Jesus als
Seelsorger
(1908)
Von Prof. Karl Heim
Seelsorge im vollen Sinne des Wortes kann es weder in den
Religionen geben, die auf ein mystisches Verschwimmen und Aufgehen der Seele
ins Unendliche ausgehen – in diesen handelt es sich nicht um Seelenpflege,
sondern um Seelenvernichtung – noch auch in den entgegengesetzten religiösen
Strömungen, bei denen die menschliche Individualität als Weltziel erscheint und
ein Kultus mit der Menschenseele getrieben wird; denn um ihre eigene Natur auszuleben,
bedarf die Seele keiner besonderen Leitung, man kann sie wie eine Feldblume
wild wachsen lassen. Seelsorge entsteht erst aus der eigentümlichen Spannung,
die sich durch das Lebenswerk Jesu hindurchzieht: einerseits, er ringt um die
Seelen, es erfolgt ein „Ziehen des Vaters zum Sohn“, die Menschen sollen erlöst
werden aus ihrer Drehung um sich selber, aus den Dornen, aus der Fremde, von
den Trebern, aus allem, in was sie hineinkommen, wenn sie sich selber ausleben,
sie sollen hingezogen werden zum Vaterhaus, ins Sterben, in die Beugung hinein.
Andererseits erfolgt aber dieses Ziehen immer so, dass der Mensch jeden Schritt
aus eigenster Initiative und aus seiner innersten Organisation heraus tut, dass
er dabei nur noch tiefer seine eigene Individualität findet, dass sein Sterben
Leben wird; daher Jesu heilige Zurückhaltung den Seelen gegenüber. In diesem Doppelten
liegt die ungeheure, die ganze Menschengeschichte erfüllende Spannung des
Werkes Christi, die das erzeugt, was man Seelsorge nennt. Hierin liegen alle
Probleme der Seelenpflege beschlossen. In diese Spannung sehen wir hinein, wenn
er über Jerusalem klagt: Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie
eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel, aber ihr habt nicht gewollt. Wie
leicht hätte er nach Art eines Bar Kochba und anderer Messiasse durch suggestive
Erregung eines national-religiösen Rausches die Massen fortreißen können. Aber
er darf sie nicht ziehen, wenn sie nicht aus eigenstem Wollen heraus ihm
entgegeneilen. Welche Sehnsucht, die Gebundenen zu befreien, spricht aus den
Worten, in denen Jesus in Nazareth das Programm seiner ganzen Wirksamkeit zusammenfasst:
„Er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die
zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und
den Blinden das Gesicht.“ Und doch, als er dem reichen Jüngling mit einem
liebevollen Blick seine Gebundenheit aufgedeckt hatte (Verkaufe alles, was du
hast) und dieser traurig wegging, lief ihm Jesus nicht nach, er ließ ihn mit
heiliger Zurückhaltung gehen und überließ diese Seele ihrer Einsamkeit und dem
Sturm, den er in ihr entfesselt hatte.
Betrachten wir unter
diesem Gesichtspunkt den seelsorgerlichen Verkehr Jesu mit den Menschen, so
interessiert uns zunächst, wie er bei den Menschen anknüpfte, dann, wie er die
Angefassten weiterführte, endlich, wie er die Hindernisse beseitigte, die die innere
Entwicklung hemmen.
Wenn wir fragen,
wie es Jesus mit einer Seele anfing, um sie zum Erwachen zu bringen, wie er „das
Herz auftat“, so ist vielleicht die bedeutsamste Beobachtung, die wir machen
können: er hatte überhaupt keine Methode, sondern die größte individuelle Mannigfaltigkeit.
Einem Skeptiker wie Pilatus gegenüber lässt er die Wahrheit nur wie ferne,
tiefe Glockenschläge erklingen: Mein Königreich ist nicht von dieser Welt, …
wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme. Er lässt ihn die
weltumspannende Macht ahnen, die auch ihn in der Gewalt hat, wenn er ihm sagt:
Du hättest keine Gewalt über mich, wäre sie dir nicht von oben gegeben. Und die
skeptische Antwort des Pilatus zeigt, dass er hier an eine Wunde gerührt hatte.
