Christustag in Leinfelden am 19. Juni 2003
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Johannes gibt Zeugnis von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.
Johannes 1, 1-18
Es
ist im Frühzug von Stuttgart nach Kärnten. Noch bin ich allein im Sechserabteil
und genieße die Stille. Aber dann stürmen sie meinen Wagen, fünf junge
Erwachsene, 3 Männer, 2 Frauen. Schnell sind wir im Gespräch und - ich bin
verblüfft: die Fünf machen einen Wochenendtrip zum Wallfahrtsort Lourde. Die
Fragen gehen hin und her: "Waren Sie noch nie dort?" Ich muss
verneinen. "Haben Sie noch nie das Verlangen gehabt, so etwas auch einmal
zu erleben?" Ich muss sie enttäuschen, aber ich bitte sie, mir zu
erklären, was es ihnen bedeutet, was sie dort erleben. Sie versuchen es. Es
hilft ihnen, so viele gläubige Menschen zu sehen. Menschen, die beten, singen,
Wunder erwarten. Es ist eine Atmosphäre, die ihnen das Glauben leichter macht.
Zu Hause verblasst das religiöse Erleben, aber dann fahren sie eben wieder hin.
Jetzt ist es ihre dritte Reise nach Lourde.
Sie hatten mir eine gute Brücke gebaut, und ich frage: "Müsste sich der
Glaube nicht gerade in unserem Alltag bewähren, müsste Gott uns nicht gerade da
nahe und erfahrbar sein?" "Schön wär's, aber das gibt's nicht,"
meinen sie. "Stellen Sie sich vor, die Bibel sagt , dass Jesus Christus
ganz persönlich in unserem Leben wohnen will, er will es tagtäglich gestalten,
er will uns so beschenken, dass wir ihn mitten im Alltag erfahren." - Es
sind großartige junge Leute. Sie lassen sich auf ein Gespräch über Jesus
Christus ein. Nur eins ist weniger großartig, dass die Strecke zwischen Ulm und
München relativ kurz ist und die Fünf in München ins Flugzeug umsteigen müssen.
"So ein Mist", meinte einer der jungen Männer, "jetzt müssen wir
mitten im wichtigsten Thema raus!"
Das gibt es also, dass man christlich - religiös und dennoch dem lebendigen
Gott noch nicht wirklich begegnet ist. Sucht man an der falschen Stelle?
Sehen Sie, ich stehe dieser Tage beim fortlaufenden Lesen im NT in der
Apostelgeschichte. Da wirkte Barnabas in Antiochien und merkte, ich brauche
diesen jungen Paulus als Mitarbeiter. Der war einst von Jerusalem in seine
Heimatstadt Tarsus gereist. Nun hat sich der Barnabas doch nicht nach Jerusalem
auf die Socken gemacht, um Paulus zu suchen. Natürlich ging er nach Tarsus und
fand Paulus dort. Wer dem lebendigen Gott tatsächlich begegnen will, der muss
da suchen, nachfragen, anklopfen, wo er auch zu finden ist, wo er sich
offenbart hat.
Lassen Sie mich noch ein zweites Erlebnis einfügen: Uns gegenüber wohnt ein
alleinstehender Künstler, ein Maler. Aufopfernd hat er über Jahre hinweg seine
Mutter gepflegt. Nun starb sie. Weil ich wusste, welch ein Verlust das für ihn
war, suchte ich das Gespräch. Er freute sich, über seine geliebte Mutter reden
zu können. Als ich unsere Gedanken behutsam in Richtung Gott und Ewigkeit
lenkte, ging er voll darauf ein, aber zu Wort kam ich nicht mehr; sondern aus
seiner Künstlerseele entfaltete sich ein Gottesbild, das meilenweit von dem
entfernt ist, was die Bibel lehrt.
Nicht wahr, so erleben wir die meisten Menschen um uns. Wir merken, ohne die
Selbstoffenbarung Gottes, wie wir sie tatsächlich in der Bibel finden, tappen
wir Menschen schrecklich im Dunkeln.
