von Martin Kamphuis
Seit Jahren gibt es im Westen einen Buddhismus-Boom,
zu dem Filme wie „Kundun“ und „Sieben Jahre Tibet“
beigetragen haben. Viele Menschen sind fasziniert von der fernöstlichen
Religion. Woher kommt diese Sehnsucht?
Zunächst ist Buddhismus etwas Exotisches und bekanntlich
lockt das Fremde mehr als das Altbekannte. Dann sind viele Menschen durch die
Institution „Kirche“ und vielleicht auch durch schlechte Vorbilder, enttäuscht
vom Christentum. Und nicht zuletzt ist in unserer aufgeklärten Gesellschaft
eine zunehmende Sehnsucht nach übersinnlichen Erfahrungen zu bemerken.
Besonders der tibetische Buddhismus hat auf diesem Gebiet jahrhunderte lange
Erfahrung zu bieten.
Der Buddhismus und vor allem der Dalai Lama gelten
im Westen als offen, friedliebend, ausgeglichen und tolerant. Sie waren Jahre
lang selbst praktizierender tibetischer Buddhist. Wie friedfertig ist der
tibetische Buddhismus nach Ihrer Ansicht tatsächlich?
Als erstes muss man wissen, dass es im tibetischen
Buddhismus etwa 45% friedliche und 55% zornige Buddhamanifestationen gibt. Das
heißt, es wird gelehrt, dass es nicht nur friedliche Formen der Erleuchtung,
sondern auch erleuchtete Formen des Zorns gibt. Der innere Friede soll dann
hergestellt sein, wenn der Mensch sowohl seine friedlichen als auch seine
zornigen Anteile anerkennt und integriert, d.h. unter gewissen Umständen auch
auslebt. Zu diesem Zweck wurde ich z.B. in eine zornige Buddhamanifestation
eingeweiht. Diese Manifestation des Buddha repräsentierte
nicht nur meine zornigen Seiten, sondern sollte sie in der Vereinigung mit ihr
zu einer erleuchteten Form des Zorns transformieren.
Die christliche Lehre fordert dagegen auf, dem Zorn keinen Raum zu geben, auch
wenn dies von Menschen, die sich sogar Christen nennen immer wieder missbraucht
wird.
Der tibetische Tantra-Buddhismus strebt in der
Vereinigung von Frieden und Zorn nicht nur nach innerem Frieden, sondern sogar
nach Weltfrieden. Das wiederum impliziert, dass sowohl friedliche als
kriegerische Handlungen im Sinne dieses Tantras sind.
Kriegerische Handlungen sind in den Texten von „Kalachakra“
für das Jahr 2425 prophezeit. Dann wird ein buddhistischer Herrscher die
Weltherrschaft an sich reißen und einen weltweiten Frieden im Sinne des Buddhismus
(unter Ausschluss aller anders - vor allem Gott-Gläubigen) durchsetzen.
Von Kritikern wird vor allem auf das Kalachakra-Tantra verwiesen, das bevorzugte Ritual des
Dalai Lama, bei dem er im Westen bereits Hunderttausende Anhänger initiiert
hat. Was hat es damit auf sich?
Durch das Einweihungsritual sollen den Teilnehmern die
inneren Augen für eine Buddhawesenheit namens Kalachakra
geöffnet werden. Kalachakra wird in der Vereinigung
mit einer Partnerin und mit vier Gesichtern dargestellt. Zwei der Gesichter
sehen friedlich aus und zwei zornig. Durch Meditation wird eine Vereinigung mit
dieser Buddhamanifestation angestrebt. Das Ritual soll zwar in weiterführende
Praktiken des Tantras führen, verspricht aber auch
einen Segen für diejenigen die nicht tiefer einsteigen.
Der Segen könnte z.B. sein, zur Zeit des siegreichen buddhistischen Königs
wiedergeboren zu werden und an seiner Seite in dem Weltkrieg zu kämpfen und zu
siegen
Das Ritual führt auch in die esoterische Weltsicht des Kalachakra
ein, worin Kosmologie, Alchemie, Wahrsagemethoden, alternative Heilmethoden und
andere magische Methoden enthalten sind. Methoden, die in der New-Age-Bewegung
neu zum Leben erweckt wurden, finden hier einen tieferen Zusammenhang. Die
kosmologische Weltsicht des Kalachakra Tantra entspricht der spirituellen Weltsicht der heutigen
Esoterik.
Welche Rolle spielt Sexualmagie dabei? Wie steht
es überhaupt mit der Rolle der Frau im tibetischen Buddhismus?
In den höchsten Tantraformen ist
Sexualmagie ein wesentlicher Faktor. Hierbei werden junge Frauen von dem
Meditierenden für einen spirituellen Aufstieg sexuell gebraucht. Die
schottische Nonne June Campbell hat diese Praxis nach
dem Tod ihres 30 Jahre älteren Meister als sehr entwürdigend beschrieben.
