06. Juni1985
29.
Ludwig-Hofacker-Konferenz
Bibelarbeit
über Johannes 5, 1-15
Im Überdenken dieses
Bibeltextes müssen wir immer zweierlei im Blick behalten:
Jesus ist der
unvergleichliche Herr, dessen Vollmacht wir nicht an uns reißen können, den wir
nicht nachahmen können. Er bleibt in seinem Handeln als Sohn Gottes
einzigartig.
Und doch ist sein Handeln
zugleich wegweisend für seine Gemeinde. Weil „Jesus Christus derselbe ist
gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebräer 13, 8), gibt er seiner Gemeinde heute
von seiner Vollmacht, nimmt sie mit hinein in sein Wirken an Menschen. Jesus
aktualisiert sein Handeln damals immer wieder neu durch seinen Heiligen Geist.
Und so dürfen wir das Geschehen, das in unserem Bibeltext berichtet wird,
gewissermaßen zu uns herüberziehen. Wir wollen das in vier Schritten tun.
1. Seelsorge wendet sich immer dem ganzen
Menschen zu
Jesus isoliert nie die
leiblichen Nöte der Menschen von ihren geistlichen Bedürfnissen. Jesu Seelsorge
verbindet sich mit der Leibsorge. Hier hilft Jesus einem Menschen zuerst in
seiner irdisch-leiblichen Not. Er geht durch ein großes Krankenhaus: fünf
Hallen mit vielen Kranken. Jesus weiß, dass in jedem Menschenleben mit der
körperlichen Krankheit viel seelisches Leid verbunden ist. Krankheit kann einen
Menschen innerlich einsam machen: „Ich habe keinen Menschen!“ Kranke können
sich oft nicht mitteilen, sie fühlen sich den Gesunden gegenüber oftmals
ausgeliefert, ohnmächtig, nicht verstanden. Und tatsächlich vermag ja ein
Gesunder einen Kranken nicht völlig zu verstehen, es sei denn, er sei selbst
schon einmal ebenso krank gewesen. Während der Gesunde voll am Leben teilhat,
dem Kranken gewissermaßen wie ein Mensch ohne Probleme erscheint, empfindet
sich ein Kranker zunehmend an den Rand des Lebens gedrängt. Er wird empfindlich
und spürt es – gerade bei lang andauernder Krankheit, wie die anderen ihn
aufgeben. Die Menschen um ihn herum versorgen ihn noch, aber sie lassen ihn
innerlich allein.
Natürlich waren Menschen
da, die den Kranken am Teich Bethesda versorgten, mit Almosen, sogar 38 Jahre
hindurch. Und doch hat Jesus ihn in seiner Einsamkeit gesehen, ihn, der seine
Hilfe am meisten braucht. Er spricht ihn an als Menschen, nicht als Patienten;
er wendet sich dem Kranken zu, nicht seiner Krankheit. Auf den Spuren der
Seelsorge Jesu müssen wir die irdisch-leibliche Bedrängnis des anderen sehen.
Es sind doch nur wenige, die in der Seelsorge zuerst die Frage nach dem
persönlichen Heil aussprechen. Oft sind es handfeste Nöte im Alltag, die sie in
die Seelsorge treiben. Sie müssen spüren, dass wir uns ihnen selbst zuwenden,
nicht nur ihren Problemen, dass wir Zeit haben, ein offenes Ohr, dass wir
intensiv nachdenken und mit ihnen nach Lösungsmöglichkeiten suchen, um ihnen
praktisch zu helfen.
