Muss
ich immer vergeben?
Reihe: Versöhnung mit meiner
Vergangenheit (3/4)
Schriftlesung:
Gliederung
Einleitende Gedanken
Ein Mann klagt seinem Freund:
"Immer wenn meine Frau sauer auf mich ist, wird sie historisch." "Du meinst hysterisch?" "Nein, immer wenn sie wütend ist, hält sie mir die Fehler von vor zwanzig Jahren noch vor."
Das ist gnadenlos. Dieser Mann weiss ja um seine Fehler,
die er gemacht hat und doch muss er sich seine Fehler immer wieder vorhalten
lassen. Wir können sehr nachtragend sein, besonders dann, wenn sich jemand uns gegenüber
verschuldet hat.
X X
1.
Schaden, den mir jemand zugefügt hat
(Opfer)
Missbrauch, Betrug, Mord, Verachtung usw.
2.
Schaden, den ich jemandem zugefügt habe
(Täter)
Ehebruch, Lüge, Betrug usw.
Letzten Sonntag beschäftigten wir uns mit dem Schaden, den
wir anderen zufügten. Heute machen wir uns Gedanken über den Schaden, der mir
zugefügt wurde.
Wie gesagt, bei Schaden, den wir durch jemand zugefügt
bekommen, funktioniert unser Gehirn ausserordentlich gut – wir neigen dazu, es
nie zu vergessen. In dieser Beziehung haben wir Elefantenhirne. Ein Zoobesucher
hat das mal erlebt.
Er ärgerte einen Elefanten. Als das Tier den Rüssel ausstreckte und einen Leckerbissen erwartete, hielt ihm der Mann seine glimmende Zigarette entgegen. Der Elefant erschrak über diesen unerwarteten Schmerz und der Mann amüsierte sich ab seiner Reaktion. Etwa ein Jahr später stand der Mann an der gleichen Stelle. Auch der Elefant war noch da. Als er den Mann sah, tauchte er den Rüssel in einen Wassereimer und durchnässte seinen früheren Peiniger mit einer kräftigen Dusche. Für die Zoobesucher eine lustige Situation.
Obwohl unsere Moral uns die Rache theoretisch verbietet, befriedigt
uns im Grunde eine gelungene Vergeltung. Unsere Sympathien sind doch eindeutig
beim Elefanten. Was hier vorgefallen ist, befriedigt unseren
Gerechtigkeitssinn. Deshalb sagen wir vermutlich im Volksmund: "Rache ist
süss".
Es ist eben gar nicht leicht, wenn uns grosser Schaden
zugefügt wird, dem Verursacher zu vergeben.
Die Familie des französischen Polizisten Daniel Neuville, der
an der Fussballweltmeisterschaft 1998 von Hooligans schwer verletzt wurde,
wollte den Tätern nicht vergeben. Bei der Gerichtsverhandlung baten die
Hooligans um Vergebung bei der Ehefrau und der Familie. Die Antwort von Frau
Neuvilles:
"Nein! Nachdem was sie unserer Familie angetan haben, können wir Ihnen nicht vergeben."
Hart, aber irgendwie nachvollziehbar.
Und doch – es von grösster Bedeutung für unser Leben, dass
wir vergeben können. Denn ob wir vergeben oder nicht, das beeinflusst direkt
mein Verhältnis zu Gott. Jesus sagt:
X X
„Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (Matthäus 6, 15)
Somit hat das, ob wir vergeben oder nicht einen direkten
Einfluss auf mein Schicksal. Jesus erwartet von mir, dass ich jemandem vergebe,
der an mir schuldig geworden ist.
In der Seelorge ist Vergebung natürlich auch ein wichtiges
Thema. Nehmen mir einmal an, da wurde eine Frau vergewaltigt. Das kann für ihr
seelisches Leben verheerende Folgen haben. Der innere Groll und der Hass, den
sie gegenüber diesem Mann hegt, wird sie innerlich zerfressen. Nun wird ihr
empfohlen, ihrem Vergewaltiger, den sie vielleicht gar nicht kennt, zu
vergeben. Die Vergebung soll sie von dieser zerstörenden inneren Bindung an den
Täter lösen, damit sie für ihr weiteres Leben von dieser Bindung frei ist.
