Emmi Busch
Die angestrichenen
Stellen
Schriftenmissions-Verlag Gladbeck/Westfalen
Vorwort
Viele Jahre hindurch gab mein Mann das Monatsblatt „Licht und
Leben" heraus und brachte darin Berichte aus seinem Leben unter der
Überschrift: „Schriftleiter, erzählen Sie mal!" Gelegentlich bat er auch
mich um solch einen Beitrag, und was blieb mir als „Gehilfin, die um ihn
sei", anders übrig, als ihm diese seine Bitte zu erfüllen, so gut ich es
konnte. Der Verlag will nun meine Berichte von mancherlei Erlebtem als Büchlein
herausbringen, und so mögen sie unter dem Titel des bekanntesten Beitrags
herausgehen zu Gottes Ehre und zur Anregung und Hilfe für andere Christen --
insbesondere für Frauen.
Emmi Busch
„Beim
Herz-Verschenken ist das nicht so"
„Dann
weine ich einfach zum lieben Heiland"
„Dann
bin ich doch fröhlich, dass ich dich habe"
„In
dem rasenden Getümmel / schenk uns Glaubensheiterkeit"
„Ich
bleibe bei der Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus Christus!"
„Ich
will singen von der Gnade des Herrn ewiglich"
„Ach,
mein Herr Jesu, wenn ich dich nicht hätte..."
„Nur
an einer stillen Stelle..."
„Man
sieht hier so viel Himmel!"
„Da
muss man eben drunter bleiben!"
„Schenk
das hochzeitliche Kleid!"
„Wanderer
zur Weihnachtsstube Gottes"
Meine liebe Patentante Anna schenkte mir an meinem Konfirmationstag eine wunderschöne Bibel mit Goldschnitt „zu fleißigem, gesegnetem Gebrauch".
Dies Buch hat mein Leben bisher begleitet, und in seinem guten Ledereinband wird es auch noch die weiteren Jahre meiner irdischen Wanderschaft mit mir durchhalten. Ein Wort ums andere darin ist mir wichtig geworden, ich habe es angestrichen, manchmal sogar das Datum an den Rand geschrieben - so sprechen nun all diese angestrichenen Stellen in meiner Bibel „von dem, was Gott an mir getan". Manchmal lockt es mich, nur einfach mal die Psalmen oder die Propheten oder das Evangelium durchzublättern, und eine Fülle von Erinnerungen wird dabei wach, und mein Herz wird fröhlich über allem Führen und Segnen und Bewahren Gottes. 0 ja, die lieben angestrichenen Stellen!
„Ich liebe, die mich lieben, und die mich frühe suchen, finden mich"
So hat meine Tante Anna mit ihrer etwas altmodischen, aber feinen Schrift auf die erste weiße Seite geschrieben.
Bei diesem Wort steht ihre liebe Gestalt vor meiner Seele. Sie kam mir eigentlich immer alt vor mit ihrem glatt gescheitelten Haar, das ein schwerer Kummer schon früh grau gefärbt hatte; das rundliche Gesicht konnte so lieb lächeln - ich glaube, laut lachen habe ich sie nie gehört -, und ihre warme Stimme klingt mir heute noch in den Ohren. Sie war klein und rundlich, oft eilig, aber nie gehetzt.
Sie nahm mich, ihre Patentochter, immer wichtig und tat mir persönlich viel Liebes, ob sie mir als Kind in heißen Sommertagen einen herrlichen kalten Himbeersaft brachte oder der Erwachsenen später eine Extratasse Kaffee nach Tisch; bei ihr durfte ich mich in eine Ecke setzen und „Heidi" lesen, sie schenkte mir später ein Tagebuch, in das hinein ich den Überschwang meiner Jugendgefühle ergoss - überall spürte ich: Sie hatte mich lieb.
Wie oft hat sie meine Jugend mit Glanz erfüllt! Es gehörte zum Schönsten für mich, wenn ich bei ihr schlafen durfte. Dann setzte sie sich still ans Bett, und nach dem kindlichen Abendgebet legte sie mir die Hand auf die Stirn, und es klang wie segnend: „Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Der behüte uns durch seine heiligen Engel!"
Am nächsten Morgen gab es für jeden ein frisches Brötchen zum Frühstück - für mich ein unerhörter Luxus! Da der Onkel meist schon ins Geschäft gegangen war, las sie dann noch die Losung und betete mit uns und legte dabei Gott jedes einzelne von uns Kindern in die Arme. Wie klopfte mir das Herz zum Zerspringen, wenn mein Name vor ihm genannt wurde, und es durchströmte mich ein herrliches Gefühl von Geborgenheit. Ich spürte etwas von dem Umgang ihrer Seele mit Gott und ahnte ein wenig von dem seligen Geben und Nehmen im Gebet.
Diese meine liebe Patentante schenkte mir meine Bibel. Gewiss hat sie mit Sinnen und Beten dies Wort hineingeschrieben: „Ich liebe, die mich lieben, und die mich frühe suchen, finden mich." Gewiss hat sie Gott in den Ohren gelegen, dies Wort an ihrer Patentochter wahr zu machen - und er hat sich zu ihrem Gebet bekannt.
Wo sind unter uns solche liebenden, verständnisvollen Tanten oder Großeitern, die im Heiligtum vor Gott Priesterdienste tun?
„Ich jage ihm aber nach, ob ich's auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin"
Ganz dick ist dies Wort unterstrichen, und am Rande daneben steht: 25.8.1918. Es war mein 19. Geburtstag.
Wochen und Monate des Ringens waren vorausgegangen. Ich gefiel mir selber nicht mehr. Ich spürte, dass mein natürliches Wesen überall Anstoß erregte und hatte das Gefühl: Mich mag keiner! Mir waren die Augen dafür aufgegangen, dass ich mich immer nur um mich selber drehte und ein ungesegnetes Leben lebte. Ich sah, dass andere reicher waren als ich, dass sie von Gott Beschenkte waren und weitergeben konnten. Gleichzeitig ärgerte mich das und zog mich doch an. Ich wusste alles Christliche; aber ich wollte kein Christ sein - und war im Grunde doch voll Sehnsucht danach. Diese meine Unruhe muss mir meine alte Lehrerin abgespürt haben. Eines Tages sprach sie mit mir darüber.
Und nun feierte ich meinen 19. Geburtstag, mitten in den großen Ferien. Da kam ein Brief von ihr. Jahrelang habe ich den verwahrt, denn er wurde zur Entscheidung für mich. Sie schrieb mir dies Wort aus dem Philipperbrief und setzte hinzu: „Glauben Sie ganz fest den letzten Satz, dass Christus alle Unruhe und alles Sehnen in Ihnen geweckt hat, dass er Sie ergriffen hat, und nun ergreifen Sie ihn!" Da geschah es, dass ich mich ihm übergeben durfte.
Wie sollte dies Wort in meiner Bibel nicht dick unterstrichen sein! Theoretisch scheint es ja widersinnig, und ich habe es immer nur aus der Praxis meines Erlebens verstehen können.
Warum erzähle ich das Erlebnis mit dieser angestrichenen Stelle? Sollte es nicht lieber ein seliges Geheimnis meines Lebens bleiben? Ach nein, ich möchte allen Lesern Mut machen: Ergreifet, weil Ihr ergriffen seid! Vielleicht ist da manch einer, der bis heute noch nicht Felsengrund unter den Füßen hat. „Nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin" - glaube das und danke dafür! Und Du wirst auch heute noch ans Ziel kommen.
„Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen"
Auch am Rande dieser angestrichenen Stelle steht ein Datum vermerkt. Ein glückseliger Tag! Der Geburtstag unseres ersten Sohnes. Ein humorvoller alter Freund bedichtete hinterher dieses große Ereignis: „Numro eins, wer's je erfahren, / weiß noch in den spätsten Jahren, / was es heißt, den ersten Knaben / strampelnd in der Wiege haben, / wenn man stolz sich und beglückt / über ihn als Vater bückt."
Aber das war erst hinterher. Vorher ging's durch alle Tiefen der Angst und Not. Es war an einem Samstag. In aller bangen Unruhe und Erwartung hatte der Ehemann seine Sonntagspredigt doch morgens noch machen können. Aber nachmittags ging die richtige Not erst an, und zum Abend hin steigerte sich die Angst noch. So junge Leute -- sie hatten nicht gewusst vorher, wie schwer alles war. Nun spürten sie miteinander, dass der Fluch des Sündenfalls darüber stand: „Mit Schmerzen sollst du Kinder gebären." Aber endlich, kurz vor Mitternacht, war der Sohn da! Ein gewaltiges Erleben, wenn ein Mensch zur Welt geboren wird! Da konnte der junge Vater nicht anders: Er setzte sich an seinen Schreibtisch, und mit aufgewühltem Gemüt und aus dankerfülltem Herzen heraus machte er eine neue Predigt über einen anderen, jetzt völlig neu erlebten Text: „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen."
Wollen wir uns das nicht sagen lassen für all unsere Not? Ewige Arme hat unser himmlischer Vater offen für uns, das heißt für alle diejenigen, die durch Jesum Christum seine Kinder sind. Wohl uns dieser herrlichen Zuflucht im Leben und im Sterben!
„Und er sah, dass sie Not litten im Rudern ...
Und um die vierte Wache der Nacht kam er zu ihnen"
Ober dieser angestrichenen Stelle wachen noch heute alte Schmerzen auf.
Da war eine Zeit der großen Not ins liebliche Familienglück hereingebrochen. Wie im Sturm hatte Gott der Herr den ein Jahr alten jüngsten Liebling herausgenommen und in seinen himmlischen Garten verpflanzt. Man konnte es nicht fassen, dass dies Kleinod mit seinem Glanz ausgebrochen war aus dem Kranz der lieblichen Kinderschar, das Herz blutete und blutete und konnte nicht stille werden darüber. Ein krampfhaftes Sichfassenwollen half nicht, es blieb nur noch das Warten auf den Trost Israels. Und der kam beim Studium dieses Bibelverses.
Da hatte der liebende Herr eine Nachtwache verstreichen lassen -- und noch eine - und noch eine. Wie mögen die Jünger in ihrer Verlassenheit nach ihm geschrieen haben! Und es heißt da ausdrücklich: „Er sah, dass sie Not litten." Welch ein wunderbarer harter Heiland, der die Seinen ihrer Not überlässt! Und doch wurde dieser Vers so tröstlich. Genügt es nicht, dass er weiß um unsere Not, dass er mit seinem Heilandsblick sieht, wie wir leiden? Warum fühlen wir uns so verlassen, wo er doch nur auf die vierte Nachtwache wartet, um zu seinen geängsteten Jüngern zu kommen?
Dies angestrichene Wort rief der Trauernden - und vielleicht auch heute noch manch einem trauernden Leser - zu: Der Heiland weiß und sieht Deinen Kummer, und zu seiner Zeit wird er kommen und durch seine Gegenwart all unsere Not zu Ende bringen. „Er sah, dass sie Not litten... und um die vierte Nachtwache kam er zu ihnen." Dann geht's so aus: „Er sprach zu ihnen: Seid getrost. ich bin's. Fürchtet euch nicht!"
