richter - geordnet werden müßte.
Sein ganzes dunkles Sündenleben stand wie vom Strahl des göttlichen Lichtes überflutet, aufgedeckt vor seinen Augen, und in tiefer Abscheu vor sich selbst sank er zu Boden. - Ich bin verloren - ewige Verdammnis ist mein Los - so hallte es wie ein Schrei in seiner Seele. Kein Glied wagte er zu rühren, stumm lag er in Reue und Schmerz vor Gott.
"Ich starb für dich!" Wie eine leise Stimme tönte es in seinem Herzen. Was er nie zuvor gesehen, ging seinem Geistesauge wie ein neues Licht auf: Noch ein anderer - Jesus - starb für dich; Jesus stand an deiner stelle dem göttlichen Richter gegenüber. Furcht und Zweifel - Schuld und Hoffen wogten und rangen in seiner Brust.
Wie nie zuvor enthüllte sich ihm das Werk der Liebe Gottes. Er sah Jesum, den Sohn Gottes, am Kreuz für seine Sünden sterben. "Ich starb für dich! Ich der gerechte, für dich, den Ungerechten!" so klang es, wie von einer Stimme gesprochen, sanft in sein Herz hinein. Still, in heiliger Scheu, überwältigt von der Liebe Christi, die sich für ihn, den Gottlosen, hingab, erfaßte im Glauben seine Seele den Heiland, der am Kreuz auf Golgatha die Frage seiner Sünden vor Gottes Richterstuhl gelöst hatte. So, auf seinen Knien vor dem Auge des Allsehenden, rang sich seine Seele durch zum Glaubenserfassen des für ihn gekreuzigten Heilandes. Furcht und Zweifel schwanden, und ein über das andere mal kam es in der Glaubensgewissheit über seine Lippen: "Herr Jesus, Du starbst für mich!" - "Du nahmst mein sündiges Lebenskleid!" - "Du starbst für meine Schuld!" Und in das Stammeln des Dankes für seine Liebe mischte sich nur noch die einzige Bitte: "Herr, hilf mir, daß ich nicht nur die Kleider meines Bruders würdig trage, hilf mir, daß ich jetzt dein Leben lebe. Hilf mir, bewahre mich vor jeder Befleckung der Sünde!"
Von dieser Zeit an war er nicht mehr wiederzuerkennen, so gänzlich war er in seinem Leben und Wesen verändert. Wohl bemühten sich anfangs seine früheren Kameraden, ihn wieder für sich zu gewinnen und ihn an Ort und Stelle der Sünde zurückzuziehen; aber seine Antwort war stets in Sanftmut und Demut: "Mit diesen Kleidern kann ich nicht mit euch gehen. Mein Bruder und mein Heiland würden niemals an solchen Orten sein". Nach und nach sahen sie ein, daß es verlorene Mühe sei, noch länger auf ihn einzureden, und ließen von ihm ab.
Andere aber traten ihm näher. Sie sahen mit Ehrfurcht auf die Kleider, die er trug; sie sahen ein umgewandeltes, Gott geweihtes Leben und wandten sich auch zu dem hin, von dem er als retter und Heiland zeugte, und der die Kraft seines neuen Lebens war.
So vergingen die Jahre, die er nun seinem Herrn lebte, und viele fanden durch ihn den Weg zum Frieden mit Gott. Aber sein Verlangen war, heim zu seinem Herrn zu gehen, und der Herr erhörte sein Bitten und nahm ihn frühzeitig zu sich in seine Herrlichkeit, wo die beiden Brüder nun für immer vereint sind.
Seinem Wunsch gemäß wurde er in Kleidern seines Bruders zu Grabe getragen, und allen, die seine Geschichte kannten, war die Bedeutung seines Wunsches unvergeßlich.
Meine Erzählung ist nun zu Ende, aber ihre Nutzanwendung ist bedeutungsvoll und wichtig für jeden Menschen, insbesondere für dich, der du diese Zeilen liest.
Vielleicht hat Gottes Gnade dich vor einem Leben in den tiefen der Sünde bewahrt, aber du weit, daß auch dein Lebenskleid durch die Sünde befleckt ist und du mit Gott versöhnt werden mußt. Hast du nie die Gute Botschaft der Gnade Gottes gehört, das ein anderer - Jesus - für Sünder starb? Vielleicht hat diese Botschaft kaum die Oberfläche deines Herzens berührt. Aber willst du nicht einmal darüber nachdenken, was Gott über das Leben und Sterben Christi, unseres Heilandes, sagt? Er liebt dich so, daß er für dich litt und die Strafe zu deinem Frieden auf sich nahm. Er gab Sein leben für dein Leben, um dich, wenn du an ihn glaubst, von dem kommenden Gericht zu erretten und dich von der Herrschaft der Sünde zu befreien, damit du Ihm jetzt leben und dienen kannst.
Lieber Leser, hast du beobachtet, wie dieser Mann sich in Selbstgericht und Buße vor Gott beugte? Willst du dich nicht auch vor deinem Gott beugen und im Glauben den Herrn Jesus als deinen Heiland und Erretter für dich annehmen? Bedenke, angetan mit deinen Kleidern beladen mit deinen Sünden - starb er für dich. In dem Augenblick, da du im Glauben zu Ihm als deinem Heiland kommst, umhüllt Er dich mit seinen Kleidern des Heils, und in Seiner Kraft kannst du gerecht und heilig leben zu Seinem Preise.
Welche Antwort willst du Ihm geben auf Seinen Brief an dich?
"Er, der Gerechte, litt für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe" (1. Petrus 3, 18)
"Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm" (Jesaja 53, 5)
"Er, der die Sünde nicht kannte, wurde für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Korinther 5, 21)
"Er selbst hat unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen, auf daß wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen wir heil geworden sind" (1. Petrus 2, 24)
"Hieran haben wir die Liebe erkannt, daß er für uns sein Leben dargelegt hat" (1. Johannes 3, 16)
Was willst du tun?
Er schreibt dir: "Jeder, der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden" (Apostelgeschichte 2, 21)
"Diesem geben alle Propheten Zeugnis, daß jeder, der an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt durch seinen Namen" (Apostelgeschichte 10, 43)