Von Pastor Heinrich Kemner (1903-1993)
Wie ein Lamm zur Schlachtung
Wenn auf meinem Elternhof ein Schwein geschlachtet wurde, musste ich als Junge immer dabei sein. Ich sehe noch, wie der Schlachter kam, einen Schlaghammer in der Hand, umgeschnallt einen Riemen, an dem der Köcher mit den Messern hing. Das Schlachtschwein wurde aus dem Stall geholt, dann gebunden, und wenn es auf dem Boden lag, kam der Betäubungsschlag, im Notfall auch ein zweiter. Bis dahin quiekte das Schwein entsetzlich und wehrte sich, so dass man es festhalten musste. Bei diesem Schlachtfest war es immer meine Aufgabe, den Schwanz des Schweines zu halten. Ich kam mir ungeheuer wichtig vor. Für meinen Dienst durfte ich nachher den Schwanz feierlich essen. Ich habe bei einer Schlachtung eigentlich nie besonderes Mitleid mit dem Tier empfunden, auch nicht, wenn auf dem Hof einmal ein Bulle geschlachtet wurde. Die Ursache lag nach meiner Meinung darin, dass sich die Tiere wehrten. Eben dadurch wurde der Tatendrang geweckt und das Mitleid schwand. So kann ich mir nur erklären, dass ich oft teilnahmslos dabei war.
Total anders aber war es, wenn ein Schaf geschlachtet wurde. Hast Du das schon einmal erlebt? Ein einziges Mal war ich dabei, und keine zehn Pferde könnten mich heute dazu bringen, das noch einmal zu erleben. Wie war das? Der Schäfer nahm das Schaf, ohne es zu binden, legte es auf den Schlachttisch, ohne dass das Tier sich im geringsten wehrte. Vertrauensvoll blickte es auf den Hirten. Dann schnitt der Schäfer am Hals die Wolle weg, nahm das Messer und schnitt die Kehle durch. In diesem Augenblick verdrehte das sterbende Schaf die Augen, schaute den Schäfer geradezu übersichtig an, ja die Augen traten heraus, das Weiss wurde sichtbar, alles war eine einzige Frage: Warum tust du das? Als ich das miterlebte, habe ich aufgeschrien und bin weggelaufen. Ich kann die Augen des sterbenden Lammes nicht sehen, die Augen, die fragen und Antwort suchen, die Augen, die vertrauen und im Erlöschen noch erschütternder Ruf sind.
Von dem Gottesknecht sagt der Prophet: „Er ist wie ein Lamm zur Schlachtung geführt und still wie ein Schaf vor seinem Scherer, das seinen Mund nicht auftut“ (Jesaja 53, 7). Es gibt nach meiner Meinung keinen treffenderen Vergleich, kein gleichnishafteres Bild für das Sterben Jesu als diese prophetische Aussage. Das ist das Ungeheuerliche, dass der, der das Urbild des Menschen nach dem Bilde Gottes trug, in dessen Munde kein Betrug erfunden wurde, der ohne jeden Vorbehalt geliebt hatte, dass Jesus von Nazareth, der eingeborene Sohn vom Vater, voller Gnade und Wahrheit, von uns wegen Gotteslästerung hingerichtet wurde.
Am Karfreitag sehe ich die sterbenden Augen Jesu auf die ganze Welt, ja auf mich und Dich gerichtet. In ihnen lese ich die Frage, von der Camus gesagt hat, sie sei die einzig echte Frage der Menschheit, unausweichlich deutlich und unüberhörbar: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Die Unheimlichkeit dieser Gottesfinsternis macht den Abgrund menschlicher Sünde und Schuld deutlich. Wer will vor dem Kreuz Jesu ausweichen und sagen, dass ihn diese Frage Gottes in den Augen Jesu nichts angeht? „Wer kann das noch fassen: Gott von Gott verlassen?“ hat Luther gesagt. Nur wer erkennt, dass Jesus am Karfreitag unsere eigene Lebens- und Sterbensfrage durchlitten und durchstanden hat, nur wer in seinem Todesröcheln das Tor zum Paradies im Heute der Gnade geöffnet weiß, dem läuten am Karfreitag die Osterglocken. Wir wollen vor den sterbenden Augen des Gotteslammes nicht weglaufen, wie ich es einst vor denen des Schafes tat. Lasst uns im Karfreitag Gottes Liebe anbeten, die sich in Jesus offenbart. Die Strafe liegt auf Ihm, damit wir Frieden haben. Durch Jesu Wunden sind wir geheilt. Herr, schenke uns allen diese Gewissheit!
Pastor Heinrich Kemner, Erweckliche Stimme, Nr. 4, April 1981