„Du wirst mich vor Angst behüten, dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann"
An dem Morgen, als ich diese Stelle anstrich, hatte ich noch keine Ahnung davon, welch eine Bedeutung sie für mich bekommen sollte.
Es war einer von jenen Tagen, wo es für die Hausfrau heiß hergeht, dass man doppelt soviel Stunden brauchte, um mit der Arbeit fertig zu werden - ein Samstagmorgen vor einem christlichen Treffen. Sieben Schlafgäste waren gemeldet, Essgäste noch etliche mehr, der normale Haushalt forderte sowieso schon alle Kräfte, so „ging's rund" an diesem Morgen. Es hatte sich noch keine Zeit für eine kurze Stille vor dem Herrn gefunden, bis es mir auf einmal durch die Seele ging: Das ist ja nur ein Werk des Teufels, der mit aller Gewalt die Morgenandacht unterbinden will. So setzte ich mich kurz entschlossen in mein liebes Zimmerchen und nahm meine Bibel zur Hand. Den Psalm 32 hatte ich schon als Schulmädchen gelernt; aber erst jetzt las ich mit Bewusstsein den Vers 7: „Du wirst mich vor Angst behüten, dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann." Dabei kam mir der Gedanke: Das ist ein gutes Wort für solche, die eine Operation vor sich haben, denen angst ist. Und ich nahm meinen Bleistift und strich die Stelle an, um sie gelegentlich zu verwenden in dem angegebenen Fall.
Mit neuer Frische und Eile kehrte ich an meine Arbeit zurück. Schon waren die Schlafzimmer alle gerichtet. Nun musste nur noch fürs letzte der große Steingutkrug mit Waschwasser gefüllt werden. Fröhlich will ich ihn eben an seinen Platz stellen, da - stolpere ich auf der Schwelle, stürze hin mit dem Krug, der zerbricht und schneidet mir den Arm auf - das Blut spritzt unter die Decke. In einem Augenblick stehe ich am Rande des Todes. Auf mein Rufen springt meine Hilfe herbei, bindet den verwundeten Arm mit dem Lederriemen einer Butterbrottasche ab, telefoniert ans Krankenhaus um einen Krankenwagen - zehn Minuten später liege ich selbst auf dem Operationstisch! -
Der Professor sagte, ich sei sein Reklamefall, weil nach einiger Zeit alles wieder gut verheilt war. Mir aber ist etwas anderes ganz groß geworden: Wie Gott unsere Seele so in seinen Frieden einhüllen kann, dass keine Angst sie mehr erschüttern darf. „Du wirst mich vor Angst behüten" - das hatte ich an dem Morgen gelesen für andere Leute. „Er hat mich vor Angst behütet" - das durfte ich selbst an dem Morgen erfahren. Wie sollte ich nicht fortfahren mit dem Psalmisten: „...dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann"!
Ob wir nicht alle tausendfältig Grund haben zu diesem Rühmen?
„Du schenkest mir voll ein"
Noch kommt mich manchmal ein leises Zittern an in der Erinnerung an den Tag, wo ich das Wort aus Psalm 23 anstrich.
Mein Mann saß im Gefängnis - in der Menschen Hände gegeben! Niemand wusste, wie sein Weg weitergehen würde. Würde man ihn ins Konzentrationslager bringen oder - durften wir ihn wiederbekommen? Immer wieder ging der Blick bange suchend aus dem Fenster, oder das Herz klopfte, weil man vermeinte, im Hof den geliebten Schritt zu hören.
Nun hatte meine treue Hilfe einen Gast in mein Zimmer geführt. Mit der zermürbenden Aufregung und dem unruhigen Fragen jener Tage ging ich zu ihm; was wird er mir bringen?
Hocherfreut sah ich mich plötzlich dem von uns so sehr verehrten Präses D. Humburg gegenüber. Wie wohl tat es, dass er nach mir sah, dass ich ihm die bedrückende Lage schildern konnte und dass er mir allerlei Mutmachendes sagte! Er schloss das Gespräch mit einem Bibelwort. Ach, es war nicht nur .der Schluss des Gesprächs, sondern eigentlich enthielt das kurze Bibelwort den ganzen Extrakt dessen, was er mir gesagt hatte. Und doch klang es in diese meine Situation hinein so unfassbar, so unwahrscheinlich und doch für den Glauben so herrlich und wurde aus so großer geistlicher Vollmacht heraus gesagt, dass es mein banges Gemüt mit Freude erfüllte, dies Sätzlein: „Du schenkest mir voll ein."
Wenn ich diese Stelle heute angestrichen in meiner Bibel finde, muss ich's dankbar bekennen: ja, das durfte ich erleben! Es war sein Werk, damals in jener Notzeit. Heute ist's nicht anders. Und ich weiß: So bleibt es in alle Ewigkeit: Er schenket mir voll ein.
„Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar"
In einem Meer von Feuer und Schwefel ist in dieser Nacht unsere Stadt untergegangen. Schauerlich hat es sich angehört, das Prasseln der Flammen, das Zusammenstürzen der einzelnen Stockwerke, das Rennen mit den Eimern, wo Verzweifelte versuchten, noch irgendwo in der Nachbarschaft ein paar dünne Wasserstrählchen aufzufangen. Aber längst haben alle ihre Löschversuche als vergeblich aufgegeben und suchen erschöpft in fremden Betten noch ein wenig zu schlafen.
Auch wir sind heimatlos geworden. Unser liebes, weiträumiges Heim, in dem Gott uns viele Jahre ein so reiches Glück geschenkt hatte - rauchende Trümmer! Unsere Betten sind verbrannt. Wir sehen noch keinen Weg, wie alles weitergehen wird. Wir sind auf die Hilfe der andern angewiesen. Es ist ergreifend, wie lieb uns diese Hilfe angeboten wird. Die junge Kollegenfrau hat uns um ihren Frühstückstisch gesetzt und in großem Mitleid sogar jedem zur Stärkung ein Ei gekocht. Ihr scheint nichts zuviel zu werden. Und doch sehe ich, wie ihre Kinder heute zu kurz kommen, wie sie auf längere Zeit die Belastung durch uns gar nicht wird ertragen können. Aber - wohin? Das Gefühl, in der Fremde zu sein, überkommt mich auf einmal mächtig, und ein riesengroßer Jammer: „Ich kann nicht nach Hause, hab keine Heimat mehr." –Inzwischen ist das Frühstück beendet, und der Hausherr schlägt vor, nach alter Gewohnheit die tägliche Morgenandacht zu. halten. O ja, das brauchen wir jetzt: ein Gotteswort, das uns weiterhilft!
Er nimmt das Losungsbuch und liest das Wort für den heutigen Tag: „Denn der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken: deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar."
Habe ich's recht gehört, dies Wort, ausgerechnet an diesem Morgen? Das ist ja ein Gruß Gottes ganz persönlich an uns:
. in deinem Hause wohnen - das bleibt. Diese Heimat kann uns kein Bombenangriff rauben. Daheim an Gottes Herz sein - das ist wichtiger und größer als alle irdische Heimat. Dies Wort von den „Altären Gottes", wo er gegenwärtig ist, nahm unsere verstörten Seelen mit zu seinem Thron, da waren sie geborgen, da fanden sie Ruhe.
Warum leidet Ihr immer noch unter Eurer Heimatlosigkeit? „Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar"!
„Haltet fest an der Demut"
Es ist mir aufgefallen, wie viele der angestrichenen Stellen in meiner Bibel Aufrichtung und Trost und Erquickung für mich bedeutet haben. Aber da sind auch andere, durch die hat Gott mich gestraft, durch die hat er den Finger auf dunkle Punkte und wunde Stellen in meinem Leben gelegt. Durch die hat er mich zurecht bringen wollen. Davon darf man nicht viel erzählen, das meiste muss seelsorgerliches Geheimnis bleiben und wird nur zwischen Gott und der Seele verhandelt. Aber eins von den angestrichenen Worten dieser Art scheint mir für uns alle so wichtig, dass ich doch davon erzählen möchte.
Ein schweres Jahr lag hinter mir. Ich war an mir selber zuschanden geworden. Wohl hatte ich immer wieder Gottes Auftrag für mich vernommen, aber ich hatte ihn nicht ausführen können, weil ich mir selbst im Wege gestanden hatte. Noch nie früher im Leben war mir die Gefährdung meiner Existenz - auch meiner christlichen - so klar geworden. Ich hatte nicht mehr „mit meinem Gott über die Mauer springen" können. Er hatte mich gedemütigt und wieder angenommen. Aber ich war nun ganz auf ihn angewiesen, ich konnte selber nichts mehr tun.
So war der Altjahrsabend herangekommen, den ich in einem großen Kreise, in christlicher Gemeinschaft, feiern durfte. Es lag Himmelsluft über dieser Versammlung, und ich war begierig danach, mich segnen zu lassen.
Nun kam der Augenblick, da die Teller mit den Neujahrslosen herumgereicht wurden. Der Leiter wies mit ein paar ernsten Worten darauf hin, dass jeder sein Los unter Gebet ziehen solle. Er möge es dann als besonderes Wort Gottes an sich ansehen. So wollte ich es halten und freute mich darauf, dass Gott mir gewiss eines seiner herrlichen Trostworte zurufen würde, damit ich gestärkt ins neue Jahr gehen könnte. Etwa das Wort: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." Oder: „Mit ewiger Treue will ich mich dein erbarmen" - oder sonst eins aus der Fülle seiner herrlichen Verheißungen. Voll heiliger Spannung zog ich mein Wort. Und las. Und stutzte. Und wurde sehr traurig. Nein, das war kein Wort für mich. Sprach denn mein Herr nicht mehr mit mir? Was sollte ich mit diesem Wort anfangen: „Haltet fest an der Demut"? Ach, ich war doch nicht hochmütig. Ich war doch zerbrochen. Ich war doch schon gedemütigt. Jetzt brauchte ich etwas anderes.
Aber dann hat mich dies scheinbar „unpassende" Wort ins Jahr begleitet und ist mir zu einer ganz großen Hilfe geworden. Es hat mir immer wieder gezeigt, woran es bei mir fehlt: an der Demut. In allen Anfechtungen stand dies Wort auf --und zeigte mir meinen Weg. Im Umgang mit mir so schwierigen Menschen fand ich durch dies Wort einen Zugang zu ihren Herzen. In jedem Ärger leuchtete plötzlich dies Wort auf: Demut! Und dann entdeckte ich: Für einen wirklich Demütigen war kein Grund zum Ärger vorhanden. Ich sah ein, dass der Ärger von dem „Argen", dem Teufel, veranlasst wird, und begann, bei jedem Ärger zu untersuchen: Wo hat jetzt in deinem Herzen der Teufel sein Werk? Und siehe, es zeigte sich immer wieder: Es fehlt nur an der Demut. O ja, ich lernte es im Laufe des Jahres, wie passend gerade dies Wort für mich gewesen war: „Haltet fest an der Demut."
