Kurt Scherer

06. Juni1985

29. Ludwig-Hofacker-Konferenz

Seelsorgerliche Hilfen bei seelischen Schäden durch ein falsches Gottesbild

 

Die Brief- und Telefonseelsorge im ERF zeigt, dass ein falsches Gottesbild an Leib, Seele und Geist krank machen kann.

 

1. Wie kann solch ein falsches Gottesbild aussehen?

1.1. Z. B. in der einseitigen Vorstellung des nur zürnenden und strafenden Gottes;

1.2. oder in der einseitigen Vorstellung des nur nachsichtigen und liebenden Gottes.

1.3. In Wirklichkeit aber haben wir es in der Bibel mit dem zürnenden und strafenden sowie mit dem nachsichtigen und liebenden Gott zu tun. „Denn welchen der Herr lieb hat, den weist er zurecht“ (Hebräer 12, 6).

 

2. Wie kann ein falsches Gottesbild entstehen?

2.1. Durch „falsche“, d. h. einseitige Verkündigung. Folgende Aussagen verdeutlichen das:

   „Mit Jesus bist du nie mehr einsam.“ Doch!

Wer mit Jesus lebt ist zwar nicht mehr allein (Matthäus 28, 20), aber einsam kann er trotzdem sein.

   „Bei Jesus bist du immer fröhlich.“ – Das ist doch nicht wahr!

Denken Sie nur an das Heer der Depressiven, an die von Schmerz Geplagten und von Kummer und Trauer Bedrückten.

   „Jesus löst alle deine Probleme.“ – Auch das stimmt nicht!

Jesus kann sie lösen, ganz gewiss. Er kann aber auch meine Einstellung dazu ändern. Er kann mir die Kraft geben, die Probleme zu tragen und zu ertragen. Ja, er kann sogar wollen, dass ich an den Problemen reife, und deswegen lässt er sie mir (2. Korinther 12, 9).

   „Jesus gibt Antwort auf alle Fragen.“ – Nein!

Es gibt in meinem Leben und im Leben vieler Nachfolger Jesu unbeantwortete Fragen.

 

2.2. Ein falsches Gottesbild kann auch entstehen durch „falsch verstandene“ Verkündigung.

– Z. B. versteht jemand den Satz falsch: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden“ (2. Korinther 5, 17).

Es ist eben nicht „alles neu geworden“, sondern eine neue Schöpfung hat begonnen. Man ist Christ und muss doch erst Christ werden. Das ist aber etwas anderes, wie wenn „alles neu geworden“ ist.

   Oder der andere Satz wird missverstanden: „Jesus heilte sie alle“ (Matthäus 12, 15). Ja, die man in dieser angesprochenen Situation zu ihm brachte, aber doch nicht alle Kranken in Palästina. Es gilt auch, Krankheit anzunehmen und mit ihr leben zu lernen.

   Oder: „Wer in Gott bleibt, sündigt nicht“ (1. Johannes 3, 6). Ja, in Jesus Christus sind wir sündlos vor Gott, aber wir selbst werden, so lange wir auf dieser Erde leben, sündigen, auch wenn wir es nicht müssen.

   Noch ein letztes Beispiel für „falsch verstandene“ Verkündigung: Man meint, vergeben sei gleichzusetzen mit vergessen. Wie viel Krampf entsteht durch solches Denken. Vergeben ja, aber Vergessen muss nicht sein. Wer es trotzdem zwingt, wird nicht selten seelisch krank.

 

2.3 Ein falsches Gottesbild christliche Erziehung.

   Wenn Eltern oder ein Elternteil durch sein Reden und Verhalten ein falsches Bild von Gott vermitteln:

den nur strafenden, Angst machenden, moralisierenden, fordernden, gesetzlichen, mies machenden Gott;

   oder wenn durch pseudofromme Erziehung eine Lebens-, Liebes- und Leibesfeindlichkeit vermittelt wird;

   oder wenn aus falsch verstandener Liebe – gut gemeint und daher falsch – dem Kind alle Belastungen und Entscheidungen abgenommen werden;

 

 

3. da kann es gar nicht ausbleiben, dass seelische Schäden entstehen.