Frauen haben im Buddhismus generell und im tibetischen Buddhismus besonders
eine untergeordnete Rolle. Die weiterführenden tantrischen
(besonders die sexuell-magischen) Praktiken sind alle auf den Mann
ausgerichtet.
Wenn der Dalai Lama in Hamburg auf einem Kongress buddhistischer Nonnen
spricht, wird erwartet, dass er erstmals in der Geschichte des Buddhismus
Nonnen die gleiche Weihe zusprechen wird als Mönchen. Hierdurch sollen auch
Frauen in Lehrämter in buddhistischen Gemeinschaften auftreten dürfen. Was
dieses in Bezug zu den eindeutig männlich ausgerichteten Tantra-Praktiken
bedeuten würde, bleibt unklar.
Im Westen tritt der Dalai Lama sehr tolerant auf,
wie sieht es aus, wenn man innertibetische Auseinandersetzungen betrachtet?
Erich Follath schrieb im Spiegel:
„Das ist der spirituelle Dalai Lama: liberal gegenüber anderen Religionen, im
Umgang mit seinen Glaubensbrüdern gelegentlich von einer an Joseph Ratzinger
erinnernden Schärfe“.
Die Schärfe des Dalai Lama gegenüber seinen Glaubensbrüdern beruht nicht nur
auf einem streng organisierten, hierarchischen System, in dem er sowohl der
absolut religiöse als auch der politische Herrscher ist; sondern auch auf dem
ihm zugeschriebenen hohen spirituellen Erkenntnisstand.
Sein Führungsstil wird innerhalb der Mönchskreise von manch einem als
despotisch beschrieben. Z.B. verbietet er seinen Mönchen zu einer anderen
Religion zu wechseln.
Kritiker werfen dem tibetischen Buddhismus auch
vor, erhebliche missionarische Anstrengungen im Westen zu unternehmen. Dabei
würden etwa christliche Elemente einfach integriert, der Absolutheitsanspruch
aber keineswegs aufgegeben. Sehen Sie das auch so?
Freunde des Buddhismus behaupten häufig, dass Buddhisten
nicht missionieren. Diese Aussage kann ich nicht bestätigen. Da ich selber
Buddhist war, weiß ich z.B., dass öffentliche Einweihungsrituale, das Legen von
Sandmandalas – auch in Kulturmuseen –das Aufstellen und Einsegnen
buddhistischer Heiligtümer, wie Stupas, Tempel oder
Buddhastatuen als eine Form der Mission gesehen werden müssen. Hierin sollen die
Menschen nicht durch Worte mit dem Buddhismus in Berührung gebracht werden,
sondern durch das Ausstrahlen der Buddhaenergie.
Wird in Deutschland im Religionsunterricht ein Besuch eines buddhistischen
Zentrums angeboten, führen die Mönche eine buddhistische Form der Meditation
mit den Schülern durch. Dies geschieht ebenso zu Tagen der offenen Tür.
Im Buddhismus ist im Gegensatz zum Christentum der Glaube untergeordnet.
Wichtig sind spirituelle Übungen. Sie führen zum Ziel der Erleuchtung. Darum
kann der Dalai Lama sagen: „Bleibt in Euren Kirchen, aber meditiert.“
Der Dalai Lama wird als Boddhisattva betrachtet. Ein Bodhisattva ist eine Person, die auf die letztendliche
Erleuchtung verzichtet, um anderen Wesen auf dem Weg zur Erleuchtung zu helfen.
Somit hätte er sich bewusst für einen missionarischen Auftrag entschieden.
Im Westen gibt es bei vielen Menschen Illusionen
über Begriffe wie „Nirvana“ und „Erleuchtung“, die
für einen Zustand der Glückseligkeit gehalten werden. Tatsächlich geht es da ja
um die Auflösung des Ich, um das Erstreben einer Leere, in der alle
Empfindungen von Glück und Leid aufhören. Ist das mit christlichen
Vorstellungen überhaupt vereinbar?
Nirwana, Buddha oder Erleuchtung sind exotisch klingende
Begriffe, die leicht missverstanden werden. Die Namen stehen alle für das Ziel,
nämlich den Zustand der absoluten Leerheit. Dieser Zustand wird zwar glückselig
genannt, es soll in ihm jedoch weder die Person, noch Empfindungen,
Wahrnehmung, Bewusstsein oder Geist geben.
Das Ziel im Christentum ist dagegen nicht die Auflösung der eigenen Person,
sondern eine Begegnung mit einem allmächtigen Gott, der in einem himmlischen
Reich wohnt. In dieses Reich kann niemand aus eigener Kraft gelangen. Es wird
uns nur geschenkt, wenn wir durch Jesus Christus die Vergebung der trennenden
Schuld empfangen. Im Nirwana gibt es keine Person, aber auch keinen Gott.
Deswegen sind Gott und Nirwana unvereinbar.