Das ist schwer! Wir möchten noch etwas gelten; es lernt sich so schlecht, dieses Demütigsein.
Soll ich Euch einen guten Rat geben? „Seht auf ihn, aller Welt Enden, so werdet ihr errettet." Er, das ist der Sohn Gottes, der in der Herrlichkeit des Vaters daheim war, „er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an". Freiwillig, um unsertwillen, wurde er gering. Durch ihn, der von sich sagen konnte: „Ich bin von Herzen demütig", können wir nun errettet werden - auch von unserem eigenen, hochmütigen Herzen.
„Den Demütigen gibt er Gnade." „Und es wird keine Nacht da sein"
Wir waren zu unserem sterbenden Kind gerufen worden. Unser süßer zweijähriger Liebling - da lag er schwer röchelnd und rang nach Luft. Vergeblich hatten Arzt und Schwestern versucht, mit dem Sauerstoffapparat die Not zu erleichtern. „Es ist letzte höchste Not", so wandte sich der Arzt an uns, die wir wie gelähmt am Bettchen standen, „erlauben Sie, dass ich einen Luftröhrenschnitt mache. Vielleicht ist's noch nicht zu spät." - Was blieb uns anderes übrig? Wir wurden zum Warten in ein kleines Zimmer gewiesen. Grausig klang es durch die Nacht, wie der Karren mit dem kranken Kind über das holprige Pflaster gefahren wurde zur chirurgischen Abteilung. Dann war Stille. Und um und in uns Nacht!
Ich holte mein Testamentchen aus der Tasche, um über dem Lesen etwas stille zu werden. Ja, wo war ich stehen geblieben in meiner Bibellektüre heute Morgen? Ach ja, es fiel mir ein: Offenbarung 21. Mein Blick überflog noch einmal die letzten Verse dieses herrlichen Kapitels mit der überwältigenden Schilderung des neuen Jerusalems: „... da wird keine Nacht sein ..." Voll Sehnsucht nach Licht las ich weiter das Kapitel 22. Und stutzte. Da stand ja dasselbe: „...und es wird keine Nacht da sein." Noch nie zuvor hatte ich auf dies Sätzlein geachtet. Jetzt, in dem Dunkel und Grauen dieser schweren Nacht, schloss es mir die Türe auf zu jener Welt voll Licht, wo Gott selbst die Sonne sein wird.
Mein lieber Leser, der Du vielleicht auch in Not und Nacht schmachtest oder - wie wir damals - sogar im Schatten des Todes sitzest, willst Du Dir nicht auch diese Stelle der Offenbarung anstreichen? Einmal wird alles im Licht liegen, einmal wird alle Dunkelheit weichen müssen, und „es wird keine Nacht da sein".
„Lobe den Herrn, meine Seele ..."
Weit zurück in die Kinderzeit reichen die Erinnerungen an dies Psalmwort.
Ich sehe uns Kinder um das Bett des Vaters stehen. jedes Jahr zum Geburtstag fand da schon in aller Morgenfrühe die Gratulationscour statt. Tagelang vorher hatte man gelernt - je nach dem Alter abgestuft etwas Leichteres oder Schwereres. Das Kleinste brachte ein Sträußchen Schneeglöckchen mit dem Vers: „Wenn die Blumen dann verblühen, sollst du dich an mir noch freun." Das nächst Größere bot den Kuchen an: „So nimm nun das Messer und schneide ihn an, ich halte die Schüssel, so gut ich kann. Ich esse so gerne Kuchen... Ein Liedervers aus dem Gesangbuch folgte beim nächsten Kind, dann ein kurzer Psalm, etwa der vom guten Hirten, und schließlich - als Glanzleistung für diese festliche Stunde - blieb mir, der Größten, der 103. Psalm: „Lobe den Herrn, meine Seele..." Ganz tapfer fing ich an, bewundernd standen die Kleinen, wie ich sicher eine Zeile um die andere hersagte - bis an die letzten Verse. Da gab's dann eine kleine Verwirrung, wenn die Menge der Lobenden aufgezählt werden sollte, und manch einmal hat das Geburtstagskind selbst zurecht helfen müssen, die Engel und die Diener und die Helden in die richtige Reihenfolge zu bringen, bis ich aufatmend schließen konnte mit der Mahnung: „Lobe den Herrn, meine Seele!"
An den Höhepunkten meines Lebens hat immer wieder mein Herz gejubelt mit den Worten des 103. Psalms: „Lobe den Herrn, meine Seele..."
Jedes Mal, wenn Gott uns ein gesundes Kindlein geschenkt hatte, wenn auf einmal alle monatelange Sorge und Not abgefallen war und man wie hach einem Durchzug durch tiefe Wasser nun dankbar am andern Ufer stand, hat mein Mann mir diesen Psalm vorgelesen. Wie klang da jeder Satz in meinem Herzen wider! „Vergiss nicht, was er dir Gutes getan!" - konnte es etwas Größeres geben als das Geschenk eines gesunden Kindleins und das spürbare Erwachen neuer Kräfte? Der Inhalt des Psalms fasste sich für mich in jenen frohen Stunden zusammen in dem Liedervers: „Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet, / der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet. / In wie viel Not / hat nicht der gnädige Gott 1 über dir Flügel gebreitet!"
Jahre sind darüber hingegangen, bis mir das Verständnis aufgegangen ist für den eigentlichen, noch viel größeren Inhalt dieses Psalms. Der Glaube hatte manch eine Feuerprobe zu bestehen gehabt. Im Lichte Gottes hatte ich gelernt, an allem eigenen Können zu verzweifeln, ganz arm und leer war ich geworden. Unter der Last meiner Sünde war das große Verlangen nach Vergebung erwacht - da hatte ich das Kreuz des Heilandes aufgerichtet gesehen, und mir war geholfen. Nun las ich mit ganz neuem Blick den 103. Psalm und konnte nur staunen und anbeten, dass es von diesem Herrn heißt: „Der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit."
Wie sollte ich vergessen, 'was er mir Gutes getan hat! Ober seinem wunderbaren Führen und über den inneren Segnungen wird der Mund täglich fröhlich gemacht - bis einst in der Vollendung das „Lobe den Herrn, meine Seele" sich mischen wird in den herrlichen Lobgesang aller seiner Diener und Engel und Helden.
Jedes Mal, wenn diese Bemerkung - meist mit einer leisen Geringschätzung
in der Stimme -- gemacht wird, werde ich ein bisschen traurig. „Nur" alte
Frauen saßen in der Kirche - in den Verein kommen „nur" alte Frauen - für
die Blättermission haben sich „nur" alte Frauen gemeldet, so hören wir's
oft unter Christenleuten, und vielleicht haben wir auch selbst schon ähnlich
gesprochen. Manchmal hat man in der Kirche den Eindruck, als wäre ein einziger
Mann soviel wert wie zehn alte Frauen und als müsste jede Frau, wenn sie älter
wird, sich schämen, auch in diese wenig geachtete Gruppe von alten Frauen eingereiht
zu werden.
Vielleicht ist es uns nötig, dass wir uns einmal an das Wort des
Apostels aus dem 1. Korintherbrief erinnern: "...das Unedle vor der Welt
(auch vor der Christenwelt!) und das Verachtete hat Gott erwählt, und das da
nichts ist..." So könnte es ja wohl sein, dass gerade alte Frauen, die ein
Eigentum des Herrn sind und in ihrem Leben Ernst gemacht haben mit seiner
Nachfolge, Gottes erwählte Lieblinge sind. Jedenfalls sind mir in meinem Leben
hier und da solche Persönlichkeiten begegnet, bei denen ich stark unter diesem
Eindruck gestanden habe und von denen ich gern zur Ehrenrettung der alten
Frauen erzählen möchte.
Da steht zunächst vor meinem Geist die alte Mutter Spilker
in meinem westfälischen Heimatdorf. Sie war eine durch Leid gereifte „Mutter in
Christo" mit einem still gewordenen Herzen und einer großen göttlichen
Weisheit.
Wenn der junge Pastor in dem bunten Vielerlei seines neuen Amtslebens sich nach ein wenig Stille sehnte, wenn ihn
eigener Kummer drückte oder wenn er in schwierigen Lagen einen geistlichen Rat
brauchte - so machte er ihr einen Krankenbesuch und ging niemals anders als
gestärkt und erquickt fort von ihr.
Auf seine Veranlassung hin sind wir mit einem Kreis fröhlicher junger
Menschen an jenem Maimorgen, unserm Hochzeitstag, durch die blühende Welt zu
ihrem Sterbelager gewandert und haben ihr ein Ewigkeitslied gesungen. Es war
merkwürdig, dass uns das gar nicht unpassend vorkam, sondern dass dies Teilnehmendürfen an ihrem Heimgehen unserm Festtag von
vornherein den rechten Glanz gab.
Und so gehört diese liebe alte Mutter in Christo hinein in den Bericht
von dem hohen Fest der Liebe, den der junge Pastor in Reimen verfasste und wo
er von ihr schreibt: „Einsam liegt in ihrer Kammer / Mutter Spilker,
hoch betagt. / Oft hat sie mich aufgerichtet, / manches gute Wort gesagt. /
Sie, die schwer und lange krankte, / lernte, in Geduld sich fassen, / doch ihr
sehnend Herz verlangte / nach den hellen, goldnen Gassen."
Die alte Mutter Bolz war keine Durchschnittschristin. Sie war sogar
zuzeiten eine umstrittene Persönlichkeit in der Gemeinde. Man nannte sie wohl
unnüchtern und meinte, sie ginge zu weit in ihrem Eifer. Aber in ihrem
zerbrechlichen Körper wohnte eine Feuerseele, und sie wurde getrieben von einer
nie erlahmenden Liebesglut für die Sache des Herrn.
Noch sehe ich sie bei ihrem letzten Besuch in unserm Hause. Ich wusste,
dass sie an Krebs im weit vorgeschrittenen Stadium litt, und war erstaunt, dass
sie sich überhaupt noch hatte herschleppen können. Ihr Gesicht war unheimlich
bleich, Schweißtropfen des Elends standen auf der Stirn, aber die Augen
strahlten. Glücklich berichtete sie mir davon, wie die Kinder der Straße so
gern zu ihr kämen und sich biblische Geschichten erzählen ließen, wie sie so fröhlich
mit ihr sängen: „Gott ist die Liebe!"
Sie sprach mit Leidenschaft davon, dass die Sache des Herrn
vorwärtsgetrieben werden müsste, und kam dann zu ihrem eigentlichen Anliegen -
leider weiß ich heute nicht mehr genau, worum es sich im Einzelnen handelte.
Aber es ging um Menschenseelen, die gewonnen werden müssten.
