5. Juni 1980
24. Ludwig-Hofacker-Konferenz
Stellen Sie sich ein Haus
vor, schon mehr eine Villa, ein ausgewachsenes Schloss. Das Grundstück ist so
groß wie der Missionsberg. Eine größere Ausdehnung haben wir noch kaum gesehen.
Der Bau ist in behauenen Steinen aufgeführt. Ein schöneres Material ist nicht
zu denken. Die Aussicht geht bis ins Gebirge. Ein herrliches Panorama ist
unvorstellbar. Jedem anständigen Häuslesbauer muss
vor Wonne das Herz wackeln. Dort sollte man Eigentümer sein, sich mit gutem
Geld eine Eigentumswohnung erwerben und seine eigenen vier Wände haben. Dort
sollte man Mieter sein, sich mit monatlichen Mietbeträgen einkaufen und als
rechtmäßiger Mitbewohner gelten. Dort sollte man wenigstens Gast sein, der für
eine angemessene Spende in einem Raum logiert und alles mitgenießt.
Aber am Hoftor hängt keine Tafel: Stockwerke zu verkaufen, Wohnungen zu
vermieten, Zimmer frei. Dort baumelt nur ein Schild: Portier gesucht! „Nicht
für uns“ sagen wir und winken ab. „Wir haben unsere Arbeit“ und ziehen weiter.
– Liebe Freunde, stellen Sie sich das Haus der Gemeinde Jesu vor, schon mehr
eine Villa, ein großartiges Schloss. Das Grundstück ist so groß wie unser
Planet Erde. Eine größere Ausdehnung ist gar nicht möglich. Der Bau ist in
lebendigen Steinen aufgeführt. Ein schöneres Material gibt es nicht. Die
Aussicht geht bis in den Himmel. Ein herrlicheres Panorama ist unvorstellbar.
Jedem anständigen Christenmenschen müsste vor Wonne das Herz in Schwingungen
geraten. Dort sollte man Eigentümer sein, mit guten Werken eine Eigentumswohnung
erwerben und seine eigenen vier Wände haben. Dort sollte man Mieter sein, sich
mit monatlichen Kirchensteuerbeträgen einkaufen und als rechtmäßiger Mieter
gelten. Dort sollte man wenigstens Gast sein, der für eine angemessene Missions
oder Diakoniespende in einem Raum logiert und alles mitgenießt.
Aber in der Gemeinde Jesu werden keine Stockwerke verkauft, weil es dort schon
gar kein Penthouse, kein Mittelgeschoß und kein Parterre gibt. In der Gemeinde
Jesu werden auch keine Wohnungen vermietet, weil schon unsere Mieten
untaugliche Zahlungsmittel sind. In der Gemeinde Jesu werden keine Gästezimmer
für Spießer und Genießer bereitgestellt. Die Gemeinde Jesu braucht Türhüter,
sie braucht Pförtner, sie braucht Schlüsselmänner. Portier gesucht! So steht es
da: Portier gesucht! „Nicht für uns;“, sagen wir und winken ab. Dieser Text
aber winkt uns heran. Eigentümer, die auf ihr Besitzrecht pochen, Mieter, die
ihre Glastüren verriegeln, Gäste, die die Füße hochlegen, braucht Gott nicht,
aber Leute, die Hand anlegen, Menschen, die Verantwortung übernehmen,
Zeitgenossen, die sich einen Platz zuweisen lassen: Portier gesucht! Damit sind
aber nicht die letzten Nachtwächter gemeint, die sonst keinen besseren Job
finden, sondern erstklassige Türhüter, die sich durch ein Dreifaches
auszeichnen: Sie wissen, sie wachen und sie warten. Portier Gottes sind also
Wissende, Wachende und Wartende.
1. Portier Gottes
wissen, dass sich der Hausherr an Himmelfahrt nicht verabschiedet hat, um,
mit Orden und Ehrenzeichen überhäuft, unter den Klängen des großen
Zapfenstreichs sich auf einen himmlischen Ruhesitz zurückzuziehen. Er hat erst
recht nicht Pleite gemacht und Hals über Kopf den ganzen Laden verlassen. Mit viel
Umsicht und Vorsorglichkeit wurde alles geordnet, damit während seiner
Abwesenheit die Dinge nach seinem Willen laufen. Aber einmal wird die
Abwesenheit zu Ende sein. Einmal wird er das Hausregiment wieder persönlich
übernehmen. Einmal wird seine Anwesenheit für alle sichtbar. Portier wissen:
Jesus kommt wieder, auch wenn Spötter meinen, dieser Tag sei längst vertagt.
Spötter gab es immer, die sich über solcher Hoffnung einen Ast ablachten.
