In den Händen des Meisters

 

(Auszug aus dem gleichnamigen Buch des Autors Prof. Karl Heim)

 

 

 

Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder

Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fähr-

lichkeit oder Schwert?

 

wie geschrieben steht: „Um deinetwillen werden wir getötet

den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.“

Aber in dem allem überwinden wir  weit um deswillen, der

uns geliebt hat.

 

Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder

Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegen-

wärtiges noch Zukünftiges,

 

weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag

uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,

unserem Herrn.

 

Römer 8, 35-39

 

 

 

 

Beim Eintritt in ein neues Jahr kommt uns schmerzlicher als je die Schranke unseres Geistes zum Bewusstsein, die darin besteht, dass wir nicht in die Zukunft schauen können. Was geschehen ist, was wir durchlebt und durchlitten haben von 1933 bis heute, das sehen wir mit trauriger Klarheit, wie man von einem Aussichtspunkt aus, den man mit Mühe erstiegen hat, bei klarer Sicht über eine Landschaft hinsieht, die man durchwandert hat mit ihren Höhen und ihren tiefen dunklen Tälern. Aber wenn wir vorwärts schauen und fragen: „Wie soll es jetzt mit uns weitergehen? Wie soll das alles noch enden? Was soll aus unserem Volk und aus uns selbst noch werden?“, dann kommen wir uns vor wie Blinde, die mit erloschenen Augen sich auf dem Weg, den sie gehen müssen, nur Schritt für Schritt vorwärtstasten können. Im Blick auf unsere Lage tritt mir ein Bild vor die Seele, das man manchmal auf den Straßen chinesischer Städte sehen kann: Im brausenden Lärm der Menschenflut, die sich durch die Straßen wälzt, ertönt plötzlich ein zarter, hoher, durchdringender Ton; er kommt von einem Zug von Blinden, der die Straße überquert und sich auf diese Weise den Weg bahnt durch die drängenden Massen von Menschen, Wagen und Lastträgern. Aber nun fällt einem auf, dass die Gesichter dieser Menschen mit erblindeten Augen dennoch nicht ängstlich aussehen, sondern ruhig und friedvoll lächeln. Wie ist das möglich? Was gibt Blinden, die keinen Schritt vor sich sehen, dennoch den Mut, ruhig und gelassen ihren Weg zu ziehen? Das hat einen einfachen Grund: Diese blinden Menschen wissen: Vorne an der Spitze des Zuges geht einer, der sieht. Er führt den Zug; denn er weiß den Weg. Auf seiner Schulter ruht die Hand des Nächsten, und er führt dann wieder den Nächsten an seiner Hand. So ist die ganze Schar von Blinden eng miteinander zusammengeschlossen und unzertrennlich verbunden mit dem einen, der alles sieht und den Weg weiß. So kann keiner in einen Abgrund stürzen oder durch ein Hindernis, das auf dem Wege liegt, zu Fall kommen. Das ist ein Bild der Lage, in der wir als Gemeinde Gottes miteinander die Schwelle dieses heuen Schicksalsjahres überschreiten müssen. Wir gleichen diesen Blinden, die keinen Schritt vor sich sehen. Dennoch brauchen wir nicht zu verzweifeln; denn es ist uns über den Klängen der alten Weihnachtslieder, die wir in diesen Tagen wieder gesungen haben, überwältigend zum Bewusstsein gekommen: Wir sind nicht allein im Dunkel dieser Zeit. Es ist einer da, der mit uns in Verbindung steht, und der den Weg weiß, den wir nicht wissen. Im Psalmbuch steht einmal das Wort: „Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war, und alle meine Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, und deren noch keiner da war.“