Als sie dann erschöpft schwieg, trieb es mich, sie nach ihrem Befinden
zu fragen: „Mutter Bolz, haben Sie denn noch Kraft, wie geht es Ihnen mit Ihrer
schweren Krankheit?" Worauf sie nur abwehrend mit der Hand winkte und -
wie ungeduldig - antwortete: „Was geht mich mein Krebs an!"
Wenn ich an sie denke, fällt mir jedes Mal das große Wort eines alten
Gottesmannes ein: „Täglich meinem Ich zu sterben, / Seelen für das Lamm zu
werben, / ist mein Beruf."
Sie war nur eine „angeheiratete Tante", und doch auch meine
geliebte Tante Pauline. Als mein Bräutigam mich zum ersten Male zu dieser
seiner alten Patentante brachte, hatte ich das Gefühl, dass ihre klugen, lieben
Augen mich bis auf den Grund meiner Seele durchschauten. Ach ja, sie kannte die
Menschen - und liebte sie. Das ist etwas ganz Seltenes und Großes, was nicht
aus unserm eigenen liebenden Gemüt wächst, sondern ein Geschenk Gottes ist, der
uns „zuerst geliebt" hat. Sie war - so hat sie uns selbst erzählt - früher
ein ausgesprochen schwieriges Kind gewesen. Was hat der Geist Gottes daraus
gemacht!
An zwei kleinen Erlebnissen wurde mir ihr liebendes Dienen groß:
Sie war eine tüchtige Hausfrau und kochte mit Sorgfalt lauter Festessen
für ihre vielen Feriengäste. Besonders gut schmeckten mir die jungen Erbsen -
was kein Wunder ist! -, und das habe ich ihr auch erzählt. Bei meinem Besuch im
Jahre darauf führte sie mich in ihr Gärtchen. Da hatte sie eine Rabatte Erbsen
mehr gepflanzt als sonst, damit sie mir oft mein Lieblingsgericht kochen könne,
falls ich im Sommer da sei. Und ich war doch nur ihre angeheiratete Nichte!
Eins meiner Kinder lag in den Ferien mit schwerer Diphtherie dar nieder.
Bei meiner Pflege stand mir Tante Pauline mit ihrem guten Rat zur Seite. Als
sie einmal nach der Kranken guckte, wurde die so sehr geplagt von einer Fliege,
die ihr immer in den röchelnden, weit geöffneten Mund flog. Mir tat mein Kind
so leid, aber ich konnte ihm nicht helfen. Doch Tante Pauline - fing kurz entschlossen
die Fliege aus dem Mund der gequälten Kranken. Da habe ich gedacht: Wenn einmal
in der Ewigkeit die Werke nachfolgen, will ich mich melden und diesen ihren
Liebesdienst rühmen.
Die alte Frau Zander hatte mir in meinen jungen Ehejahren viel Liebes
und Gutes getan. So fühlte ich mich verpflichtet, sie einmal in ihrem
Altenstübchen in Bethel zu besuchen.
Beim ersten Anblick stellte ich fest: 0, wie ist sie alt geworden,
eigentlich nur noch ein Schatten von einst! Aber dieselbe Güte leuchtete aus
ihren Augen. Sie erkannte mich gleich und strahlte vor Freude. Von allen lieben
Menschen musste ich nun erzählen, vom Leben der Christenheit in der
Heimatstadt, von den groß gewordenen Kindern - sie wurde nicht müde, zuzuhören
und zu fragen. Dazwischen berichtete sie selbst von alten Erinnerungen. Aber
das war fast etwas quälend, denn immer wieder stockte sie dazwischen, weil ihr
die Gedanken fortblieben. Und voll Mitleid dachte ich: Wie schrecklich ist das
Altwerden, wenn die Arterienverkalkung so zunimmt. Welche Not!
Zum Schluss beteten wir noch miteinander. Da wandelte sich mein Mitleid
in großes Staunen. Nicht ihre eigene Not, nicht den kleinen Alltag, nicht die
Sorgen ihrer Lieben brachte sie dem Herrn, nein, sie bat ihn: „Ach, Herr,
schenk doch auf unsere theologischen Lehrstühle Professoren voll Heiligen
Geistes, die die jungen Studenten nicht verwirren, sondern sie ausrüsten dazu,
einmal rechte Diener am Wort zu werden!"
Wenn eine unserer Tanten von vornehmen Freunden sprach, pflegte sie
abschließend zu erklären: „Ja, Herrschaft bleibt Herrschaft!" Dieser Satz
fällt mir immer ein, wenn ich an mein verehrtes Fräulein von C. denke. Sie ist
mit ihren 94 Jahren jetzt elend und kümmerlich, aber nie verliert sie die Haltung.
Sie entstammt einer alten Offiziers-Familie, und es war mir interessant, wie
sie von ihrer Erziehung im Auguste-Viktoria-Stift in Potsdam sprach, von der
Konfirmation in Anwesenheit der Kaiserin, wie sie Hofknickse machen lernten und
unterwiesen wurden, wen man mit „Durchlaucht" anreden müsse, wogegen sie
Englisch- und Französisch-Lernen nicht für wichtig erachteten. Nun ist sie
Sozialhilfe-Empfängerin.
Ich besuchte sie einmal im Krankenhaus in einem Acht-Betten-Zimmer.
Intensiv lesend schien sie von dem Krankenhaus-Betrieb um sich herum keine
Notiz zu nehmen. Dass ihre Schwerhörigkeit immer mehr zunahm, tat sie mit Humor
ab: „Mein Ohrenarzt meinte, es wird so viel dummes Zeug geschwätzt, da ist's
ganz gut, wenn man nichts davon versteht." Mit andern schlichten Frauen
zusammen wird sie nun in einem christlichen Altenheim betreut, was sie dankbar
annimmt. Aber es umgibt sie immer noch eine gewisse Würde, und in dem elenden
Körper lebt noch ein Feuergeist.
„Haben Sie gehört von der Entschließung in X, haben Sie das gelesen, was
zu dem Thema Y gesagt wurde, haben Sie noch Hoffnung für unsere Kirche und vor
allem für unsere Jugend?" -- so bedrängt sie mich mit Fragen. Und erzählt
originell: „Die lieben Schwestern sagen immer, ich soll mich nicht so aufregen,
es ist die letzte Zeit, der Herr kommt wieder. Aber bis dahin muss ich mich
doch aufregen über alle Probleme der Kirche und des Reiches Gottes!"
Die Besuche bei der alten Oma Kipp waren immer ein Fest für mich. Mit
ihrer lieben Stimme und dem Strahlen ihrer warmen Augen begrüßte sie mich, ich
musste mich an ihr Bett setzen, und dann ging's ans Erzählen -- von alten
Zeiten im Frauenverein und den schönen Festen mit Schwester Luise, von ihrem
Mann und seinem aufrechten Christenstand, von den Abenteuern ihrer
Evakuierungszeit und allem wunderbaren Führen Gottes... Wir sprachen zusammen
die lieben alten Kirchen- und Gemeinschaftslieder, und bevor sie mich segnend
entließ, durfte ich noch mit ihr beten.
Dabei ereignete es sich einmal, dass, kurz vor diesem Abschluss ihr Arzt
erschien, der sie als seine Star-Patientin rühmte und sich selbstverständlich
für die Hauptperson hielt. Aber bestimmt und lieb erklärte Oma Kipp: „Herr
Doktor, Sie haben ja gewiss viel zu tun und wenig Zeit; aber jetzt setzen Sie
sich erst mal still hier auf den Stuhl, wir wollen jetzt miteinander
beten." Und weil die alte Frau das in so großer Freiheit sagte, gewann
auch ich den Mut dazu.
Ihr hundertster Geburtstag wurde natürlich gebührend gefeiert mit viel
Grüßen, Blumen und Besuchen. Auch der Essener Oberbürgermeister gratulierte
ihr. Unvergesslich ist allen Anwesenden das Gespräch geblieben: „Herr
Oberbürgermeister, was haben Sie für ein großes Amt mit so viel
Verantwortung!" „ja", bestätigt er und nickt dazu nachdenklich. „Herr
Oberbürgermeister, haben Sie denn auch jemand, der für Sie betet?" „Das
weiß ich nicht", antwortet er bewegt. „Herr Oberbürgermeister, ich bete
jeden Tag für Sie."
Noch fange möchte ich fortfahren und von alten. Frauen berichten, für
deren Dienst wir Gott täglich danken und um deren Leben wir den Herrn immer
wieder anflehen, weil wir sie noch nicht entbehren können, die einen großen
Reichtum bedeuten für die christliche Gemeinde.
„Fleißige Menschen fand ich viel in Deutschland, stille Menschen -
wenig" - erklärte uns neulich ein Ausländer. Wie sollten wir nicht froh
sein an all den stille gewordenen alten Frauen, bei denen wir ruhen und abladen
dürfen, weil sie alles in einem feinen Herzen bewegen, wie sollte uns ihr Leben
nicht anreizen zum Mittun, ihr Eifer uns nicht anstecken zum Dienst, ihr großer
Reichsgottesblick uns nicht beschämen!
Gott will nicht nur alte Frauen, Gott will nicht nur die Jugend. Es soll
so sein in der Christenheit, wie der Psalm 148 es ausspricht: „Alte mit den
Jungen, die sollen loben den Namen des Herrn!"
Es gibt wohl kaum einen Menschen, der die Geschichte von der
Kindersegnung nicht schon viele Male gehört hat und sie vielleicht sogar
auswendig kennt. Dieser Bericht von dem Freund der Kinder erscheint uns immer besonders
lieblich; aber er enthält auch ein bitterernstes Wort des Meisters an seine
Jünger: „Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein
Kindlein, der wird nicht hineinkommen." Haben wir diese Mahnung wirklich
ganz wichtig genommen?
„Als ein Kindlein" oder, wie Jesus an anderer Stelle sagt: „So ihr
nicht werdet wie die Kinder" - ach, wer hat sich überhaupt schon die Mühe
gegeben zu überlegen, was das bedeutet! Kennen wir die Kinder? Ich glaube, es
ist eine besondere Gnade Gottes für Kindermütter, dass uns das geschenkt wird.
Vielleicht ist deshalb gerade uns aus unserer Erfahrung heraus der Dienst
aufgetragen, den andern zum Verständnis dieses Heilandswortes zu helfen: „So
ihr nicht werdet wie die Kinder..."
Die Kinder haben Gaben, die uns großen Leuten abhanden gekommen sind.
Wir sind so abgebrüht, so aufgeklärt, wir meinen, alles ableiten zu können aus
den Gesetzen von Ursache und Wirkung. Wir haben uns daran gewöhnt, einfach
Kenntnis zu nehmen von den Dingen. Aber die Kinder! Die können sich noch
freuen, die haben noch einen Sinn für das Wunderbare, und die finden in den
Dingen des Alltags noch mannigfach Grund zum Staunen.