2. Seelsorge sucht die Schäden in den Tiefen
des Herzens zu heilen
Die sichtbare Not dieses
Menschen, von dem unser Bibeltext erzählt, war seine Krankheit. Die verborgene
Not, die nur Jesus sah, war seine Sünde. In der Seelsorge bagatellisieren wir
nicht die Lebensprobleme unseres Gesprächspartners, aber wir reden vor allem
von Sünde und Vergebung. „Sündige hinfort nicht mehr!“ (V. 14). Was soll dieser
Mensch schon gesündigt haben? Er hatte mit Sicherheit keine Gelegenheit zu Mord
und Totschlag oder zum Ehebruch. Weil er nie unbeobachtet war, immer mit
anderen zusammenlag, war er auch kein heimlicher Dieb
oder Betrüger. Was war denn seine Sünde? Ein Kranker, der durch eine lang andauernde
Krankheit an den Rand des Lebens gedrängt wird, kann in seinem Herzen bitter
werden. Neid gegenüber den Gesunden kommt auf; Eifersucht: Warum können die
anderen noch alles mitmachen und ich nicht? Und schließlich rutscht ein solcher
Mensch ins Selbstmitleid ab: „Ich habe niemanden … Wie arm und bedauernswert
bin ich doch!“ Bitterkeit, Neid, Eifersucht, auch Selbstmitleid – das ist in
Gottes Augen Sünde.
„Sündige hinfort nicht
mehr!“ Wir beobachten in der Berichterstattung der biblischen Schreiber immer
wieder, dass sie nur ein oder zwei Sätze aus Gesprächen wiedergeben, die Jesus
mit Menschen geführt hat. Auch dieses Gespräch hier war umfassender.
„Sündige hinfort nicht
mehr!“ Jesus spricht den Kranken nicht nur auf seine Sünde an, er spricht ihn
von seiner Sünde frei! Im Gespräch mit Jesus erfährt der jetzt Geheilte die
Vergebung seiner Schuld. Unser Bibelwort sagt: „Jesus fand ihn im Tempel und
sagte zu ihm: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr.“ Erst hier,
als der Geheilte im Tempel Jesus erneut begegnet, ist der Genesungsprozess
abgeschlossen. Die körperliche Wiederherstellung ist nicht alles. Es geht um
mehr – um den ganzen Menschen. „Jesus fand ihn.“ Wenn ein Mensch sich von Jesus
finden lässt, dann wird er in den tiefsten Schichten seines Wesens gesund.
„Sündige nicht mehr, damit
dir nicht etwas Schlimmeres widerfährt.“ Gibt es etwas Schlimmeres als 38 Jahre
krank zu sein? Jesus sagt: Ja! Seinen Jüngern gegenüber hat er das einmal so
ausgedrückt: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele
nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele in
der Hölle verderben kann.“ Nicht das körperliche Leiden ist das Schlimmste; die
ewige Gottesferne ist schlimmer. Darum muss ein Mensch aus seinem gestörten
Verhältnis zu Gott heraus, wenn er wirklich gesund werden will. Nicht jede
Krankheit ist unmittelbare Folge einer Sünde. Aber es kann sein, dass im Leben
eines Menschen Sünde und Krankheit in einem ursächlichen Zusammenhang stehen.
Dann wirkt sich die Vergebung der Sünden auch im leiblichen Bereich aus.
Innerlich gesund ist der Mensch, der die ewige Herrlichkeit Gottes vor Augen
hat, der der Vergebung seiner Schuld und des ewigen Heils gewiss ist. Darauf
zielt die Seelsorge Jesu: Vergebung der Schuld, Befreiung von der Macht der
Sünde und Heilung von Krankheit. Damit gibt er dem Menschen eine neue
Lebensrichtung. Eingebunden in Gottes gute Lebensordnung kann er zu einem
befreiten und erfüllten Leben finden: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige
nicht mehr, damit dir nicht etwas Schlimmeres widerfährt.“
3. In der Seelsorge ist der Mensch nicht Objekt
unserer Hilfe
Jesus fragt den Kranken „willst
du gesund werden?“ (V. 6). Die Frage ist weder ironisch noch taktlos. Sie ist
weder dumm noch überflüssig. Wie die Antwort ausfallen wird, ist nicht mit
Sicherheit vorauszusehen. Ein Kranker kann sich an seinen Zustand gewöhnen, er