Einem Suchenden wie Nathanael greift er sofort mit einem unendlich persönlichen
Wort ins Innerste, so dass er sich völlig durchschaut und wie von einer überirdischen
Helle umleuchtet fühlt: Als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. Mit diesem
einen Pfeilschuss hat er die Festung erobert. Wo ein innerlicher Besitz da ist,
wenn auch noch so erstarrt oder verschüttet, geht Jesus in vielen Fällen auf
diesen ein und zeigt die Stelle, wo der seitherige Besitz über sich
hinausweist. Den Schriftgelehrten, der ihn fragt: Was muss ich tun, dass ich
das ewige Leben ererbe? fragt er: Was steht im Gesetz geschrieben? und stellt
ihn unter die Wucht der Forderung, die im höchsten Gebot des Alten Bundes
enthalten ist. Das aufgeschreckte Gewissen sucht einen Ausweg in der Frage, wer
sein Nächster sei. Aber Jesus gibt nicht die erwünschte kasuistische
Definition, die einen solchen Ausweg vielleicht gestattet hätte, sondern legt ihm
durch eine einfache, unvergessliche Geschichte seinen Nächsten so anschaulich
auf die Seele, dass er sich gefangen geben muss. Ebenso weist er den reichen
Jüngling auf das Halten der Gebote hin. Wo ein schwacher Funke von Glauben ist,
wenn auch nur als glimmender Docht, da löscht ihn Jesus nicht aus, sondern
knüpft daran an. Er lobt den Glauben des Hauptmanns (Matthäus 8, 10). Im
Gedränge der Hunderte fühlt er die Berührung des blutflüssigen Weibes, weil ein
Funke von Glauben in dieser Berührung lag, wenn auch in abergläubischer, fast
fetischistischer Form, und hebt ihn mit einem Wort über sich selbst hinaus,
indem er dem zitternden Weibe sagt: Dein Glaube hat dir geholfen. Wenn du glauben
könntest, sagt Jesus zu dem Vater des Besessenen, alle Dinge sind möglich dem,
der da glaubt, und das im Sturm hin- und herflackernde Licht des Glaubens wird
ruhig unter seinen Worten. Bei einfachen Menschen knüpft Jesus gern an das
Nächstliegende und Äußerliche an, um es durch eine überraschende und doch ganz ungesuchte
Wendung plötzlich zum Sinnbild des Innerlichsten zu machen, so bei der
Samariterin mit der Bitte: Gib mir zu trinken! Die Zisterne weckt die Sehnsucht
nach der sprudelnden Quelle, diese aber in ebenso natürlichem Fortschritt des
Nachdenkens das Verlangen nach einem Wasser, das nie wieder durstig werden
lässt, sondern im Trinkenden selber zur ewig sprudelnden Quelle wird. Die
Netze, die im See Genezareth liegen, werden unter Jesu Worten mit einem Schlag
zum Bilde des großen göttlichen Fischzugs, der die Weltgeschichte erfüllt,
indem er den erstaunten Fischern sagt: Ich will euch zu Menschenfischern
machen. Die überreiche Fischbeute lässt Petrus die Gewalt und Gegenwart des
göttlichen Fischers ahnen, so dass er zusammenbricht und ausruft: Herr, gehe
von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch. Das macht ihn reif für das
persönliche Wort: „Von jetzt ab wirst du Menschen lebendig fangen.“ In anderen
Fällen ist es wieder, als ob Jesus durchaus keine Anknüpfung an den inneren
Besitz der Seele suchte, sondern sie unvermittelt in eine ihr noch völlig
fremde neue Welt hineinversetzte. So bei Nikodemus. Wie ein Meteorstein aus
einer anderen Welt fällt in seine Gedankenwelt die Wahrheit von der
Wiedergeburt, die notwendig ist, um das Reich Gottes auch nur zu sehen. Wie
kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist! Er kann sich nichts darunter
vorstellen. Aber noch ehe er sich in diesem scheinbaren Widersinn zurechtgefunden
hat, geht Jesus schon einen Schritt tiefer. So jemand nicht von neuem geboren
wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes gelangen.