Bibel - Gottes Wort - ich denke an das Volk Israel, dem Gott sich offenbarte,
dem er sein Wort schenkte, mit dem er redete - und ich denke an die eifrigen
Leser des Alten Testamentes zur Zeit Jesu, die sich die Worte dieses Buches ins
Gedächtnis pflanzten und die doch Ihren lebendigen Gott total verkannten. Sie
glaubten, Ihn im Griff zu haben, zu wissen, was Er zu tun hatte und was nicht,
wie Er zu sein hatte und wie nicht. Sie hatten das Wort Gottes und legten es
sich so aus, wie es ihnen passte. So waren sie unter der Hand, auch ihrem
eigenen Gottesbild aufgesessen und erkannten den nicht, ja, lehnten den
mehrheitlich ab, der Gott ist und als Gottessohn den Vater aus der
Unsichtbarkeit, sichtbar, begreifbar, hörbar und erlebbar machte.
Wir merken: man kann die Bibel haben und lesen, man kann von Jesus wissen.
Aber wenn wir Jesus nicht erkennen, anerkennen und bekennen
wie einst der Jünger Thomas, als er vor dem auferstandenen Herrn niederfiel und
ihn anbetete: "Mein Herr und mein Gott!" - bleibt uns Gott eine
ferne, unbekannte Größe, die wir immer nur menschlich, darum immer zu klein und
immer falsch denken.
Vor Jahren hatte ich ein kleines Erlebnis am Rande, was ich aber nie vergaß.
Ich wurde in eine Gemeinde mitgenommen, in der gerade eine Evangelisation
stattfand. Als ich dem örtlichen Leiter begegnete, meinte der spontan:
"Ach, das ist sie!" - Hm, ich weiß es bis heute nicht, war das nun
negativ oder positiv? Das ist aber völlig egal. Es zeigt uns, dass es ein
gravierender Unterschied ist, um eine Person nur vom Hörensagen zu wissen oder
sie persönlich kennenzulernen.
Und nun hat der lebendige Gott selbst alles getan, damit wir ihm persönlich
begegnen können, damit wir ihn persönlich kennenlernen können, damit wir nicht
mehr unseren eigenen Phantasien über Gott aufsitzen.
Er selbst hat die Mauer der Unsichtbarkeit durchbrochen und ist in unsere Welt
gekommen. Der Jünger Philippus bat Jesus einmal: "Herr, zeige uns den
Vater, und es genügt uns." Jesus antwortete ihm: "So lange bin ich
bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den
Vater!" (Johannes 14, 8-9)
Wir haben es gelesen, wie der Apostel Johannes mit seinem Evangelium mitten
hineinspringt in dieses eigentlich kaum beschreibbare Geschehen, um es einer
Welt deutlich zu machen: Gott hat sich aufgemacht,
Gott ist aus der Ewigkeit in die Zeit,
aus der Unsichtbarkeit in das Sichtbare eingetreten
und hat in seinem Sohn hier gewohnt.
In der ProChrist Evangelisation hieß es: "Gott kommt zu Boden!" Er,
der Unerschaffene, der bei Gott war und schon im Anfang unserer Schöpfungs- und
Menschheitsgeschichte wirkte, begab sich ganz in unsere Geschöpflichkeit, Er
der vor allem war und ewig ist, nahm hier eine Geburts- und Sterbestunde auf
sich. So ist Er, in dessen Herrlichkeit Sünde und Tod unbekannt sind,
eingetaucht in unsere Welt der Sünde, des Leides und des Todes.
Gott spricht sich in Jesus vollkommen aus. Er braucht dazu nicht viele
und immer neue Worte. Die Bibel betont (Hebräer 7, 27; 9,12; 10,10), dass er
ein für allemal sein ganzes Herz und Wesen in einem einzigen Wort erhellte. Und
dieses Wort ist eben nicht "Schall und Rauch", ist eben nicht eine
Aneinanderreihung von Buchstaben, sondern eine Person, Jesus Christus, Gott
selbst. (vgl. Werner de Boor, Das Evangelium des Johannes, S. 37)
Adolf Schlatter, der Schweizer Theologe, der in Tübingen lehrte, merkt an:
"Johannes schaut vom Anfang der Bibel sofort zu Jesus hinüber und hat...