Grau in grau liegt die Großstadt, sie geht unter in Wasser. Seit dem
frühen Morgen gießt es in Strömen. Die Erwachsenen seufzen, das Wetter legt
sich ihnen aufs Gemüt. Die Kinder dagegen finden immer neue Möglichkeiten, sich
zu beschäftigen, und genießen die Wonnen eines Regentages im Hause.
Doch am späten Nachmittag lässt der Regen nach. Unter großem Jubel zieht
die kleine Gesellschaft nach draußen, angetan mit Gummischuhen, und - staunt!
Und ist entzückt und begeistert. Der Größte, ein fünfjähriger Bub, fasst das,
was alle bewegt, was alle in bewunderndes Staunen versetzt, in echtem Straßendeutsch
zusammen in den Ausruf: „O, wie is den Trottoir
sauber von Regen! Die Straße is ja wie besessen
schön!"
An einem schönen Sonnentag gibt es ein großes Familienfest, einen Besuch
im Zoo. Nur wer Kinder kennt, kann sich eine Vorstellung machen von der
rasenden Begeisterung dort. Über die schreienden Papageien, die sich in ihren
Ringen schaukeln, über die Seehunde, die bei der Fütterung so geschickt die
Fische auffangen, über das Lama, das so gern spuckt, über den Braunbär, der in
gewaltiger Größe sich auf die Hinterbeine stellt, gibt es ein Staunen und
Bewundern und Freuen, dass die kleinen Herzen es kaum verkraften können. Aber
das Schauerlichste, Größte und Wunderbarste sind doch die Löwen. Wie dieser
König der Tiere die Kinder anblickt, überfällt sie ein Schauer vor solcher
Gewalt und Größe.
Abends im Bett klingt noch einmal alles Erlebte in den Abendgebeten aus.
Sie danken, dass es so schön war. Die Jüngste kann es am besten ausdrücken, was
alle so mit Staunen und Verwunderung erfüllt hat: „O, lieber Heiland, was hast
du für wunderbare Tiere geschaffen! Und die Löwen, dass du die geschaffen hast!
Und dass die dich nicht aufgefressen haben, wo du die geschaffen hast!" -
Ja, sie können sich noch verwundern. Gott schenke uns großen Leuten auch
solchen Kindersinn! Haben wir nicht täglich Grund zum Staunen und anbetenden
Verwundern? Als der Heiland in die Welt kam, heißt es in der
Weihnachtsgeschichte: „Sie verwunderten sich." Und immer wieder findet
sich im Evangelium dieser Satz: „Sie wunderten sich." Es stimmt etwas
nicht in unserm Leben, wenn wir dies Wundern nicht kennen. Hat doch Gott
verheißen: „Sie werden sich verwundern und entsetzen über all dem Guten und
über all dem Frieden, den ich ihnen geben will."
„Kindliches Vertrauen", diese beiden Wörter sind in unserem
Sprachschatz zu einem Begriff verschmolzen. Gemeint ist eben damit das
felsenfeste Vertrauen der Kleinen, dass die großen Leute alles Gute können und
alles Gute wollen und dass dies erst recht vom himmlischen Vater erwartet werden
darf.
Es ist Kirschenzeit in einem besonders guten Kirschenjahr. So genehmigte
die Mutter den Kindern, dass jedes sich nach dem Mittagessen rundum satt essen
darf an dem sehr beliebten Obst. Welch ein Fest! Als nun aber die Mutter die
kleine Herde zum Mittagsschlaf antreibt, sieht sie mit Entsetzen, wie der Bub
an den Wasserkran rennt und in hastigen Zügen ein großes Glas Wasser in den
vollen "Kirschenmagen" hinunterstürzt. Ihr erschrockenes „Halt!"
kommt zu spät. „Daran kann man sterben", erklärt sie, zitternd vor
Schrecken. Bestürzt stehen die Kinder, entsetzt, dass der schreckliche Tod
ihnen so nahe rückt. Da bleibt nur eins: Man muss beten, dass der Heiland
hilft. So ernsthaft ist es noch selten geschehen. Voll gruseliger Spannung
warten alle den Mittagsschlaf ab. Beglückt und selig nehmen sie später zur
Kenntnis, dass der Heiland geholfen hat.
Ein paar Tage später ist die Mutter gerade im Garten beschäftigt. Da
kommt ihr kleines Schulmädel angerannt mit der Freundin, von weitem schon sieht
man den beiden die Erregung an. „Mama, Inge hat Kirschen gegessen und am
Brunnen Wasser getrunken. Nun muss sie sterben, wenn der Heiland nicht hilft.
Aber Inges Mutter kann nicht beten. Darum sind wir schnell her gerannt, dass du
mit uns betest!" Das geschah dann zwischen den Büschen des Gartens, und
der Herr schenkte auch diesem Gebet des Vertrauens die Erhörung.
Die Kinder haben meist sehr vertrauten Umgang mit ihrem „lieben
Heiland", für sie besteht die Kluft Gott-Mensch nicht, sie legen ihm all
ihre großen und kleinen Nöte ans Herz, „wie die lieben Kindlein ihren lieben
Vater bitten".
Als das Brüderlein Masern hat, betet das Schwesterlein: „Lieber Heiland,
mach doch Männlein seine Krömmel vom Bäuchlein wieder
weg."
Vor dem Wochenbett der Mutter gehört zum täglichen Abendgebet: „Lieber
Heiland, gib doch, dass die Mama nicht stirbt und das Geschwisterlein
nicht stirbt."
Als die Mutter von der Verwandten erzählt hat, die so kleine zarte
Zwillinge bekam, legen sie dem Herrn diese Sorge hin: „Lieber Heiland, lass
doch die Zwerge wachsen!"
In ihnen lebt ein starkes Vertrauen, dass er mit allem Schwierigen, auch
mit ihnen selber, fertig wird: „Lieber Heiland, hilf, dass ich nicht so 'nen bösen Geist habe." - „Lass mich doch kein Neidhämmele sein." - „Gib, dass ich nicht immer
naschen muss..."
Auch alle Freuden nehmen sie dankbar und fröhlich aus seiner Hand:
„Danke schön, lieber Heiland, dass wir so'n
gemütliches Bett haben" - „dass morgen Sonntag ist" - „dass der Papa
mit uns gespielt hat" - „dass Onkel Albrecht seine Kuh wieder besser
geworden ist" - „dass Advent jetzt vorbei ist und Weihnachten kommt"
- „danke schön für den schönen Geburtstag, da hast du feste
mitgeholfen..."
Bekommen wir komplizierten, gehemmten großen Leute
nicht Sehnsucht nach diesem kindlichen Sinn? „Lass uns einfältig werden / und
vor dir hier auf Erden / wie Kinder fromm und fröhlich sein!"...
Die Großen sind alle in der Schule. Nur die Jüngste darf noch daheim
sein, der Mutter helfen beim Staubputzen, Einkäufe machen mit dem Körbchen und
dem Geld, das sie eingewickelt krampfhaft in der kleinen Hand hält. Sie ist
Mutters Begleiterin auf den Markt, im Übrigen immer das „Zwitscherlein",
weil sie nicht müde wird zu singen.
Aber dann kommt eine Zeit, da fehlt ihr was. Es ist, als ließe sie den
Kopf hängen und könnte nicht mehr richtig fröhlich sein. Sie „steht so
rum", als wüsste sie mit sich und der Welt nichts Rechtes anzufangen.
Eines Morgens findet der Vater seine kleine Tochter allein im großen Treppenhaus.
Er spürt: In ihr sitzt irgendein Kummer, und mitleidig fragt er: „Was hast du
denn?" Worauf der ganze Jammer wie eine Flut herausbricht:
„Ich will zu Kinderlein." Ach, du armes Kind!
Ohne lange zu überlegen, nimmt der Vater seine kleine Tochter an die Hand, bringt
sie in den benachbarten Kindergarten, und schon eine kurze Weile drauf
erschallt ihr fröhliches Lachen von drüben, wo sie singt und spielt mit „Kinderlein".
Wissen wir großen Leute, die wir uns so oft selbst genug sind, etwas von
dem gewaltigen Verfangen nach der Gemeinschaft? Heißt’s
bei uns auch: ich will zu den andern Kindern Gottes!? Mit ihnen will ich
singen, mit ihnen zusammen arbeiten, mit ihnen mich freuen!
„Schenk mir doch ein Ja-sage-Herz!"
Für alle schweren Zeiten meines Lebens habe ich auch von einem Kinde
eine Lektion empfangen, die ich gern all denen weitergeben möchte, die von Gott
dunkle Wege geführt werden.
Sie ist ein herziges Kind, unsere Kleine. Man muss sie einfach lieb haben
mit ihrer fröhlichen, sonnigen Art. Wenn jemand ihr etwas schenkt, kann sie
sich so freuen und mit solch einem strahlenden Gesicht ihr Knickschen machen
und mit solch überzeugender Inbrunst sagen: „Vielen Dank!", dass jeder ihr
am liebsten noch gleich etwas dazuschenken möchte. Sie ist der Sonnenschein des
Hauses.
Darum bin ich sehr erstaunt, als die kleine Fünfjährige eines Tages
schlechter Laune ist. Ganz verdreht muss sie aufgestanden sein. Sie „reagiert
sauer" auf alles, was ich ihr sage, scheint das Wörtchen „ja" gar
nicht zu kennen. Wenn ich sie um einen kleinen Dienst bitte, antwortet sie
darauf mit einem breiten, lang gezogenen „Nää".
„Töchterlein, hol doch mal ein Pfund Salz!" „Nää!"
- „Es hat geklingelt, mach doch bitte die Tür auf!" „Nää!"
- „Ach, bist du eigentlich gar nicht mehr meine kleine liebe Tochter?" „Nää!"
Schließlich geht mir die Geduld aus, und ich erkläre ihr: „Hör mal, das
verbitte ich mir, den ganzen Tag lang von dir immer dies verkehrte
,Nää' als Antwort zu kriegen!" Die Kleine
wird nachdenklich. Sie erklärt nichts weiter darauf. Es erfolgt auch weder eine
Liebesbeteuerung noch ein energisches Versprechen, jetzt immer lieb „ja"
zu sagen. Ich lasse sie in Ruhe, und über den mancherlei Ereignissen des Tages
habe ich bis zum Abend die Angelegenheit vergessen.
Um so erstaunter bin ich, dass die Kleine damit nicht fertig geworden ist.
Beim Abendgebet spüre ich ihr eine innere Erregung an. Ganz flehentlich - so
hörte ich es noch nie von ihr - bittet sie: „Lieber Heiland, schenk mir doch
ein 1a-sage-Herz!"
Noch lange habe ich an dem Abend darüber nachdenken müssen. Was war
eigentlich das Besondere daran? Doch wohl dies: dass die Kleine überzeugt war
von der eigenen Schwäche, dass auch ihr guter Wille nicht genüge, wenn das Herz
revoltiert, aber dass sie Gott zutraute, dass er ein anderes Herz schenken
kann. Was wir Großen so schlecht lernen, das Kind hatte es begriffen, dass man
sich nicht selber ändern kann, dass wir nicht einfach mit kühnem Entschluss
„ja" sagen können, wenn Gottes Wille unsern Wünschen nicht entspricht und
wir uns innerlich wehren und „nein" sagen möchten. „Herr, schenk uns ein Ja-sage-Herz, dass unsern Augen deine Wege wohl gefallen"
- dies Gebet erhört der Herr, und uns ist geholfen.