Erstaunt kann Nikodemus nur fragen: Wie kann solches zugehen? Seine
Rabbinerweisheit liegt vernichtet am Boden. Aber in Riesenschritten geht Jesus
mit ihm weiter wie in einem kühnen Geistesflug durch die Äonen. Der von
himmlischen Dingen redet, muss ein vom Himmel Herabgestiegener sein, ja einer,
der im Himmel ist. Eine Gottesliebe muss sich herabgesenkt haben im Sohn,
dessen Erscheinen Weltrettung und Weltgericht zugleich ist. So kann Jesus eine
Seele, scheinbar ohne Anknüpfung an ihren bisherigen Besitz, unmittelbar auf
die höchsten Höhen führen.
Wenden wir uns nun
weiter zu der Art, wie Jesus die Seelen weiterführt, die einmal unter seinem
Einfluss erwacht sind, so zeigt sich hier noch deutlicher die Spannung zwischen
dem Drang, möglichst viel zu geben, und der Scheu vor jedem gewaltsamen Eingriff
in die innere Entwicklung. Es handelt sich hier zunächst um die vielen
ethischen Einzelfragen, die die Gewissen beschweren und nach seelsorgerlichem
Rat ausschauen lassen, Fragen auf dem Gebiet des sozialen Zusammenlebens, des sexuellen
Verkehrs, des Gebetsumgangs mit Gott. Jeder Seelsorger weiß, dass solche
ethischen Einzelfragen die innerlich Angefassten am meisten beschweren. Wir
erleben eine eigentümliche Enttäuschung, wenn wir von unseren Voraussetzungen
aus mit derartigen Fragen zu Jesus kommen. Zweierlei ist es, was wir gerne
haben möchten und was wir bei Jesus nicht finden. Entweder wir wünschen
kasuistische Einzelregeln für den vorliegenden Fall, oder wir möchten
allgemeine ethische Prinzipien haben, aus denen wir mit logischer Sicherheit
das Verhalten im Einzelfall ableiten könnten. Jesus gibt weder das eine noch
das andere, weder eine Ethik noch eine Kasuistik, sondern etwas Drittes. Er
greift irgendeinen sehr anschaulichen Fall heraus und gibt für diesen einen
ganz radikalen, extremen, beinahe unmöglich erscheinenden Imperativ, der sich
ins Gewissen eingräbt, und lässt uns mit diesem Eindruck allein. In diesem Stil
sind die meisten sittlichen Weisungen Jesu gehalten: Wer dich schlägt auf einen
Backen, dem biete den anderen auch dar. Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren,
der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen. Gib dem, der dich bittet. Segnet, die
euch fluchen. Sorget nicht für den anderen Morgen. Ärgert dich dein rechtes
Auge, so reiß es aus und wirf es von dir. Wenn du ein Mahl machst, so rufe die
Lahmen, die Krüppel, die Blinden herein. Wer nicht hasst Vater, Mutter, Brüder,
der kann nicht mein Jünger sein. Diese Worte können nicht als Teile einer
Kasuistik gemeint sein – dazu wären sie viel zu unvollständig -, aber auch
nicht als allgemeine ethische Grundsätze; denn so gefasst würden sich Jesu Weisungen
vielfach gegenseitig widerstreiten und aufheben (z. B. Wenn dich jemand nötigt
eine Meile, so gehe mit ihm zwei; und: Lass die Toten ihre Toten begraben).
Vielmehr wie ein großer Künstler durch ein paar starke Farbentöne die Stimmung
einer ganzen Landschaft wiedergibt, so gibt uns Jesus hier durch wenige starke
Farben und große Konturen eine Intuition von jenem hohen, sorglosen Leben in
Gott, in das er uns hineinziehen möchte. Ebenso gibt Jesus den Jüngern, die er
aussendet, weder allgemeine Missionsprinzipien, noch eine kasuistische
Missionsanweisung für alle möglichen Fälle, sondern typisch herausgegriffene
Befehle, die ihnen einen plastischen Eindruck von dem Geist geben, in dem sie
hinausziehen sollen. Nehmt keine Tasche, keinen Beutel. Wenn ihr in ein Haus
kommt, so bleibt in diesem Hause, esst und trinkt, was euch vorgesetzt wird,
heilt die Kranken und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.