Wenn der Eine über uns wacht, der von Uranfang der Welt an bis zum letzten Ende alles überschaut, dann kommt es für uns in diesem Augenblick, da wir in ein neues Jahr hineingehen, nicht darauf an, dass wir Vermutungen über die Zukunft aufstellen. Es ist nicht wichtig, ob der eine von uns auf Grund seiner höheren Beziehungen etwa mehr als der andere darüber weiß, was möglicherweise im neuen Jahr bevorsteht. Es kommt ja doch meistens ganz anders. Es kommt in dieser Stunde nur auf eines an, das allein unendlich wichtig ist, und demgegenüber alles andere in den Hintergrund tritt, daß wir wie jene Blinde, die im Gedränge von Menschen und Wagen die Straße überqueren müssen, jeden Augenblick in einer unzerreißbaren Verbindung mit dem Einen stehen, der alles sieht, und der allein den Weg weiß. Wenn wir die Verbindung mit Ihm verlieren, wenn wir Seine Hirtenstimme nicht mehr hören, dann ist alles verloren, und wir stehen vollständig in der Nacht und haben keine Orientierung mehr. Wir können uns in einer Welt, die wie die heutige ganz aus den Fugen gekommen ist, überhaupt nicht mehr zurechtfinden. Solange wir aber wie jene Blinden die Hand dessen fühlen, der an der Spitze des Zuges geht, dann brauchen wir keinen Schritt vor uns zu sehen. Wir wissen: es wird zuletzt doch alles gut. Es gibt darum an diesem Neujahrstage, an dem uns so viele Sorgen und Fragen bedrängen, im Blick auf das neue Jahr im Grunde genommen für uns alle nur eine einzige Sorge, die sich auf die Seele legen muss. Es gibt nur eine bange Frage, vor der jeder von uns heute steht: Bin ich so fest mit dem Einen verbunden, der den Weg weiß, dass mich nichts, was das neue Jahr bringen könnte, von ihm zu scheiden vermag? Oder geht es mir wie einem Schiff, das zwar im Meeresgrund verankert ist, aber in der Gefahr steht, dass bei einem allzu schweren Sturm die Ankerkette reißen könnte, so dass das Schiff haltlos den Wellen preisgegeben ist?

 

Auf diese bange Frage, die am heutigen Tage in uns aufsteigt, gibt uns der Apostel in unserem Text eine göttliche Antwort, die so stärkend ist, dass sie uns auch durch die schwersten Tage, die kommen könnten, über Wasser halten kann. Diese Antwort enthält etwas Negatives und etwas Positives. Das Negative besteht darin: Gott gibt uns keinerlei Aussicht auf Ruhe und Sicherheit für unser Leben in dieser Welt. Er macht uns auch für das neue Jahr, das vor uns liegt, von vornherein auf alles gefasst. Aber das Positive liegt in der göttlichen Zusicherung: Die Kraft seiner Liebe, mit der Er uns in Christus für alle Ewigkeit an sich gebunden hat, ist so stark, dass keine Macht der Welt uns aus seinen Händen reißen kann, wenn wir uns Ihm einmal anvertraut haben.

 

 

I

 

Der Apostel nimmt uns jede Illusion über irgend eine irdische Sicherheit, auf die wir uns im Blick auf das neue Jahr stützen möchten. Wenn wir unser Textwort lesen, so sind wir erstaunt, mit welcher Klarheit und Lebensnähe der welterfahrene Apostel alle die Dinge hintereinander aufzählt, von denen wir gerade in der heutigen Zeit immer wieder fürchten, dass sie über uns kommen und unsere Verbindung mit Gott zerreißen könnten. „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? etwa Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Fährlichkeiten oder Schwert?“ Wir haben alle etwas von der dämonischen Gewalt erlebt, die gewisse Schicksalsschläge in sich tragen, unsere Verbindung mit Gott zu zerreißen. Darum beginnt der Apostel bei seiner Aufzählung mit der Trübsal. Überall um uns her sind heute Menschen, die etwa durch eine ungerechte Zurücksetzung, die ihnen widerfahren ist, an der Menschheit verzweifelt und völlig verbittert sind. Und wir wissen aus Erfahrung: Sobald wir über etwas verbittert sind, was uns angetan worden ist, sobald wir einen Schlag nicht mehr verwinden können, den ein Mensch uns versetzt hat, sobald wir diesem Menschen nicht mehr vergeben können, haben wir den Gebetszusammenhang mit Gott verloren. Wir können Unsere Trübsal nicht mehr aus Gottes Hand nehmen. Die Verbindung ist abgerissen. Wir stehen wie ein Blinder in der Nacht.

„ . . . oder Angst“, fährt der Apostel fort. Dieses Zweite, was er nennt, ist ja der unheimliche Zustand, der schon jetzt in weiten Gebieten unseres deutschen Landes wie eine dunkle Wolke über ganzen Städten und Dörfern liegt, wo jeder weiß, dass er mitten in der Nacht aus dem Bett geholt werden kann, um ohne Abschied von den Seinen spurlos zu verschwinden. Dieser Terror ist der Zustand, indem Tausende von Menschen überhaupt keine Ruhe mehr finden können. Sie können auch in Gott nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie fühlen sich unheimlichen Mächten wehrlos preisgegeben. Die Verbindung mit Gott ist abgerissen

„ . . . oder Hunger.“ Das ist das Dritte, das Paulus nennt, und das vor vielen Menschen, wenn die Rationen noch kleiner werden, wie ein hohläugiges Schreckgespenst aufsteigt und drohend näher rückt.