kann passiv werden, er kann sich sogar in seine Krankheit flüchten. Nach 38
Jahren gesund werden, nachdem er solange von Almosen gelebt hat, das bedeutet
ja den Anfang eines neuen Weges. Soll er den wirklich gehen? Wenn er gesund
wird, muss er die Verantwortung für sich übernehmen. Wie unsicher er ist, zeigt
eine ausweichende Antwort: „Ich habe keinen Menschen“ – das ist keine Antwort
auf die Frage“ willst du gesund werden“? Erstaunen und Zweifel schwingen auch
mit. Nach 38 Jahren noch einmal neu anfangen können, soll das wirklich möglich
sein? Mit der Frage „willst du gesund werden?“ verbaut Jesus ihm den Fluchtweg
heraus aus der Verantwortung. Der Kranke soll durch seine Entscheidung an
seiner eigenen Therapie mitwirken. Er soll eben nicht nur Almosenempfänger
sein. – Es gibt heute eine wachsende Zahl unserer Mitmenschen, die sich im
Grunde selbst aufgegeben haben, die „sich gehen lassen“, die sich an ihre
Sünden und Verhaltensweisen gewöhnt haben, mit denen sie ihr Leben selbst
zerstören und sich damit entschuldigen: „Ich bin nun einmal so; was kann ich
dafür? Ich kann nun einmal nicht anders sein.“ Und mit ihren Unarten oder auch
mit ihren Krankheiten tyrannisieren sie ihre Mitmenschen. Wenn Jesus uns
begegnet, lässt er uns nicht so, wie wir sind. Er fragt: „ Willst du gesund
werden?“ und erwartet eine deutliche Antwort. Seelsorge zielt immer auf Lebensveränderung im Sinne einer Neuorientierung nach dem
Willen Gottes.
4. In der Seelsorge gehören Geduld und
Zielstrebigkeit zusammen
Jesus lässt dem Kranken
Zeit. Er verliert ihn nie aus den Augen, er geht Schritt für Schritt den Weg
mit ihm. Jesus wendet sich mit seiner Hilfe und seiner Seelsorge dem zu, der
für die anderen ein „hoffnungsloser Fall“ war. Es sind gewissermaßen einige
Stationen auf dem Weg zum Glauben, die Jesus geduldig mit ihm geht. Zuerst
fragt er den Kranken. Jesus nimmt das Gespräch mit ihm auf. Dann gibt er die
Anweisung: „Steh auf, nimm deine Schlafmatte und geh!“ (V. 8). Der Kranke
erlebt die körperliche Heilung, ohne zu wissen, wer Jesus ist. Scheinbar lässt
Jesus ihn laufen, überlässt ihn sich selbst. Aber die Rückfrage der Juden „wer
ist der Mann?“ zwingt den Geheilten, weiter darüber nachzudenken. Und schließlich
in der erneuten Begegnung mit Jesus, also erst einige Zeit später, kommt dieser
Mann zum lebendigen Glauben und wird innerlich gesund. Jesus hat ihn nicht
bedrängt, er hat gewartet. Aber alles, was Gott in den Weg des Geheilten
hineinfügt, dient dem einen Ziel der geistlichen Genesung.
Dieser Mann empfängt
persönliche Glaubensgewissheit und wird zum Zeugen Jesu.
Weil es für Jesus keine „hoffnungslosen
Fälle“ gibt, kann Jesus auf die rechte Stunde der Begegnung mit einem Menschen
warten. Er schenkt beides zu seiner Zeit und nach seinem Willen, Heilung und
Heil, nicht als Erfolg des Glaubens von Seiten der Menschen, sondern als
Wirkung seines barmherzigen Handelns, das nie vergeblich ist. Und weil Jesus
Christus uns als Glieder seiner Gemeinde in sein Handeln an Menschen
einbeziehen will, können wir Menschen in gleicher Weise wie unser Herr
begegnen, in großer Geduld, ohne zu drängen, und in der Gewissheit, dass
Seelsorge Jesu durch uns nie vergeblich sein wird, auch wenn wir manchmal auf
die Auswirkungen warten müssen. Wenn Jesus Christus Menschen in der Seelsorge
erneuert, dann wissen beide, der, der Seelsorge übt, und der, der sie empfängt:
„Mir ist Erbarmung
widerfahren,
Erbarmung, deren ich
nicht wert.
Das zähl ich zu dem
Wunderbaren,
mein stolzes Herz
hat's nie begehrt.
Nun weiß ich das und
bin erfreut
und rühme die
Barmherzigkeit.“