Viele erleben dadurch innere Befreiung. Aber ist das wirklich Vergebung? Ist es
das, was Gott von uns erwartet und was er unter Vergebung versteht?
Oder die Geschichte des China Missionars Sam Moffat. Die Kommunisten zerstörten die Missionsstation.
Beschlagnamten sein Haus und seinen Besitz und ermordeten seine engsten
Freunde. Mit seiner Familie konnte er knapp entkommen. Als er China verliess,
war sein Herz voller Hass, was ihn in eine ernsthafte Glaubenskrise stürzte.
Ihm wurde bewusst, dass er ohne den Kommunisten zu vergeben, nicht mehr Gott
dienen kann. Er tat es und erlebte Befreiung.
Ich bezweifle seine innere Befreiung nicht, aber ist das
wirklich der Weg, wie wir solche schlimme Erfahrungen verarbeiten sollen und
uns mit der Vergangheit versöhnen?
Also, die Frage von heute lautet: Muss ich immer vergeben?
Bibelstellen zum Nachschlagen: Matthäus 6, 14-15; Markus 11, 25; Lukas 6, 37
X |
Ja – es ist tatsächlich so, dass ich vergeben muss, wenn
sich jemand gegenüber mir schuldigt gemacht und er zu mir kommt und um
Vergebung bittet. Es muss nicht mit diesem Wortlaut geschehen. Also, der Betreffende
muss mir nicht sagen: Bitte vergib mir, dass ich Dich betrogen habe. Er kann
auch einfach sagen, dass er eingesehen hat, dass sein Verhalten mir gegenüber
falsch war und dass es ihm leid tut. Es geht also nicht um die Worte, die wir
wählen, sondern um unsere Haltung.
Nun, wenn jemand seine Schuld eingesteht und es ihm leid
tut, was er getan hat, dann muss ich ihm vergeben. Petrus frage Jesus einmal:
X
Petrus wollte sich offensichtlich irgendwie absichern, damit
er weiss, wann es genug ist. Wenn jemand uns gegenüber schuldig wird, in einer
Art und Weise, dass mein Leben dadurch massiv beeiträchtigt oder gar zerstört wird
– denken wir nur an Menschen, die niedergeschlagen werden und ihr Leben lang an
einer Hirnverletzung leiden. Da möchte man vielleicht gar nicht vergeben. Und
wenn jemand mir gegenüber immer wieder schuldig wird, dann möchten wir mal
sagen – jetzt reichts, jetzt habe ich Dir genug vergeben. Ich kann mir
vorstellen, dass Petrus dachte, dass sein Vorschlag von Siebenmal recht
grossherzig ist. Jesus antwortet jedoch:
X X
Doch es gibt für diese Vergebung eine wichtige Voraussetzung:
Zu seinen Jüngern sagt Jesus:
„Wenn dein Bruder sündigt, weise ihn zurecht, und wenn er sein Unrecht einsieht, vergib ihm.“ (Lukas 17, 3)
Die Vergebung ist dann zwingend, wenn der Täter sein
Unrecht einsieht. Das ist das Grundprinzip der göttlichen Vergebung. Vergebung wird
da erfahren, wo die Schuld anerkannt und bekannt wird. Das finden wir durch die
ganze Bibel hindurch. David sagt nach seiner grossen Sünde:
X
Es ist auch heute genau so. Wann vergibt uns Gott unsere
Schuld? – Wenn wir unsere Sünden bekennen.
Wann schenkt uns Gott neues Leben? Wenn wir unsere Sünden
bekennen, Petrus sagt:
X
Das ist das göttliche Prinzip der Vergebung. Wenn wir unsere
Schuld bekennen, vergibt er uns. Ich glaube nicht, dass Gott von uns erwartet,
dass wir jemandem vergeben, der seine Schuld nicht einsieht.