Viele von uns kennen diesen Zustand und wissen: Sobald der Hunger einen gewissen Grad erreicht hat, können wir überhaupt an nichts anderes mehr denken als an das Essen. Wir haben keine Gedanken mehr für Gott übrig und stehen wie Blinde in der Nacht.

„ . . . oder Verfolgung, wie geschrieben steht: Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.“ Es ist erstaunlich, wie genau dieses alte Wort aus dem 44. Psalm den Zustand beschreibt, den viele Gemeindeglieder in unserer Zeit erlebt haben, und von dem viele heute fürchten, er könne in neuer Form wiederkehren. Nicht die Misshandlungen waren ja das Furchtbarste in den Lagern, in denen viele Christen jahrelang festgehalten wurden, sondern der seelische Druck der Entbehrung, Schändung und völligen Erniedrigung, unter dem sie standen. Das, was z. B. Ernst Wiechert in der Schilderung der Jahre, die er im Lager Buchenwald zubrachte, dahin zusammenfasst, dass er sagt: ;,Der Mensch stand da dem Menschen nicht gegenüber wie ein Kämpfer seinem Gegner, mit dem er auf Leben und Tod zu ringen hatte, oder wie ein Untergebener seinem Vorgesetzten, sondern wie ein Opfer seinem Schlächter“. „Wir sind geachtet wie Schlachtschafe“. Und diese völlige Erniedrigung hat über die Menschen, die sie erlitten haben, immer wieder das niederschmetternde Gefühl gebracht, sie seien von Gott verlassen und nur teuflisch besessenen Menschen ausgeliefert. Wiechert beschreibt seinen Abschied von den Leidensgenossen im Lager Buchenwald mit den Worten: „ ,Mit Gott!’ hatten die Sträflinge in Dostojewski´s Totenhaus gerufen. Aber hier konnten sie nicht ,Mit Gott’ rufen. Gott hatte sie verlassen und war gestorben.“

„Wenn wir an alle diese Zukunftsmöglichkeiten denken, die der Apostel uns hier vor Augen stellt, an alles, auf das wir uns gefasst machen müssen, auch gerade in unserer Zeit, so stehen wir zunächst unter dem niederschlagenden Eindruck: Es ist, als hätte sich gerade heute alles verschworen, um das eine Ziel zu erreichen, auf das es dem Feind unserer Seele überall ankommt, und das er mit allen Mitteln verfolgt: Er will die Ankerkette zerreißen, die das Schiff unserer Seele an den ewigen Ankergrund bindet. Sobald aber diese Kette gerissen ist, hat der Feind gewonnenes Spiel. Sobald wir morgens ohne Gebet, nur gehetzt von Pflichten und Sorgen, in den Tag hineintaumeln, kann die Macht der Finsternis alles mit uns anfangen. Wir sind hemmungslos preisgegeben. Wir werden wie ein Schiff, das sich im Sturm von der Ankerkette losgerissen hat, hin- und hergeworfen und zuletzt am Felsenriff zer- schmettert.

 

 

II

 