ausgesprochen, wie dankbar er Jesus ist. Bei IHM hat er Gottes Wort so
gefunden, dass er es vernehmen kann." (Schlatter, Erläuterungen zum NT,
Ausgabe Stuttgart 1922, Calwer Vereinsbuchhandlung, S. 2 Johannesevangelium)
Johannes stellt klar, dass sich da kein Gott verkleidet hat und
letztlich unberührt vom wirklichen Menschsein blieb. Gerade dieses Wort Fleisch
betont den Menschen in seiner ganzen Schwachheit, in seiner Sünde, in seiner
Versuchlichkeit und Todverfallenheit. Näher konnte uns Gott nicht kommen, wirklicher,
greifbarer konnte Er nicht für uns werden.
Wenn jemand bei
uns wohnt, haben wir die Chance ihn richtig kennenzulernen. Aber hier müssen
wir doch nachfragen, war das der Grund von Gottes Menschwerdung, dass wir nun
nicht mehr über ihn spekulieren müssen, sondern etwas Gewisses in der Hand
haben? Wollte er unser Wissen korrigieren und perfekt machen? Wohl kaum! - Und
denken Sie nur daran, was Zeitgenossen, Volksgenossen "sahen" und von
Jesus dachten: Trotz seiner Wort, die so ins Herz drangen,
trotz seiner Taten, die immer helfend, heilend, sogar aus dem Tod erweckend
waren,
trotz seiner Liebe und Achtung mit der Er jedem Menschen begegnete, urteilten
sie:
Jesus? - das ist doch der, der bei uns in Nazareth aufgewachsen ist, was soll
der mehr sein als wir?
Jesus? - das ist ein Ketzer, der verdreht unseren Glauben!
Jesus? - das muss ein Samariter sein - der ist nicht ganz koscher!
Jesus? - das ist ein dämonischer Mensch, von der Hölle bestimmt - daher kommt
ihm seine Wunderkraft. (Johannes 7, 20; 8, 48; 8, 52; 10, 20)
So sahen manche Zeitgenossen Jesus. Sie hatten von Ihm durch den Täufer gehört,
Ihn sogar selbst gesehen, gehört, betastet, waren zu und mit ihm gelaufen, aber
sie hatten sich diesem Licht aus der Ewigkeit letztlich verweigert und ihm
nicht erlaubt, ihr Leben hell zu machen. Sie wollten es wohl nicht wahrhaben,
dass sie so verlorene und so schuldige und so von Gott getrennte Leute sind,
dass sie Jesus, Gottes Sohn brauchten.
Aber dann waren da andere und mit ihnen bis zum heutigen Tag viele Menschen,
die sahen und sehen etwas ganz anderes. So bezeugt Johannes:
"...wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen
Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit." (Johannes 1, 14)
Diese Herrlichkeit gipfelte zum einen in der scheinbar dunkelsten Stunde, der
Sterbestunde Jesu am Kreuz; und zum anderen in der Auferstehung und
Himmelfahrt. Im Blick auf das Kreuz betete Jesus: "...was soll ich sagen?
Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.
Vater, verherrliche deinen Namen!" (Johannes 12, 27-28)
Am Kreuz schauen wir dem lebendigen Gott ins Herz! Lieber gibt der Vater seinen
Sohn in diesem stellvertretendem Leiden dem verfluchten Kreuzestod preis - als
uns der Verlorenheit. Lieber geht Jesus unter dem Fluch der Sünde in die
Gottverlassenheit - damit wir nicht in die ewige Trennung vom Vater gehen
müssen.
Im Anfang des letzten Jahrhunderts hat es der bayrische Kirchenpräsident, Hermann
Bezzel, so ausgedrückt:
"Gott hat um die Sünde gewusst. Nicht, dass er sie gewollt hätte, aber er
hat sie gekannt. Er hat gesehen, welche Verheerung sie unter den Menschen
anrichtet. Er hat wahrgenommen, wie die Sünde aus kleinen Anfängen zu unübersehbarer
Höhe heranwächst, und dass dann den Menschen der Blick zu dem lebendigen Gott
versperrt wird...