 

3.1. Wer nicht gelernt hat, an Belastungen, Schwierigkeiten, anstehenden Entscheidungen zu reifen, braucht sich nicht zu wundern, wenn er nicht belastbar, nicht widerstandsfähig, nicht entscheidungsfähig ist.

 

3.2. Wer die Sexualität, den Leib, das Leben nicht als gute Gabe Gottes vermittelt bekommen hat, für den ist es schwer, liebesfähig, lebenstüchtig sein Dasein zu gestalten.

 

3.3. Wie schnell entsteht aufgrund „falscher und falsch verstandener“ Verkündigung, sowie falscher christlicher Erziehung Angst.

 

3.3.1. Angst vor dem Versagen: „Ich bin nicht gut genug; genüge nicht den Ansprüchen; bin nicht zu gebrauchen!“

Hier liegt die negative menschliche Erfahrung zugrunde, Immer wieder hören zu müssen:

Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts.

Die Folge kann ständiger Zwang zur Leistung sein, bis hinein in das Denken: Auch zu meiner Bekehrung muss ich noch etwas dazuleisten. Daher bekehrt man sich immer wieder.

 

3.3.2. Die Angst, nicht geliebt zu werden: „Ich kann nicht glauben, dass Gott mich liebt, wenn ich immer wieder Fehler mache und versage.“

Solches Denken führt in die Resignation. Die Erfahrung zeigt, dass es im Leben dessen, der denkt, große Defizite an menschlicher Zuwendung und Liebe gibt.

Daher wird man lebensmüde!

 

3.3.3. Da ist die Angst, nicht vergeben zu bekommen: „Ich kann doch nicht immer aus Gottes Vergebung leben. Einmal kann er mir nicht mehr vergeben. Solches Denken resultiert aus der Erfahrung, im zwischenmenschlichen Bereich keine echte Vergebung erlebt zu haben. Da wurde eine Strichliste geführt und aufgerechnet.

So findet keine Entlastung statt, sondern ständig quält ein schlechtes Gewissen!

 

3.4. Daraus resultiert dann die Unfähigkeit,

   zu lieben und sich lieben zu lassen;

   zu vertrauen und sich anzuvertrauen;

   Vergebung anzunehmen und auszuteilen;

   Beziehungen aufzubauen und zu beenden;

   Belastungen zu tragen und zu bewältigen;

   Entscheidungen zu treffen und warten zu können

   sich zu freuen und Freude zu bereiten;

   Verantwortung zu übernehmen und abzugeben.

 

3.5. Das ganze führt nicht selten zu psychosomatischen Erkrankungen, wo der Leib zum Austragungsort der seelischen Konflikte wird, zu Neurosen, Psychosen, Depressionen.

 

 

4. Seelsorgerliche Hilfen …

Das seelsorgerliche Gespräch hat zunächst das Ziel,

 

4.1. Einsichten in die Zusammenhänge zu vermitteln, also aufzudecken, was zum falschen Gottesbild und den damit zusammenhängenden seelischen Schäden geführt hat.

Dazu sind notwendig:

   Ein Herz voll Liebe (1. Korinther 13)

   ein Kopf voll Sachwissen;

   die Bitte um Weisheit (Jakobus 1, 5).