Ebenso wird die Frage: Wer ist mein Nächster? nicht durch eine
Begriffsdefinition oder Aufzählung der möglichen Einzelfälle beantwortet,
sondern durch eine typische Erzählung, die die Frage nicht beantwortet, sondern
nur noch schwerer aufs Gewissen legt. Offenbar will Jesus die Seele weder dem
Zwang eines ethischen Systems, noch dem Zwang kasuistischer Regeln unterwerfen,
sondern in eine unmittelbare Abhängigkeit von ihm hineinführen, die völlig frei
macht und fähig, mit intuitiver Sicherheit den Willen des Vaters zu treffen.
Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei.
Ähnlich ist es mit den Anweisungen
Jesu zum Gebet. Jesus tut alles, um die Seele in jene Einsamkeit mit Gott hineinzuführen,
in der sie von allen religiösen Regeln und Institutionen der Menschen
unabhängig wird und Gott nicht hier oder dort, sondern im Geist und in der
Wahrheit anbetet. Er weist uns ins „Kämmerlein“, ins „Tamiejon“, den einzigen
von innen verschließbaren Raum im orientalischen Hause, wo man sich vor allen
Störungen durch Menschen sichern kann. Er gebraucht die stärksten Mittel, um
der verzagten Seele den Mut zum kühnen Bitten und unbedingten Vertrauen zum
Vater zu geben, so die absurd erscheinenden Gleichnisse von dem zudringlichen
Freund und dem gottlosen Richter, der die Witwe um ihres unverschämten Begehrens
willen erhört.
Dieselbe Tendenz, die Menschen
niemals gewaltsam vorwärts zu drängen, sondern zu einem selbständigen Eindringen
in Gott zu führen, zeigt sich nun auch in der Art, wie Jesus denen, die er in
seine Schule nahm, das Verständnis seines eignen Wesens und Lebenswerks aufschloss.
Von jeher ist die eigentümliche Zurückhaltung aufgefallen, mit der er das
„Geheimnis“ des Reiches Gottes, das Geheimnis seiner Person und das Rätsel
seines Todes behandelte. Warum verbietet er den Dämonen, die ihn als Messias
erkennen, zu reden? Warum redet er so wenig von der künftigen Weltgestalt und
weist alle Fragen der neugierigen Phantasie in Bezug auf das Weltende ab?
Vielleicht liegt auch hier jene heilige Zurückhaltung vor, die die Welt
göttlicher Geheimnisse den einzelnen immer nur so weit aufschließen will, als
sie sie innerlich fassen können, als sie dazu reif sind. Man versteht von hier
aus, warum er so selten und nur andeutungsweise das Geheimnis seiner Person aufdeckt,
und immer nur einzelnen. Nach der Erzählung bei Johannes konnte er dem
Blindgeborenen, nachdem dieser seine Macht erfahren, sagen: „Glaubst du an den
Sohn Gottes? – Ich bin´s!“ und der Samariterin, nachdem er ihr ihre
Vergangenheit aufgedeckt hatte: „Ich bin´s, der mit dir redet“ (nämlich der
Messias). Aber sonst entlässt er die Menschen mit wenigen inhaltsschweren
Worten, die auf das Innerste ihres Seelenzustandes das Licht göttlichen Erbarmens
fallen lassen. So sagt er zu dem sündigen Weib nur: Dein Glaube hat dich
gerettet, gehe hin in Frieden; zu dem Lahmen nach der Heilung: Du bist gesund geworden,
sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht Schlimmeres widerfahre; zu Martha:
Du hast viel Sorge und Mühe, eins aber ist not. Es ist meistens, was auch für
unsere Seelsorge vorbildlich ist, ein kurzes, unvergessliches Wort, das die
Seele mit in die Stille nimmt, um daran weiter zu denken, oder eine unvergessliche
sich einprägende Geschichte (wie die vom Wucherer und den zwei Schuldnern, die
er dem Pharisäer Simeon erzählt), die die Seele in die Einsamkeit verfolgt.