Gott hat seit Anbeginn der Welt vernommen, unter welch grauenhafter Last die
Menschheit schmachtet. Aber so gewiss Gott wusste, was Sünde ist, erfahren
hat er sie nie. Er konnte sich, wenn ich es einmal so menschlich sagen will, in
die Reize der Sünde, in die Schwachheit der Menschennatur nicht hineindenken.
Wenn er gleich von aller Lüge und von aller Einsamkeit, von allem Grauen der
Leidenschaft und von der Angst eines zerrissenen Lebens wusste und die Qual um
den Tod millionenfach ansah, erfahren hat er das alles nicht. Empfinden
konnte Gott das nicht!
Lasst es mich einfach sagen: Da hat sein Sohn sich angeboten, die Last des
Menschseins, die Last des Leibes und der Sünde nicht bloß kennenzulernen, nicht
nur zu wissen, sondern der Sohn erbot sich an seinem eigenen Leibe das Grauen
des Menschseins zu erfahren...
Er hat jede einzelne Sünde, zu der ein Mensch fähig ist, insgesamt erlebt und
erlitten...
Er hat die Versuchungen und die Verlockungen zur Macht ebenso an sich
herantoben lassen, wie die seidenen Fäden der Verführung, mit denen ein
Menschenleben umgarnt wird... Aber eingewilligt hat er in diese Sünden nicht!
Die Menschwerdung Gottes - seine Herablassung zu uns Menschen - liegt in der
Sünde, und, - es klingt wie eine Torheit -, der Grund der Menschwerdung Gottes
liegt in Gottes eigener Sündenfremdheit. Die Menschwerdung Gottes liegt darin,
dass einer, der die Sünde ertragen wollte, sie auch in ihrer ganzen
Größe ermessen musste...
Das ist das Geheimnis Jesu: Er hat alles Grauen erfahren. Er hat alle Krankheit
an sich genommen und alle Verlassenheit der Todesnächte durchlitten. Die
bittern Enttäuschungen an Menschen blieben ihm nicht fremd und die
Verlassenheit im Tode, die hat er schmecken müssen. ...Und als er das alles
durchlitten und durchlebt hatte, da hat er geschrieen: ‚Es ist
vollbracht!'" (Hermann Bezzel "Die Herablassung Gottes", 1972
Kawohl, Wuppertal, S. 11-13;15;17)
In Jesus begegne ich Gott tatsächlich - und diese Begegnung hat Folgen für mein
ganzes Leben und Sterben. Johannes schreibt:
"Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu
werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem
Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren
sind." (Johannes 1, 12-13)
Vielleicht kennen Sie das Abendmahlslied des schon mit 36 Jahren gestorbenen
schlesischen Pfarrers, Ernst Gottlieb Woltersdorf. Ich zitiere daraus:
Gott, was brauch ich mehr zu wissen, ja, was will ich mehr genießen? Wer kann
mir mein Heil ermessen, werd ich das nur nicht vergessen, dass ich einen
Heiland habe? Ich bin frei vom Tod und Grabe; wenn mich Sünd und Hölle
schrecken, so wird mich mein Heiland decken.
Will hinfort mich etwas quälen oder wird mir etwas fehlen oder wird die Kraft
zerrinnen, so will ich mich nur besinnen, dass ich einen Heiland habe, der vom
Kripplein bis zum Grabe, bis zum Thron, wo man ihn ehret, mir, dem Sünder
zugehöret.
(EG 584,4 - zuerst zitierte Strophe; EKG 444, 9)
Jesus ist der Schlüssel zu allem:
zur Bibel, sonst bleibt sie einem seltsam verschlossen;
zur Schöpfung, sonst sehen wir den Schöpfer nicht in ihr;
zum Vater im Himmel, sonst erkennen wir ihn nicht.
Jesus schließt uns auf, was wir zum Leben und Sterben und zur Ewigkeit
brauchen.
Ich bitte Sie, um Jesu willen, um seiner geliebten Menschen willen, bleiben Sie
nicht in religiösen Gesprächen hängen, auch wenn die ganz fromm klingen und die
Vokabel Gott drin vorkommt. Bezeugen Sie Jesus Christus als den gekreuzigten,
auferstandenen und wiederkommenden Herrn, ohne den niemand Gott schauen kann,
hier und in alle Ewigkeit!