Spötter gibt es heute. Selbst im Haus des Herrn kann man dieses Spottlied auf
den Sankt Nimmerleinstag pfeifen hören. Aber die Länge der Zeit ist keine
Widerlegung der Wahrheit. Gott hat nichts vertagt, nichts ad acta gelegt,
nichts in den Kamin geschrieben. Unser aller Tage münden ein in des Herrn Tag,
an dem er leibhaftig vor uns stehen wird. Jesus kommt wieder, auch wenn Rechner
meinen, dieser Termin sei längst verstrichen. Rechner gab es immer, die diese
Ankunft bis auf die Stunde genau vorausberechnen wollten. Rechner gibt es
heute. Sie lesen die Bibel wie einen Fahrplan der Bundesbahn. Aber die Bibel
ist kein Kursbuch und Gottes Zeit ist keine mitteleuropäische Zeit oder
Universalzeit. Gott hat weder einen altväterlichen Chronometer noch eine
neuzeitliche Quarzuhr. Er misst nicht in Zeiteinheiten von Sekunden und Minuten
und Stunden und Tagen. Seine Uhr hat einen eigenen Pendelschlag. Wenn sie bis
heute noch nicht abgelaufen ist, so nicht deshalb, weil vielleicht eine Feder
gesprungen wäre. Nein, Gottes Uhr ist nicht reparaturbedürftig. Wir wissen um
des Herrn Stunde, weil er uns noch stundet. Dass er noch nicht gekommen ist,
ist keine Saumseligkeit, sondern Barmherzigkeit. Er hat Geduld mit uns. Er
schreibt nicht gleich ab. Er will, dass keiner verloren gehe. Er hat ein
brennendes Interesse daran, das alle umkehren und im Hause des Herrn einkehren,
bevor es zu spät ist. Wenn er wiederkommt, werden die Türen verschlossen. Dann
gibt es solche, die drinnen sind und solche, die draußen im Regen stehen. Dann
gibt es solche, die ein Dach überm Kopf haben und solche, die mit dem Kopf
gegen die Wand rennen. Dann gibt es solche, die Heimatrecht besitzen und
solche, die unbehaust erfrieren. „Zwölf, das ist das Ziel der Zeit, Mensch
bedenk die Ewigkeit!“ Jesus kommt wieder, auch wenn Neunmalkluge meinen, diese
Hoffnung könne man zu Grabe tragen. Neunmalkluge gab es immer, die sich ihre
eigenen Luftschlösser gebaut haben. Neunmalkluge gibt es heute. Aber seit Jesus
aus dem Grab auferstanden ist, wird Hoffnung nicht mehr begraben, sondern
begründet. Für einen, der die Todeswand zerrissen hat, so wie man Wellkarton
zerreißt, ist es ein Kinderspiel, auch die Mattscheibe zwischen sichtbarer und
unsichtbarer Wirklichkeit zu zertrümmern und wieder vor uns zu stehen. Portier
Gottes wissen das, und deshalb tun sie das Zweite, was
rechte Türhüter auszeichnet:
2. Portier Gottes wachen und schlafen nicht ein. Es gibt Türhüter, so wie
es Soldaten gibt, die nach einigen Stunden des Wacheschiebens müde werden, sich
ins Schildwachhäuschen zurückziehen und stehend freihändig einnicken. Sie sind
richtige Wachtposten, sie haben eine richtige Uniform, sie stehen am richtigen
Platz, aber sie schlafen. Viele Christen sind schlafende Wachtposten. Sie haben
den richtigen Wiederkunftsglauben, sie sitzen in der Kirche und der Stunde am
richtigen Platz, sie singen aus dem richtigen Gesangbuch, aber sie schlafen. So
wie jener Kirchgänger, der nach Hause zurückkehret und beim Mittagessen nach
der Predigt gefragt wurde. Er stocherte im Salat, forschte in all seinen
Gehirnwindungen und meinte dann stockend, dass er sich wohl an den Predigttext
erinnern könne, auch an die ersten Sätze der Predigt, aber dann hätte die
hektische Arbeitswoche mit den viel zu kurzen Nächten Wirkung gezeigt. Die
Spanne zwischen „liebe Gemeinde“ und dem Amen sei ihm außerordentlich kurz
vorgekommen. Schade, dass die Kirchenordnung aus dem 16. Jahrhundert heute
außer Kraft gesetzt ist, in der es wörtlich heißt: „ Wenn einer schläft, sollen
die Benachbarten auf beiden Seiten ihn erwecken. Damit sich aber einer des
Schlafens besser enthalten könne, soll derselbe, den es ankommen will, sich
aufrichten und der Predigt stehend zuhören.“ Schlafende Wachtposten träumen von
gestern, wie früher alles viel besser und schöner und leichter gewesen sei. Sie
träumen von morgen, wie das nach ihren Vorstellungen alles so aussehen müsste.