Bibelstellen zum Nachschlagen: 3. Mose 5, 5-6; 16, 21; 26, 40; Psalm 32, 5; Matthäus 18, 21-35; Markus 1, 5; Apostelgeschichte 2, 28; Kolosser 3, 12-13; Jakobus 5, 16; 1. Johannes 1, 9
X |
Nun stellt sich die Frage, was tun wir, wenn jemand seine
Schuld nicht einsieht. Wenn er denkt, er
hätte mich zu recht betrogen. Oder hätte mich zurecht niedergeschlage. Oder er
hätte das recht jemanden zu vergewaltigen. Selbst wenn er weiss, dass es nicht
recht ist, aber es ist ihm egal, es tut ihm nicht leid. Kann man hier vergeben?
Nein – und das ist meine Überzeugung – wenn jemand das, was er mir angetan hat
nicht bereut, dann kann ich eigentlich gar nicht vergeben, selbst wenn ich
wollte, es ist einfach nicht möglich.
Aber, was ist dann in einer solchen Situation zu tun? Wie
kann ich innerlich frei werden, wenn mich das Unrecht, das ich ertragen muss,
innerlich blockiert. Wie komme ich damit zurecht, dass ich das Unrecht dem
Täter am liebsten zurückzahlen würde? Paulus gibt eine eindeutige Anweisung:
X
Wir sollen uns nicht selber rächen, sondern die Rache Gott
überlassen. Einerseits ist es für Paulus selbstverständlich, dass wir das
Bedürfnis nach Rache haben. Natürlich würde ich mich am liebsten rächen, wenn
jemand eines meiner Kinder ermordert. Der Wunsch sich zu rächen ist keine
Sünde, sondern etwas ganz natürliches. Es wäre eher unnatürlich, wenn wir das
Bedürfnis uns zu rächen nicht hätten. Das hat mit unserem Gerechtigkeitssinn zu
tun.
Der Prophet Jeremia lässt seinem Bedürfnis der Rache
gegenüber Gott freien Lauf:
X
Jeremia will und kann sich vermutlich auch nicht selber rächen,
aber er bittet Gott darum, das Unrecht, das ihm von diesen Menschen trifft, zu
rächen.
Ja, Gott sagt: die Rache ist mein.
Gott wird sich rächen. Wir sollen das Gott überlassen.
X
Wir können nicht vergeben, aber wir müssen unseren Schmerz an
Gott abgeben und ihm vertrauen, dass er das richtig und angemessen regeln wird.
Wir müssen diese Sache an Gott abgeben. Das Schlüsselwort hier heisst also
nicht Vergeben, sondern Abgeben. Die
Regelung Gott überlassen und vertrauen, dass er es richtig machen wird.
Unsere Sache ist es, dem, der sich an mir verschuldet hat,
trotzdem Gutes zu tun.
X
Ein Christ in Südchina praktizierte das folgendermassen.
Sein Reisfeld lag an einem Berghang. Während der Trockenzeit benutzte er ein Tretrad, um Wasser aus dem Bewässerungsgraben auf sein Feld hinaufzupumpen. Unterhalb davon lagen die zwei Felder seines Nachbarn, und eines Nachts durchstach dieser den trennenden Erdwall und liess das ganze Wasser auf seine Felder fliessen. Als der Christ den Wall wieder flickte und neues Wasser heraufpumpte, machte der Nachbar wieder das gleiche, und so ging es drei- oder viermal. Darauf besprach sich der Christ mit den anderen Christen. "Ich habe versucht, geduldig zu sein und keine Vergeltung zu üben", sagte er, "aber ist das richtig?" Nachdem sie gemeinsam darüber gebetet hatten, meinte einer von ihnen: "Wenn wir bloss immer versuchen, das Richtige zu tun, sind wir sehr armselige Christen. Wir müssen mehr tun als nur das, was recht ist." Amos nächsten Morgen pumpte der Christ Wasser für die beiden unteren Felder und am Nachmittag für sein eigenes Feld. Der Nachbar war über diese Tat so erstaunt, dass er begann, nach dem Beweggrund zu forschen, bis schliesslich auch er Christus fand.