Es ist wohl so, dass wir Menschen unserer Zeit durch besonders viel dunkle Täler haben wandern müssen. Auch die Kinder. Wie
sie darin getrost sein konnten, das dürfen wir von ihnen lernen.
Noch heute muss ich lachen, wenn ich an das lustige Dreigespann denke:
Renate, kurz und dick mit rundem Gesicht, roten Backen und blonden Zöpfen, so
recht wie ein Mädchen vom Lande. Daneben ihre Freundin Paula-Luise - bis zum
Schuleintritt nannte man sie Paula, später hieß sie Luise -, ein zierliches
Großstadtpüppchen mit gedrehten Löckchen und immer etwas zu kurzen Kleidern.
Und Jochen, das kleine Hupferle mit krummen Beinen, spindeldürr, stets lachend
hinter den zwei Mädchen herwuselnd. Sie gehörten unzertrennlich zusammen, und
wenn die beiden andern auch nicht evangelisch waren, so zogen sie doch als
getreue Freunde jeden Sonntagmorgen um 11 Uhr mit Renate in den
Kindergottesdienst.
Nun war's an einem Sonntag zu Beginn des Bombenkriegs, als sie sehr
angeregt heimkamen und berichteten, was sie gelernt hatten. Der Pastor hatte
das Wort besprochen aus Psalm 23: „Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte
ich kein Unglück, denn du bist bei mir" und dabei die Kinder gefragt, ob
sie denn so ein „dunkles Tal" kennten. Eins hatte geantwortet: „Das
Todestal." Aber damit hatte sich der Pastor nicht zufrieden gegeben und
gemeint, die Kinder sollten mal ein dunkles Tal in ihrem jetzigen Leben nennen.
Schließlich hatte ein Kind eine gute Antwort gegeben: „Wenn abends die Bomben
fallen und wir solche Angst haben." Daraufhin hatten alle das Psalmwort
gelernt, und dann hatte der Pastor mit ihnen ausgemacht, dass sie dran denken
sollten, wenn sie Angst vor Bomben hätten.
An demselben Abend ertönten die Alarmsirenen. Am Anfang des Krieges
regte uns das noch nicht sehr auf. Irgendwo in der Gegend fielen ein paar
kleine Bomben. Frierend in ihrem Nachthemdchen und weinend stand Renate auf der
Treppe: „Ich hab sooo Angst!" Der Vater nimmt
sie auf den Arm und erinnert daran, was sie morgens gelernt hatte: „Ob ich
schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei
mir!" - „Ach, da hab ich gar nicht dran gedacht", gibt die Kleine zu,
schämt sich und lässt sich bald beruhigt wieder ins Bett bringen.
Am nächsten Morgen ist alles vergessen. Jedes geht seinem Tagewerk nach.
Da wird auf einmal die Tür aufgerissen, herein stürmt das Dreigespann, zuerst
aufgeregt Renate, hinter ihr Luise, am Schluss mit seinen O-Beinen eiligst
stelzend der Jochen: „Mama, Mama, Luise hat dran gedacht!" Ich versuche,
so schnell wie möglich aus meinen Gedankengängen umzuschalten auf das Erleben
der Kinder. „Wo hat Luise ‚dran gedacht'?" „Aber Mama, Luise hat doch dran
gedacht!" „Luise, erzähl mal, du hast dran gedacht?" Und strahlend
berichtet nun Luise: „1a, als gestern Abend die Bomben fielen, da hatten wir
alle solche Angst. Und unsere Mutter hatte auch solche Angst. Und da habe ich
einfach ganz laut gesagt: ‚Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich
kein Unglück, denn du bist bei mir.' Und da haben wir alle keine Angst mehr
gehabt."
Ach ja, es ist etwas Herrliches um die trostreiche Nähe des guten Hirten
in den dunklen Tälern des Lebens. Aber wie oft gleichen wir der kleinen Renate
und vergessen seine herrlichen Verheißungen und quälen und ängstigen uns, weil
wir nur auf das Dunkel der Täler sehen. Gott schenke es uns, dass wir dankbar
bekennen dürfen wie die kleine Luise: Ich habe „dran gedacht"!
Ob es uns in unserm Leben wohl schon einmal aufgegangen ist, dass für
die Liebe eine besondere Rechenkunst besteht, dass da das Zusammenzählen
manchmal nicht den Regeln von Adam Riese unterworfen ist?
Die kleine Elisabeth wächst in christlichem Hause auf. Schon früh hat
sie Geschichten vom lieben Heiland gehört. Sie hat ein reiches Gemüt und ein
Herz voll Liebe und übt sich darin, Freude zu machen mit draußen gerupften
Blümlein, ausgeschnittenen Bildchen, bunten Zeichnungen und ähnlichen
Raritäten, die für Kinder erreichbar sind und ihnen wertvoll erscheinen. Eines
Tages nun hat sie eine besonders gute Idee. Sie geht zum Vater und erklärt ihm
feierlich: „Vati, ich schenk dir mein halbes Herz." Der freut sich. Darauf
begibt sie sich zur Mutter: „Mutti, ich schenk dir mein halbes Herz!" Auch
die freut sich. Das macht nun der Kleinen Mut, Volksbeglücker zu spielen. So
klopft sie bei der Großmama an: „Oma, ich schenk dir mein halbes Herz." Der
Hausschneiderin schenkt sie ihr halbes Herz, der Hausgehilfin - bis der Vater
sich gedrungen fühlt, ihr klarzumachen, dass das so nicht geht: „Siehst du, Elisabethchen, jedes Herz hat nur zwei Hälften, und wenn
man zweimal sein halbes Herz verschenkt, dann hat man nichts mehr." Einen
Augenblick lang wird die Kleine unsicher, dann strahlt sie den Vater an, und in
voller Oberzeugung berichtigt sie ihn: „Nein, Vati, beim Herz-Verschenken ist
das nicht so. Da geht's wie bei der Speisung der Fünf-tausend: je mehr man
verteilt, desto mehr hat man!"
O du reiches Kind, wie recht hast du! Ist schon einmal jemand von uns
ärmer geworden dadurch, dass er gegeben hat? Warum sind wir so knauserig mit
unserer Liebe? Wir meinen, wir vergeben uns etwas, wenn wir Liebe erweisen, wo
sie nicht gewürdigt wird. Wir sprechen von Menschen, an die wir immer und immer
wieder Liebe gerückt haben, ohne dass das einen Sinn gehabt hätte. Einen
Ehemann hörte ich einmal sagen: „Schließlich haben wir Männer auch nur ein
gewisses Kontingent an Liebe; wenn die Frau mit ihrem unleidlichen Wesen das
aufgebraucht hat, ist eben nichts mehr da." - Wenn wir unser Herz mit der
rechten Heilandsliebe füllen lassen, dann können wir immer wieder unser Herz
verschenken. „Die Liebe Christi dringet uns also."
Vielleicht haben wir im Umgang mit den Kindern manchmal den Eindruck,
dass sie von dem eigentlichen Tun des Heilands noch wenig Ahnung haben. Aber
eine kleine Begebenheit hat mich einst eines Besseren belehrt:
Unsere Zweite ist ein stilles Kind. Sie steht immer etwas im Schatten
des älteren Bruders und hält scheint's nichts Großes von sich. In der Erziehung
macht sie uns keine Schwierigkeiten und ist wirklich ein liebes kleines
Mädchen. Darum bin ich sehr erstaunt, als sie mir eines Tages, etwas schüchtern
und geniert, beichtet: „Weißt du, Mama, abends, wenn ich im Bett liege, bin ich
oft so traurig, dass ich böse gewesen bin. Und - dann weine ich einfach zum
lieben Heiland, dann geht's wieder besser!"
So erlebte sie dasselbe, was unser aller herrlichste Erfahrung werden
darf und was der Psalmist rühmt mit den Worten: „Wohl dem, dem die
Übertretungen vergeben sind ... Ich sprach: Ich will dem Herrn meine
Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Missetat meiner Sünde."
Nur mit großer Scheu möchte ich nun noch erzählen von einem Kindergebet,
über das man vielleicht den Schleier breiten sollte, weil es an das
Allerheiligste und Zarteste im Leben eines Menschen rührt, an das innigste
Liebesverhältnis einer Kinderseele zu ihrem Heiland.
Es war eine jener schrecklichen Nächte, wo über unserer Stadt ein
Terrorangriff niederging. Nur wer das einmal miterlebt hat, kann sich eine
Vorstellung machen davon, durch welche Abgründe von Angst und Verzweiflung wir
in diesen Minuten gingen, wo die Hölle draußen tobte. Wir saßen ziemlich
ungeschützt in dem Keller unseres leichten Mäusleins.
Um das grausige Konzert mit seinen vielstimmigen Todesposaunen nicht so
Nerven aufpeitschend zu hören, hatten wir angefangen zu singen, so laut wir
konnten, eins von den kräftigen Trutz- und Glaubensliedern ums andere. Tapfer
machte die zitternde Kleine auf meinem Schoß mit, das Singen tat ihr sichtlich
gut, wie uns Großen auch.
Plötzlich wurde von der Gewalt des Luftdrucks unsere Luftschutztür
aufgerissen, der Kalk fiel von der Decke. Eine Weile waren wir still vor
Schrecken, bevor uns ein neues Lied einfiel und wir aufs neue
unsere Seelen Gott befohlen hatten. Da - hörte ich die Kleine ganz leise beten:
„Lieber Heiland, ach lieber Heiland, lass uns doch noch mal rauskommen, lass es
uns doch noch diesmal überstehen - -." Wer kennte von diesen Minuten her
nicht solch einen flehentlichen Hilfeschrei zu Gott!
Aber dann ging dies Gebet weiter. Mir bewegt es noch heute das Herz,
wenn ich daran zurückdenke, an diesen ganz leise, eindringlich geflüsterten
Satz: „Wenn du mich aber sterben lassen willst, lieber Heiland, dann bin ich
doch fröhlich, dass ich dich habe!"
Ob wohl ein alter Christenmensch es in seinem Leben weiterbringen kann
als dies Kind? Ist das nicht der letzte herrlichste Glaubensschritt aus der
Anfechtung heraus, wenn der Psalmist sagt: „Wenn ich nur dich habe, so frage
ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,
so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil" (Psalm
73).
O, dass wir würden „wie die Kinder"!
Selten hat es wohl solch einen glücklichen Familienvater gegeben. Jedes
Kindlein wurde mit strahlender Freude begrüßt. Den herrlichsten Fliederstrauß -
von solchem Format, wie er sonst nur den ganz großen Sängerinnen überreicht
wird - brachte er seiner geliebten Frau ans Bett. Um die müde Mutter zu
schonen, stand er selbst morgens um ½ 6 Uhr auf und machte die Fläschchen
fertig für das bereits fröhlich krähende Völklein.