Sie träumen also in Erinnerungsbildern und Wunschbildern, in Heimweh und Sehnsucht.
Sie merken gar nicht, dass der Teufel persönlich das Sandmännchen spielt, um
uns in Vergangenheit und Zukunft von der Gegenwart hinwegzulocken. Er hat ein
brennendes Interesse daran, dass wir nicht auf dem Posten sind. Er legt es
darauf an, dass wir von den Vorgängen in der Welt und im Hause Gottes nichts
mitbekommen. Er hat bei frommen Siebenschläfern leichtes Spiel. Schlafende
Wachtposten sind gesuchte Vorposten der Hölle. Deshalb jammert Martin Luther: „O
wir schlafen und schnarchen, dass die Balken krachen.“ Aber das Evangelium ist
keine Abendausgabe, sondern Morgenpost. Der Evangelist will uns aufwecken.
Deshalb ruft er in den Schlafsaal Kirche: Wachet auf! Gott will keine Träumer. Christen sind keine Schlafmützen. Das
Haus Gottes verträgt keine Morgenmuffel. Glaubende müssen aufstehen, wenn sie
ihre Pflicht nicht versäumen wollen. Abraham stand auf, verließ seine
Heimatstadt Ur in Chaldäa. Israel stand auf und zog
durch die Wüste. Jesaja stand auf und warnte sein Volk. Johannes stand auf und
bereitete den Weg des Herrn. Jünger standen auf und bezogen Posten. Es ist an
uns, alle warmen Nester zu verlassen. Wer einnickt oder gar die Decke über die
Ohren zieht, hat seine Platzanweisung verkannt und seine Lebensaufgabe
verschlafen. Portier Gottes wachen, und so tun sie das
Dritte, was rechte Türsteher auszeichnet:
3. Portier Gottes
warten, und zwar mit dem Schlüssel in der Hand. Unser Herr hat bei seinem
Abschied nicht nur dem Petrus einen Schlüsselbund übergeben, sondern all seine
Leute mit dem Schlüssel ausgestattet. „Was ihr binden werdet, soll auch im
Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel
los sein.“ Mit diesem Schlüssel sollen wir dafür sorgen, dass die Tür jederzeit
und für jeden aufgeht. Zu gerne spielen wir uns als Ordnungshüter auf, die für
Ruhe und Ordnung im Hause sorgen müssten. Aber uns ist keine Trillerpfeife
anvertraut, sondern ein Schlüssel. Immer wieder kommen wir uns alle als
Hausverwalter vor, die alles zu organisieren hätten. Aber uns ist kein
Aktenordner anvertraut, sondern ein Schlüssel. Manchmal mimen wir den
Objektschützer, der die Sicherheit garantieren müsse. Aber uns ist kein Revolver
anvertraut, sondern ein Schlüssel. Wenn nun einer kommt, der Liebe in unserer
kalten und lieblosen Welt sucht, dieser Schlüssel schließt einen Raum der Liebe
auf. Wenn einer kommt, der Freude in einer seichten
und freudlosen Welt sucht, dieser Schlüssel öffnet den Raum der Freude. Wenn
einer kommt, der Friede in einer hasserfüllten und friedlosen Welt sucht,
dieser Schlüssel riegelt den Raum des Friedens auf. Ja, wenn einer kommt, der
Vergebung in einer schuldbeladenen Welt sucht, dieser Schlüssel macht den Raum
der Vergebung sperrangelweit auf. Dieser Schlüssel hat die Form eines Kreuzes.
Jesus hat mit ihm sogar das Todestor aufgeschlossen. Es ist der Hauptschlüssel,
der uns anvertraut ist. So sind wir keine kleinen Nebenfiguren, sondern
wichtige Schlüsselfiguren im Hause des Herrn. Portier Gottes warten. – Erlauben
Sie mir eine persönliche Schlussfrage: Was erwarten Sie? Einen schönen
gesegneten Ludwig-Hofacker-Tag? Eine gute Heimfahrt ohne Unfall? Eine Zeit ohne
Krankheit und Leiden? Einen gesicherten Arbeitsplatz? Erwarten Sie eine schöne
Jugendzeit oder einen geruhsamen Lebensabend? Diese Erwartungen sind nicht
schlecht, aber viel zu bescheiden. Ich halte es mit den Vätern: Expecto vitam venturi
saeculi, ich warte auf das Leben der zukünftigen
Welt. Warten Sie auch, wachend und wissend.