Aber nun zählt der Apostel alle diese Möglichkeiten nicht darum auf, weil er uns erschrecken will. Ganz im Gegenteil: er will uns stärken und innerlich vorbereiten für das Größte, was uns im neuen Jahr widerfahren kann. Alle Schrecknisse dieser Erde sind für ihn nur die dunkle Folie, von der sich das leuchtend abhebt, was er uns in Gottes Auftrag zu sagen hat. Ja - so will er uns deutlich machen -, wir können nur mit Zittern in dieses neue Schicksalsjahr hineingehen, wenn das Band, durch das wir mit Gott verbunden sind, auf der Kraft unseres Glaubens beruhen würde, mit der wir uns selbst an Gott festklammern. Diese Glaubenskraft hat immer nur eine begrenzte Macht, wenn die Wellen des Schicksals heranrollen. Wir könnten auch nur mit der schwersten Sorge in das neue Jahr hineingehen, wenn wir mit Gott nur durch unsere Gebetskraft verbunden wären. Denn auch die Kraft unseres Gebets gleicht immer nur einer Brücke, die eine bestimmte Belastung erträgt, die aber zerbrechen kann, wenn sie überlastet ist. Wir könnten auch nur mit Angst in das neue Jahr hineingehen, wenn unsere Verbindung mit der ewigen Welt auf unserer Charakterstärke beruhen würde, auf unserer Fähigkeit, eine bestimmte Überzeugung festzuhalten, auf unserem Heldenmut, mit dem wir allen Gefahren begegnen möchten. Wenn wir auf dieser Grundlage stünden, müssten wir gerade heute sorgenvoll fragen: Wieviele Menschen werden etwa in unserer Stadt noch wagen, ihren Glauben zu bekennen, wenn eines Tages plötzlich alle Pfarrer, Gemeindehelfer und Schwestern verhaftet würden und in einem Gefängnis verschwänden, von dem aus es unmöglich wäre, die Verbindung mit der Gemeinde aufrecht zu erhalten? Würde da von der Gemeinde nicht bloß noch eine kleine Herde übrig bleiben, weil die Hirten erschlagen und die Schafe in alle Winde verstreut wären? Aber nun kommt das Beglückende, durch das uns der Apostel alle diese Sorgen nimmt, wenn er fort fährt: „In dem allen überwinden wir weit (wir siegen über die Maßen) um des willen (wörtlich: durch den), der uns geliebt hat“. Mit anderen Worten: Die Kraft, durch die Gott mit unserer Seele so fest zusammengehalten wird, dass sie nicht voneinander losgerissen werden können, Was auch immer geschehen mag, liegt nicht in uns selber, weder in unserer Glaubenskraft noch in unserer Gebetskraft noch in unserer Charakterstärke, sondern ganz allein in Gott, in der Liebe, mit der Er uns in Christo geliebt hat. „Darinnen stehet die Liebe“, heißt es an einer anderen. Stelle, „nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt hat“. Wir wollen uns die  Sache an einem einfachen Bildveranschaulichen. An einem starken Magneten kann man ein schweres Eisengewicht aufhängen. Dieses Gewicht hat in sich selber keine Kraft, sich in der Höhe zu halten. Wenn es sich selbst überlassen wäre, würde es in die Tiefe stürzen; es würde durch seine eigene Erdenschwere unerbittlich hinuntergezogen. Aber durch den starken Magnetismus, durch die geheimnisvolle Anziehungskraft, die der Magnet ausübt, und mit der er das Eisen durchströmt, wird es in der Höhe festgehalten und kann nicht fallen.  So können wir Menschen uns in schweren Zeiten nicht durch unsere eigene Glaubens- oder Gebetskraft an Gott festklammern. Wir gleichen dem Eisengewicht, das durch seine Erdenschwere in die Tiefe gezogen wird. Es ist zu viel da, was uns täglich aus unserer Glaubenshaltung hinauswirft und uns immer wieder hinunterzieht. Dennoch gibt, es für uns glaubensschwache, wankelmütige Menschen eine Möglichkeit, in Gott zu bleiben. Wie kann das geschehen? Gott - wie Zinzendorf sagt, der ewige Magnet, die magnetische Kraft der Liebe, mit der Er uns in Christus geliebt hat, ehe wir waren, ja, ehe der Welt Grund gelegt ward - ist so stark, dass diese Kraft uns ganz durchströmt und ununterbrochen zu Gott emporzieht und in Ihm festhält. Gott hat zuviel an uns gewandt, um uns wieder loszulassen. Als Student war ich einmal auf einer Tagung, in der Hudson Taylor, der Begründer der China-Inland-Mission, diese apostolische Persönlichkeit, tagelang in unserer Mitte war. Er hatte davon gesprochen, wie alles darauf ankommt, dass wir ununterbrochen in Gott bleiben. Er sagte uns, in dieser Haltung sei er in fünfzig Jahren des Kampfes und der Todesgefahr - er hatte den ganzen Boxer-Aufstand und die Verfolgungen in Ostasien mitgemacht und war immer wieder in schwerste Lebensgefahr gekommen - durch Gottes Gnade ununterbrochen geblieben. Wir fragten ihn: „Ist das nicht eine sehr schwere Willensanstrengung, in diesem Zustande zu bleiben, mitten in einer Welt, in der uns alles in die Tiefe ziehen will“? Er antwortete: „Nein! Ist es denn einem kleinen Kinde schwer, in der Liebe zu bleiben oder in den Armen seiner Mutter zu bleiben? Genau so leicht und einfach ist es, bei Gott zu bleiben, weil Er uns ja auf Mutterhänden trägt, weil wir uns Ihm willenlos und ohne Anstrengung überlassen dürfen“.