Nicht ein strafendes Wort habe ich je von ihm gehört. Wir Normalpädagogen
standen staunend und leicht kritisch vor solch einer Erziehung in Liebe und
Freiheit. Und wie hat sie sich bewährt!
Neben seiner großen Arbeit als Bundeswart des West-deutschen
Jungmännerbundes/CVJM hatte er immer noch Zeit für die Familie. Er drehte einen
köstlichen Familienfilm und zeigte ihn bei all den wunderschönen Tauffesten den
staunenden Freunden und Verwandten.
In gewisser Dürftigkeit hatte der Ehestand angefangen werden müssen, und
jedes Einrichtungsstück, das dazukam, wurde als ein Wertstück betrachtet. Wie
freute er sich an dem großen, hellblau gemalten Schrank aus dem Erbe eines
alten komischen Fräuleins, mit den bunten Blumen und lustigen Vögeln darauf!
Dann kam der Krieg. Alles ihm so liebe Inventar fiel der Zerstörung
anheim. Der kostbare Familienfilm verbrannte. Der aus dem Kriege Heimkehrende
stand vor den Trümmern seines Hauses, doch hat man nie ein Wort der Klage
darüber gehört. Im Gegenteil! Dankbar holte er seine evakuierte Familie zurück
in die Notwohnung nach Witten, und sie, die sonst so verschwenderisch viel Raum
zum Leben gehabt hatte, musste nun zu sieben Leuten in 2 1/2 Räumen hausen. War
das ein Getümmel in der Wohnküche! Und hier sollten nun Predigten und Vorträge
vorbereitet werden! Der Hausvater aber half wieder allen zu der richtigen
Blickrichtung mit zwei Zeilen aus einem Pfingstlied, die er als Wandspruch über
den Herd hängte: „In dem rasenden Getümmel / schenk uns
Glaubensheiterkeit..."
In dieser Küche haben wir die Konfirmation des Ältesten gefeiert. Für
alle die lieben Gäste von früheren Festen war kein Platz mehr. Von der Decke
herunter tropfte es auf den Konfirmanden, doch mit fröhlicher Gebärde winkte
der Vater ihm, einfach ein wenig zur Seite zu rücken, und hielt dann eine
Tischrede über das Wort: „Der Herr denkt an uns."
Nach glücklichen Jahren kam das schwerste Leid. Gott nahm ihm seine
Frau. Diese Frau, die wie selten eine andere das Wort aus den Sprüchen Salomonis wahr gemacht hat: „Sie tut ihm Liebes und kein
Leides ihr Leben lang."
Diese seine Grete, die „Perle", wie die Schwiegermutter sie gern
nannte, - wie hat er sie geliebt! Das zeigte mir eine kleine Episode: Völlig
unerwartet traf er sie einmal bei uns. Als er zur Tür herein trat und sie sah,
ging ein solch strahlend glückliches Leuchten über sein Gesicht, dass ich es
nie vergessen kann.
Nun steht er am Grabe dieser geliebten Frau. Er hat ihr getreulich
beigestanden bis in ihre Sterbestunde hinein. Jetzt will er selber ihr die
Grabrede halten. Wir zittern um ihn. Ist denn das überhaupt menschenmöglich?
Wird er die Kraft dazu aufbringen?
Leichen blass ist sein Gesicht, erschütternd traurig stehen die sechs
mutterlosen Kinder neben ihm, als er mit fester Stimme beginnt: „Auf diesem
Friedhof habe ich vielen Trauernden die Botschaft vom Lebensfürsten gesagt.
Vielleicht habt ihr dabei gedacht: ,An dich ist's noch
nicht gekommen, sonst würdest du wohl anders reden.' Aber nun - ist's an mich
gekommen! Nun habt ihr das Recht zu fragen: ‚Bleibst du bei deiner Botschaft
von damals?'" In atemloser Stille steht die ergriffene Trauergemeinde, als
er bekennt: „Ich bleibe bei der Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus
Christus!" Und es geht ihr durchs Herz, als nun dieser geschlagene Mann
zum Zeugen der Herrlichkeit des Evangeliums wird.
Es muss im Frühling des Jahres 1926 gewesen sein.
Noch stürmischer als gewöhnlich klingelt's an
der Haustür. Mein Mann kommt vom Unterricht. „Eilig hat er es ja immer, aber
was mag diese Aufregung bedeuten?" frage ich mich beim Hinunterspringen.
„Heute fahre ich nach Frankfurt, ich muss doch der Mama und den Geschwistern
mein fertiges Buch über den Papa vorlesen. Bevor es in Druck kommt, möchte ich
ihr Einverständnis einholen. Willst du mit?" „Und wie gern! Aber die
Kinder!" „Ach, die nehmen wir mit. Wann fährt ein passender Zug?" Das
weiß ich zufällig: (Es gab ja nur einen durchgehenden beschleunigten
Personenzug mit 4.-Klasse-Abteilen, die unserer damaligen Vermögenslage
angemessen waren.) „9.53 Uhr vom Hauptbahnhof." Wir überschlagen die Zeit,
es ist gerade noch eine Stunde bis zur Abfahrt; die muss langen.
Und dann geht's los mit den Reisevorbereitungen: Das japanische
Strohköfferchen wird im Kinderzimmer aufgestellt, und hinein fliegen Höschen
für den Zweijährigen, die trockenen Windeln vom Ofengestell für die halbjährige
Tochter, Reisenecessaire und Nachtzeug für uns Erwachsene, Gummiunterlagen,
Puder ... Während mein Mann seine Manuskriptpapiere zusammensucht, richte ich
in Windeseile Fläschchen für den Säugling und Reiseproviant für uns andere - alles
kommt in den Koffer. So! Wo sind nun das rosa Mützchen
und Jäckchen für die Kleine? Der aufgeregte Zweijährige muss angezogen werden.
Ein heilloses Durcheinander herrscht im Kinderzimmer - das muss unsere gute
Frau M. nach uns aufräumen. Schon rennt mein Mann in die Hofterbergstraße
zu ihrer Wohnung, um ihr den Hausschlüssel zu bringen mit der Bitte, dass sie
gleich Ordnung mache.
Es ist halb zehn! Von der Gustavstraße zum Bahnhof ist eine
Viertelstunde Weg. In fröhlichem Tempo geht's los. Mein Mann trägt die
japanische Reisetasche und hält den Jungen an der anderen Hand, ich keuche
hinterher mit der Kleinen. Hurra! 9.45 Uhr! Der Bahnhof ist erreicht, nun die
Fahrkarten, eine letzte Hetze die Treppen hinauf zum bereits wartenden Zug -
und aufatmend schließen wir die Abteiltüren hinter uns. Glücklich strahlen wir
uns an, es ist erreicht! Nun haben wir eine schöne Familienreise vor uns.
Während wir uns einrichten in unserem großen Abteil, dem Jungen einen
Fensterplatz suchen, unsere Mäntel verstauen, setzt sich der Zug in Bewegung.
Als mein Mann das Köfferchen zum Gepäck werfen will, zögert er einen Augenblick
und fragt: „Hast du überhaupt auch mein Manuskript eingepackt?" Ein
Schreck durchfährt mich. Ja, habe ich das eigentlich eingepackt? Recht erinnern
daran kann ich mich nicht. „Lass uns lieber nachgucken", drängt mein Mann.
Eiligst wird das Köfferchen los geschnallt und in umgekehrter Reihenfolge
ausgekramt, was vorher hineingeworfen wurde: Puder, Gummiunterlage, Nachtzeug,
Windeln, Höschen, Windeln, Windeln - halt, da ist Papier! Ach, nur die in
Zeitungen eingehüllten Fläschchen. Keine beschriebenen Bogen, kein Manuskript.
Die Hauptsache wurde vergessen! Der schöne Traum einer festlichen Familienreise
ist aus.
So schnell entschlossen habe ich meinen Mann noch nie handeln sehen: Er
ergreift Mantel und Mütze des Zweijährigen, klemmt den kleinen Kerl unter den
Arm, springt aus dem gerade in Steele haltenden Zug
und ruft mir Verzweifelnden noch zu: „Fahr schon mal los. Ich hole das
Manuskript, wir kommen nach!"
Da saß ich nun, hielt meine Kleine auf dem Schoß, und Aufregung und
Verzweiflung lösten sich in einen Strom von Tränen auf. Stunde um Stunde fuhr
ich, und während der Zug durchs Sauerland und Siegerland ratterte, hatte ich
viel Zeit, über meine sinnlose große Reise nachzudenken. Die quälenden Gedanken
kreisten immer um das eine: Das Manuskript! Wo mochte es geblieben sein? All
die vielen hundert Blätter, handgeschrieben, mühsam aus alten Briefen
zusammengearbeitet, dies Lebensbild des Vaters, das der Sohn mit so .viel Liebe
geschrieben hatte, neben seinem Amt in Ferientagen und Nachtstunden... immer
mehr verdichtete sich die Angst: Wenn die Blätter in dem Durcheinander des
Kinderzimmers gelegen hatten, waren sie womöglich von der ordnenden Frau M. ins
brennende Öfchen geworfen worden. Ach, es war nicht auszudenken?
Und dann stieg die Frage auf: Warum ist das nun alles so verkehrt
gelaufen? War's unrecht, dass ich mich zum Mitreisen entschloss? Hätte ich
nicht besser getan daran, mit den Kindern den normalen ruhigen Alltag
weiterzuleben und meinen Mann allein fahren zu lassen? Aber je länger ich
darüber nachdachte, desto mehr wurde es mir klar: Es ist ein Geschenk, wenn man
mitten im Alltag mal Gelegenheit zu einem Freudenreisle
hat. Unserm Gott ist es eine Lust, uns Gutes zu tun. Wir dürfen fröhlich solche
Gegebenheiten ausnutzen und in Dankbarkeit genießen.
Aber wo lag denn nur der Fehler, dass es schief ging? Lag's an der Hetze? Sagt doch der weise Salomo in seinen
Sprüchen: „Wer aber allzu jach ist, dem wird
mangeln." - - Was heißt denn: allzu jach? Es ist
uns ja kein Tempo vorgeschrieben, und entschlossenes, schnelles Handeln in
Situationen, wo dies nötig ist, kann doch nicht unbedingt vom Teufel sein.
Allzu jach - wieso?
Allmählich dämmerte es mir: Es konnte kein Segen über unserer Reise
liegen, weil sie „allzu jach" unternommen wurde,
d. h. ohne einen schnellen Aufblick zu dem, der
gesagt hat: „Ohne mich könnt ihr nichts tun." Ihm danken für die Freude,
ihn bitten um seinen Segen, vor ihm die Reise unternehmen - diese innere
Haltung hätten wir einnehmen dürfen - und hatten das versäumt. Ja, die
besinnlichen Stunden auf dieser „sinnlosen" langen Reise bekamen einen
Sinn für mein ganzes Leben.