Der Dalai Lama redet viel von Achtsamkeit und
Mitgefühl. Was verstehen Buddhisten darunter? Wo liegt der Unterschied zum
christlichen Verständnis?
Achtsamkeit und Mitgefühl sind im Buddhismus Mittel, um zum
Ziel der Erleuchtung zu kommen. Bei Achtsamkeit geht es darum, die Dinge in und
um sich so sehr wahrzunehmen, dass man völlig in der Erfahrung des Augenblicks
aufgeht, so dass sich das Selbst in dem Moment auflöst (Erleuchtungserfahrung).
Ähnlich ist es auch beim Ausüben von Mitgefühl. Im Mitfühlen der Leiden eines
anderen Wesens, soll die eigene Person völlig verschwinden und dadurch eine Erleuchtungserfahrung machen.
Im Christentum dagegen wird Mitgefühl oder Barmherzigkeit als ein Akt der
Nächstenliebe gesehen, der ausschließlich auf die Not leidende Person
ausgerichtet ist. Sie ist eine Weitergabe der Liebe Gottes. Achtsamkeit kann
bedeuten, dass ein Mensch sein Verhalten an Gott und seinem Maßstab prüft.
Sowohl Achtsamkeit als auch Mitgefühl sind jedoch keine Mittel, um das
persönliche Ziel – eine Begegnung mit Gott – zu erreichen. Dieses Ziel wird den
Christen durch Jesu Tod am Kreuz geschenkt und ist keine Bezahlung für
Leistung.
Ist Mitgefühl und Helfen in der Not also nur
Mittel zum Zweck?
Ja, letztlich ist Mitgefühl üben im Buddhismus nur Mittel
zum Zweck der Erlangung der Erleuchtung. Eine Geschichte, die mir mein Lama
damals erzählte, macht das deutlich: Ein Bodhisattva
sah einen Hund, der leidend mit einer offenen Wunde am Wegrand lag. Bei näherem
Hinsehen entdeckte er, dass die Wunde voller Maden war. Um dem Hund zu helfen,
war es nötig die Wunde von den Maden zu reinigen. Dabei würden jedoch die Maden
umkommen, da ihnen ihre Nahrung entzogen wäre. Aus Mitgefühl für den Hund und
für die Maden, entschloss er sich, seinen Ekel zu überwinden und den Tieren zu
helfen. Er ritzte sich in den Arm, holte mit der Zunge die Maden aus der Wunde
und setzte sie in seine eigene Wunde. In diesem Moment soll sein Ich erloschen
sein und er befand sich im Zustand der Erleuchtung.
Auch in den christlichen Kirchen gibt es eine
nicht geringe Anzahl von Bewunderern des Buddhismus. Wo liegen für Sie die
fundamentalen Unterschiede zwischen Christentum und Buddhismus? Wie weit kann
ein Christ sich auf den Buddhismus einlassen, ohne den Boden seiner Religion zu
verlassen?
Die Übereinstimmung in ethischen Fragen in Buddhismus und
Christentum täuschen häufig über die fundamentalen Unterschiede hinweg. Der
größte Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum liegt in der Tatsache,
dass Buddhisten keinen Schöpfer- und Erlösergott kennen und anerkennen. Damit
sehen Buddhisten sich nicht als von Gott geschaffene Wesen, sondern sie gehen
davon aus, dass alles Sichtbare Illusion ist und der Mensch erkennen muss, dass
die einzige absolute Wahrheit in dem Zustand der Leerheit liegt, den es somit
anzustreben gilt.
Während für Christen das gekannt sein und erkennen dieses Schöpfer- und
Erlösergottes Ansatz und Ziel ist. Weil die Unterschiede bezüglich Ansatz und
Ziel beider Religionen so groß sind (Die Annahme eines Gottes oder die Annahme
es gäbe keinen Gott sind übrigens beide Glaubensannahmen, beide Annahmen sind
nicht beweisbar), soll ein Christ sich gar nicht auf den Buddhismus einlassen,
denn damit verlässt er sofort die Grundlage seiner Religion. In ähnlicher Weise
warnt der Dalai Lama vor Menschen, die sich „buddhistisch-christlich“ nennen.
Zu überlegen ist, welche buddhistischen Übungen auch im christlichen Rahmen
sinnvoll sein könnten. Im Gegensatz zur Versenkungsmeditation (Auslöschen des
Selbst) könnte die analytische Meditation meines Erachtens auch von Christen
ausgeübt werden. Es handelt sich dabei um eine Art des konzentrierten
Nachdenkens über ein Thema. Z.B. denken Buddhisten über Themen wie die
Vergänglichkeit des Lebens, die Vorzüge Mensch zu sein, etc. nach. Christen
könnten z.B. über die Qualitäten Gottes oder seine Verheißungen intensiver
nachsinnen, um sich noch mehr über ihre Erlösung zu freuen.
Martin Kamphuis