Der Magnetismus der Liebe Gottes ist also stärker als alle Mächte dieser Welt, die uns in den Abgrund der Gottesferne hinunterreißen wollen. Es ist ja etwas ganz Ungeheures, was der Apostel in unserem Text sagt; es ist einer der gewaltigsten Sätze der Bibel. Paulus umfasst mit einem Blick den ganzen Weltraum, die höchste Höhe, in die wir emporschauen, wenn wir in unter dem Sternendom stehen, und die tiefste Tiefe, in die wir hinunterblicken, wenn wir etwa im Riesenteleskop einer Sternwarte in die unergründlichen Abgründe hinunterblicken, über denen unser winzig kleiner Erdball schwebt. „Weder Hohes noch Tiefes“, sagt der Apostel, „kann uns von der Liebe Gottes scheiden“. Und er umfasst die ganze Weltzeit, alles, was noch kommen mag bis zum Ende der Tage. „Weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges“, sagt er, kann uns von Gott losreißen. Und er umfasst mit seinem weltumspannenden Blick die ganze Welt der Geister und Dämonen, deren unheimliche Macht wir heute deutlicher als je spüren, und sagt: „Weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten“ können uns von Gott loslösen. Wenn man das Gewicht des ganzen unermesslichen Weltalls aufbieten würde einschließlich aller Atomkräfte und aller Vernichtungsgewalten, die uns die heutige Naturforschung erschlossen hat, um auch nur eine einzige Seele, die in den Armen Gottes ruht, von ihm loszureißen, es wäre alles umsonst. Denn der allmächtige Gott, der diese Seele als sein Eigentum angenommen hat und über dem Abgrunde hält, ist unendlich viel stärker als das ganze Weltall, als alle Kräfte und Gewalten, die es in sich schließt. Wir haben ja etwas davon auch in den Kriegskatastrophen der letzten Zeit und besonders in den Verfolgungen der Gemeinde immer wieder erlebt. Die Mächte dieser Welt üben zwar ganz ungeheure Wirkungen aus. Sie können unseren schwachen menschlichen Körper verwunden, quälen, foltern, unter Trümmern begraben. Sie können uns bis an die Grenze des Wahnsinns treiben, und Gott kann das alles zulassen. Aber unserer Seele, die aus der Ewigkeit stammt und in Gottes Händen ruht, können sie nichts anhaben. In den Verfolgungszeiten des Dritten Reiches sind Christen unter Gebet in die Folterkammern des Gefängnisses in der Prinz Albrecht-Straße in Berlin hineingegangen. Die Feinde konnten ihre Seele nicht antasten. Auch der Tod kann uns nicht von Gott losreißen. Erst kürzlich stand ich am Sarg einer 90 jährigen Christin, die in ihren letzten Leidenstagen auch geistig so schwach geworden war, dass sie ihre nächsten Angehörigen, selbst ihre eigenen Kinder, nicht mehr erkannte. Aber wenn man ihr ein Bibelwort über die Macht Christi oder einen Liedervers aus dem Gesangbuch vorsagte, leuchteten ihre Augen auf. Christus war ihr nicht entschwunden, auch wenn alle Menschen, selbst die allernächsten, ihr so ferngerückt waren, dass sie ihre Namen nicht mehr wusste.

Wenn uns das aufgegangen ist, dann machen wir uns zwar keine Illusionen mehr über die Welt. Wir machen uns auch für das neue Jahr auf alles gefasst, wovor unser Herz unwillkürlich zittert. Wir gleichen wirklich jenem Zug von Blinden, von dem ich am Anfang gesprochen habe, die keinen Schritt vor sich sehen. Dennoch dürfen wir wie diese Menschen mit den erloschenen Augen lächeln und gefasst über die Schwelle des neuen Jahres treten; denn an der Spitze des Zuges, in dem wir gehen, steht der Eine, den wir zwar nicht sehen, aber dessen Hirtenstimme wir hören dürfen. Und dieser Eine weiß um unsern Weg, auch um den Weg unseres Volkes bis zu dem Ziel, das Er uns bestimmt hat. So dürfen wir

auch angesichts des Neuen und Unbekannten, dem wir entgegengehen, das alte, oft gesungene Lied anstimmen, in dem es heißt: „Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht“.

Amen.