 

4.2. Im seelsorgerlichen Gespräch gilt es dann

ein neues Bild von Gott aufzubauen

 

4.2.1. durch eine umfassende Bibelarbeit. Gottes Wort macht nicht krank! (Darum ist Seelsorge in hohem Maße Rückfrage an die Verkündigung und damit nicht zuletzt an die theologischen Ausbildungsstätten!);

 

4.2.2. durch intensives Gespräch mit Gott, das ebenso ein Herzausschütten wie ein Sicht-Öffnen für den Einfluss des Heiligen Geistes ist;

 

4.2.3. durch Sachinformation über die Zusammenhänge (wobei auch die Erkenntnisse der Humanwissenschaften in ihrer dienenden Funktion herangezogen werden können).

 

4.3. Beim Vermitteln des neuen Gottesbildes geht es dann darum, deutlich zu machen, dass Gott eben nicht nur der zürnende und strafende Gott ist, sondern auch der nachsichtige und liebende, ja der gerechte. Und als solcher hat er sich in Jesus Christus mit sich selbst versöhnt. Nun ist das Gesetz von Schuld und Strafe für uns durchbrochen. Obwohl strafwürdig, ergeht jetzt Gnade vor Recht. Ich kann also alle Versuche einstellen, mich selbst vor Gott richtig zu machen, auch alle Ängste drangeben, ich wäre vor Gott nicht richtig. In Jesus Christus bin ich es, als „begnadigter Sünder“. Das zu akzeptieren ist echte Selbstannahme (Lukas 18, 13).

 

4.4. Wer dies für sich persönlich in Anspruch nimmt, kommt in eine neue Gottesbeziehung, die ein neues Selbstwertgefühl vermittelt. Das Wissen, aufgenommen ins gottvertrauende Denken: Gott liebt mich – Gott vergibt mir – Gott hat mich angenommen – Gott ist für mich – Gott kennt mich – Gott achtet mich wert – Gott hat mich begabt – Gott bejaht mich – Gott ruft mich beim Namen – Gott führt mich … (Jesaja 43) leitet einen Gesundungsprozess der seelischen Schäden ein, so dass innere Heilung geschieht, die ihre Auswirkung auf Leib, Seele und Geist nach sich zieht.

 

4.5. Gott macht dies allerdings nicht ohne mich und auch nicht an mir vorbei. Meine Mitarbeit ist gefragt, wenn das neue Bild von mir selbst entstehen soll, das der Sicht der Bibel entspricht.

Heil – Heilung – Heiligung stehen in einem kausalen Zusammenhang.

 

4.5.1. Diese Mitarbeit sieht so aus, dass ich bereit bin,

   mich von meinem alten Denken (Sprechen und Verhalten) zu distanzieren, es loszulassen;

   umzudenken, d. h. Buße zu tun;

   ein neues Denken (Sprechen und Verhalten) einzuüben.

 

4.5.2. Konkret:

   Ich werde schuldig (Matthäus 18, 21-35) –

aber Gott vergibt mir,

daher kann ich mir und auch anderen vergeben (Matthäus 6, 12)!

   Ich bin nie gut genug (Römer 7, 18-19) –

aber Gott hat mich angenommen wie ich bin,

daher kann ich mich und auch andere annehmen (Jesaja 43, 1; Psalm 139, 14)!

   Ich bin ein Versager (Johannes 21, 15-11) –

aber bei Gott bin ich keine Null, sondern wertgeachtet, daher kann ich mich und auch andere wert achten (Jesaja 43, 4; Philipper 2, 3)!

   Ich habe ein Liebesdefizit in meinem Leben –

aber Gott – (der mich zuerst liebt) – füllt es aus (1. Johannes 4, 19), daher kann ich mich und auch andere lieben (Matthäus 22, 39)!

 

4.5.3. „Aber Gott …!“

   aus diesem Gottvertrauen erwächst

   gottgewolltes Selbstvertrauen und daraus reift

   gottgewollte Selbstverwirklichung

im Sinne des Pauluswortes:

„Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“

(Galater 2, 20).

 

Solches Umdenken ist nicht vergeblich. Es bringt eine neue Lebensqualität hervor: sinnvolles und damit reiches Leben (Johannes 10, 10)!