X
„Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege Böses mit Gutem.“ (Römer 12, 21)
Übrigens gibt uns Paulus ein konkretes Beispiel, wie er das
handhabte, wenn ihm jemand Schaden zufügte. Gegenüber Timotheus bemerkt er:
X
Paulus hat diese Sache dem Herrn abgegeben. Er vertraut Gott,
dass er es richtig und gerecht regeln wird. Er muss sich nicht mehr damit
beschäftigen. Es ist jetzt Gottes Sache. Wäre Paulus der Meinung, dass man
immer und jedem vergeben muss, egal, ob er einsichtig ist oder nicht, dann
hätte er doch sagen müssen, dass er ihm vergeben hat, obwohl er ihm Böses
zufügte und das vermutlich auch weiterhin so tun würde.
X
„Jesus, der nicht mit Beschimpfungen reagierte, als er beschimpft wurde, und nicht mit Vergeltung drohte, als er leiden musste, sondern seine Sache dem übergab, der ein gerechter Richter ist.“ (1.Petr 2, 23)
Bibelstellen zum Nachschlagen: 2. Mose 34, 6-7; 4. Mose 5, 5-7; 5. Mose 32, 35; Sprüche 25, 21-22; Jeremia 18, 23; Jeremia 36, 3; Hesekiel 5, 11; Matthäus 5, 38-44; Markus 3, 5; Johannes 3, 36; Römer 1, 18; Römer 2, 5-8; Römer 12, 14; Römer 12, 17-21; Epheser 5, 6; 1. Thessalonicher 5, 15; 2.Thess, 1, 7-9; 4, 14; Titus 3, 2; Jakobus 1, 19-20; 1. Petrus 2, 23; Jud.15; Offenbarung 20, 12
X
Vielleicht fragen Sie sich, warum das so wichtig ist, dass
wir die Unterscheidung von Vergeben und Abgeben machen.
Es ist vor allem wichtig für Menschen, die von Schulden
betroffen sind, die über eine Beleidigung hinausgehen. Die in ihrem Leben als
Opfer massive Beeinträchtigungen akzeptieren müssen. Oder Unrecht, dass sie
immer wieder neu ertragen müssen, und dem sie sich nicht entziehen können.
Das kann z.B. bei schwierigen Familienverhältnissen der
Fall sein.
Ich bin überzeugt, dass es wenig hilft, wenn wir die betroffenen
Christen dazu auffordern, diesen Leuten immer wieder zu vergeben. Spätestens,
wenn das nächste Mal der Wunsch zur Rache hochkommt, werden sie daran zweifeln,
ob sie wirklich richtig vergeben haben und sich deshalb noch selber schuldig
fühlen. Es entsteht ein Teuelskreis, eine Abwärtsspirale.
Wenn ich diese Dinge an Gott abgeben kann, dann muss ich
mir darüber nicht den Kopf zerbrechen, dass ich mich rächen möchte. Ich kann
einfach sagen, das ist ganz natürlich, dass ich mich rächen möchte, aber ich
überlasse es Gott. Er wird es richtig machen.
So muss ich aus meinen Gefühlen keine Mördergrube machen,
aber ich kann sie Gott abgeben. So werde ich frei, mich auf die Feindesliebe zu
konzentrieren – eben, das Böse mit Gutem zu überwinden. Jesus sagt es so:
X X X
Eine Frage, die mir meistens sofort gestellt wird ist, wie
es sich denn bei Stephanus verhält, der als er gesteinigt wurde Gott bat:
“Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apostelgeschichte 7, 60)
Stephanus hat hier nicht ein göttliches Prinzip
überschritten, sondern er hat alles Gott übergeben. Seine Bitte ihnen diese
Sünde nicht anzurechnen ist ein Akt der Feindesliebe. Es ist sozusagen ein
Segen, den er ausspricht. Petrus sagt auch:
„Vergeltet Böses nicht mit Bösem und Beschimpfungen nicht mit Beschimpfungen! Im Gegenteil: Segnet! Denn dazu hat Gott euch berufen, damit ihr dann seinen Segen erbt.“ (1. Petrus 3, 9)
Bibelstellen zum Nachschlagen: Sprüche 28, 13; Lukas 6, 35; Apostelgeschichte 7, 60; Epheser 4, 32; 1. Petrus 3, 9; Offenbarung 6, 10
Amen