Die Weisheit und Zartheit, mit der
Jesus der freien Entfaltung der Seele entgegenkommt, sie leitend und doch nicht
vergewaltigend, zeigt sich auch in der Behandlung der Hindernisse, die sich dem
aufkeimenden Glauben entgegenstellen. Es ist hier ein charakteristischer
Unterschied zwischen der Behandlung der sittlichen Hindernisse und der Behandlung
des Zweifels. Wo das eigene Ich, das fleischliche und seelische Element sich
hemmend verdrängt, ist Jesus der Gärtner, der mit scharfem Messerschnitt die
Rebe am Weinstock von schlechten Trieben reinigt, dass sie mehr Frucht bringt.
Die schärfsten Worte Jesu richten sich gegen den, der einer Seele Ärgernis
gibt. Er verdient, dass ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er im Meer
ertränkt wird. Wie scharf schneidet Jesus den egoistischen Traum der Zebedaiden
vom Sitzen zur Rechten und Linken des Weltenthrons ab! Wie schroff schlägt er
den fleischlichen Eliaseifer der Jünger nieder, die feurige Rache auf die
Städte niedergehen lassen wollen, ebenso das aufkeimende Machtbewusstsein der
siegreich von ihrer Mission zurückkehrenden Jünger („darüber freut euch nicht,
dass euch die Geister untertan sind“), die seelische Todesbegeisterung, die
sich in die Hingabe des Petrus mischt („der Hahn wird nicht zweimal krähen, ehe
du mich dreimal verleugnest“). Dem Nachfolger, der keinen ganzen Bruch mit
seinen bisherigen Verhältnissen vollziehen will, schneidet er mit den scharfen
Worten den Rückzug ab: Lass die Toten ihre Toten begraben! Ganz anders ist bei
Jesus die Behandlung des Zweifels. Hier beginnt er nicht mit dem Vorwurf, der
gerade dem Zweifler so weh tut, sondern mit einer Tat, die Gottes Macht spürbar
macht, und dann erst kommt das Strafwort mit um so einschneidenderer Wirkung.
So bei der Stillung des Sturms nach Markus 4. Von den Wogen hin- und
hergeworfen, zweifeln sie an Gottes Führung: Herr, kümmert´s dich nicht, dass
wir zugrunde gehen? Er aber erhebt ohne ein Wort des Vorwurfs die Gebieterhand
über den See. Und dann erst, wie sie unter dem Eindruck seiner Gewalt stehen,
kommt das Strafwort: Was seid ihr so furchtsam, warum habt ihr keinen Glauben?
Ebenso wie der Täufer im Gefängnis zweifelt, lässt Jesus erst die Taten reden:
Geht hin und sagt Johannes, was ihr sehet und höret; und dann erst kommt der
liebevolle und gerade darum unendlich schwere Vorwurf: Selig ist, wer sich
nicht an mir ärgert. Thomas lässt er erst die Tatsache mit Händen greifen, um
ihm dann zu sagen: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Plastisch wird
diese Behandlung des Zweifels durch die Geschichte vom sinkenden Petrus veranschaulicht,
den Jesus erst bei der Hand ergreift und heraufhebt, um ihm dann zu sagen:
Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
So zieht sich durch die ganze
Lebensarbeit Jesu die Spannung hindurch zwischen dem Drang, Seelen zu Gott zu
führen, und der heiligen Zurückhaltung gegenüber ihrer freien inneren
Entfaltung. Die Vermeidung aller äußerlichen und innerlichen Gewaltmittel, die
sich daraus ergab, war schuld daran, dass sein Leben nicht mit einem Triumph,
sondern am Kreuze endete. Im Kreuzestod findet diese Spannung den höchsten
Ausdruck. Hier lässt der Seelenhirte sein Leben für seine Freunde. Und auch wir
können nur dadurch Seelsorger werden, dass wir teilnehmen an diesem seinen Tod,
in dem wir in der Kraft Jesu unsere Seelen für die Seelen anderer einsetzen.