Mit großem Staunen, aber umso größerer Freude werden wir beiden von den
Lieben empfangen. Und dann folgt stundenlanges, für mich besonders quälendes
Warten. Ob mein Mann das vermisste Manuskript bringt?
Am späten Abend klingelt's stürmisch: Sie sind
da! Hoch schwingt mein Mann seine Mappe mit dem Manuskript. Gott Lob und Dank!
Unsere gute Frau M. war nicht „allzu jach"
gewesen. Der Haufen loser Manuskriptblätter fand sich auf dem Boden des
Kinderzimmers, von wo ich ihn hätte einpacken sollen.
Darüber waren wir Geschwister uns alle einig, dass über dem Grab unseres
Vaters sich ein Kreuz erheben sollte. Aber welches Bibelwort sollte darauf
stehen, was passte am besten zu seinem Leben?
Immer neue, schöne, herrliche Worte der Heiligen Schrift fielen uns ein.
Aber immer wieder verwarfen wir sie. Wir suchten eins, das nicht nur allgemein
passte, sondern gerade auf das Leben unseres Heimgegangenen. Ich überlegte mir:
Welche Seite war entscheidend bei ihm, welches Bild hat sich von der frühesten
Kindheit an eingeprägt bei mir? Und dann wusste ich es: Er war ein Sänger vor
dem Herrn! 40 Jahre lang spielte er in unserem Dorfkirchlein die Orgel, Sonntag
für Sonntag stieg er von der Orgelbank herunter, über die Lehne der letzten
Bank vor der Orgel auf seinen Platz, um aufmerksam der Predigt zu lauschen. Für
uns Kinder war es wundersam, dass er immer den Schluss der Predigt erahnte und
im richtigen Augenblick zurück stieg.
Sein Orgelspiel selber war nicht bedeutend, so schlecht und recht. Aber
wundervoll war es, wie er dazu sang. Mit einer kräftigen, vollen Stimme,
auswendig, aus Herzensgrund. Er führte den Gemeindegesang. Vielleicht hätte er
nach kirchenmusikalischen Gesetzen leiser singen und sich einordnen müssen in
den Gemeindegesang. Wir Kinder genierten uns immer etwas, wenn er so
unbekümmert laut sang. Kam man einmal ein wenig zu spät zum Gottesdienst, so
schallte uns schon vor der Kirchentür die Stimme unseres Vaters entgegen.
So blieb es auch, als er den Platz an der Orgel seines Alters wegen
einem Jüngeren überlassen musste. Hände und Füße und auch die Augen wollten
nicht mehr recht mittun. Aber seine Stimme, seine kräftige, schöne Stimme
verlor er nicht, und wenn wir sie laut schallend schon draußen hörten,
genierten wir uns längst nicht mehr darüber.
Erst mit seinem Heimgang verstummte sie. Wenigstens hier für uns. Denn
„ein Sänger vor dem Herrn" bleibt man. Wie wird er sich jetzt kräftig
einordnen in die himmlischen Lobgesänge! Nach diesen immer wiederkehrenden
Überlegungen kam mir auf einmal das Wort in den Sinn für seinen Grabstein: „Ich
will singen von der Gnade des Herrn ewiglich."
Vielleicht ist es ein wenig Erbteil, wenn die Lieder in meinem Leben
solche Rolfe gespielt haben.
Aus dem Wohnzimmer klingen einzelne Klaviertöne
zu mir herüber. Ich weiß es, da macht unser Ältester seine ersten musikalischen
Studien. Leise öffne ich die Tür. Da sitzt der 5jährige, sonst ein richtiger
Räuber, hingegeben auf dem Klavierstuhl, die kleinen Beinchen baumeln herunter,
und die kleinen Finger spielen immer dieselbe Melodie: e - c - g - a - g - f -
e: „Morgenglanz der Ewigkeit!"
Das ist das Lied, das wir morgens bei der Andacht singen, dessen Melodie
er längst mitsang, bevor er sprechen konnte. Und nun möchte er es spielen
können wie die Mutter. Immer wieder probiert er die Töne, bis er allmählich
müde wird und enttäuscht das Klavier zuklappt mit den ärgerlichen Worten: „Das
Klavier stimmt nicht."
Dann ergreift er eine Gießkanne, drückt der kleinen Schwester ein Buch
in die Hand, und beide begeben sich in den Garten. Da kann man so schön auf dem
Rand des leeren Springbrunnens sitzen. Er setzt die Gießkanne an den Mund und trötert damit die Melodie, und die kleine Schwester singt
aus dem Buch, das sie verkehrt herum vor sich hält, mit weit offenem Munde
dasselbe Lied: „Morgenglanz der Ewigkeit."
Plötzlich hört man irgendwo in der Ferne Musik. Schon springen beide auf
und zappeln vor Aufregung, bis die Straßenmusikanten vor unserem Fenster
angelangt sind und dort ihr Ständchen zum Besten geben. Eine Weile hört unser
kleiner Musikant aufmerksam zu, dann klettert er von seinem Fensterbrett
herunter und erklärt kopfschüttelnd: „Komiche Mucksik."
Ja, die musica sacra
hat es ihm angetan! Es dauert nicht lange, da probiert er die Melodie unsers
Morgenliedes zweistimmig, und mit merkwürdiger Energie bringt er es wirklich
als kleiner Knirps schon zu einer Art Begleitung, die sich ähnlich anhört wie
die aus dem Choralbuch. Seinem Beispiel folgen eins ums andere die kleineren
Schwestern. Immer wieder hört man: e - c g - a - g - f - e = „Morgenglanz der
Ewigkeit..." In C-Dur ist das ja verhältnismäßig leicht und doch etwas
viel Großartigeres als „Alle meine Entchen", mit dem die anderen Kinder
anfangen.
So bestimmt dieses Lied das Leben in unserem Kinderhaus. Fünf frische
Kinderstimmen fallen jeden Morgen fröhlich ein, wenn am Schluss der Andacht
dieser Vers gesungen wird. Bis eines Tages ein Stimmlein
verstummt - das unseres herzigen jüngsten Buben. Der große Gärtner hat das
Blümlein verpflanzt in seinen himmlischen Garten. 0, „Morgenglanz der
Ewigkeit" 1
Eine liebe Freundin unseres Hauses schrieb uns in jenen schweren Tagen:
„Jetzt ist die andere Welt, von der Ihr so gern gesungen, Euch so nah gerückt.
Euer eigen Fleisch und Blut, Euer Jüngstes, geht Euch voran, um mit seinen
schwachen Händchen Euch die Tür immer so ein wenig offen zu halten, dass der
Morgenglanz der Ewigkeit' noch leuchtender und wirklicher hineinflute in Euren
Alltag."
Zum ersten Mal seit jenem schweren Sonntagabend gehe ich - es ist wieder
ein Sonntagabend - zu dem Jugendhaus hinauf, wo mein Mann unter den vielen
hundert Jungen seinen Dienst tut.
Am Nachmittag hatte mein Herz gejubelt bei der Abendmahlsfeier und sich
gefreut an meinem herrlichen Heiland. Aber nun ist's, als sei wieder aller
Jammer der Schwermut und des Heimwehs hereingebrochen, dass ich's schier nicht
tragen kann und meine, ich müsste verzweifeln und umkommen in meinem Elend. Da
tönt, plötzlich einsetzend, ein brausender Gesang vom Jugendhaus heraus mir
entgegen. Den schickt mir Gott, und meine Seele darf mitsingen: „Ach mein Herr
Jesu, / wenn ich dich nicht hätte!" -- „Du, du bist meine / Zuversicht
alleine, / sonst weiß ich keine."
Ein leuchtender, warmer Vorfrühlingstag ist angebrochen. Alles atmet
nach den harten Wintertagen nun Wonne und Freude. Es ist, als ob alle Menschen
auf den Straßen der großen Stadt Darmstadt fröhlicher dahineilten als sonst.
Vielleicht sind wir paar Frauen heute die einzigen Ausnahmen davon. Wir
haben uns an das Gefängnis herangewagt, in dem man unsere Männer um der
Evangeliums-Verkündigung willen festhält. Eine macht der anderen Mut, und ich
weiß heute nicht mehr, wie es uns gelungen ist: Jedenfalls stehen wir plötzlich
im Hof des Gefängnisses und sehen alle die vergitterten Fenster, und jede von
uns fragt sich: „Hinter welchem von diesen quält sich nun mein armer Mann? Was
sollen wir tun, wie können wir sie grüßen?" Und wieder macht eine der
anderen Mut, und wir fangen an zu singen: „Deiner Güte Morgentau
/ fall auf unser matt Gewissen ..."
Ach ja, den brauchen wir jetzt, diesen „Morgentau",
und den brauchen unsere Männer: „Lass die dürre Lebensau
- -" Ach, wie hatte es mich bei meinem gestrigen Besuch mitgenommen, dass
ich etwas erleben musste von dem Jammer dieser Dürre! - Deshalb:
"...lauter süßen Trost genießen."
Unsere Stimmen verlieren allmählich ihre Zaghaftigkeit. Im Trotz gegen
die gottfeindliche Welt singen wir weiter, gewiss dessen, dass unser
flehentliches Bitten Erhörung findet bei dem, der im Himmel sitzt: "...und
erquick uns, deine Schar, / immerdar."
Weiter kamen wir nicht.. Polternde Beamte
stürzten heraus und verwiesen uns von dem Platz.
Es ist am Abend desselben Tages. Vergeblich waren alle meine Bemühungen
gewesen. Vergeblich hatte ich bei der Staatspolizei gebeten, mir endgültige
Auskunft über die Haft meines Mannes zu geben, da ich abends um 7 Uhr nach
Essen zurückfahren müsste, wo man genauere Nachrichten von mir erwartete. Immer
wieder trieb es mich um: „Ob unser äußerer Mensch verdirbt, so wird doch der
innere von Tag zu Tag erneuert" Dies „doch" war mir gewiss, aber ich
wusste, dass in dieser plötzlichen, noch „ungelernten" Haft auch der erste
Teil des Satzes Wahrheit wurde. Ganz verzweifelt suchte ich in meinem Geist
nach einem Ausweg und schrie zum Herrn.
Der Abend brach herein. Vor der großen Kirche steht ein kleines Häuflein
ganz Getreuer auf dem Platz. Wir sprechen über die gemeinsame Not. Sorge und
Jammer bekommen Gewalt über uns. Was wird werden?
Ich sehe zum Turm hinauf. Die Glocken sind verstummt, seit die Pfarrer
vorgestern eingesperrt wurden. Gestern am Sonntag sind sie als Zeichen der
Trauer nicht geläutet worden. Die Turmuhr zeigt 6 Uhr, in einer Stunde geht
mein Zug. Dann fahre ich zurück, allein mit meinem Jammer.
Plötzlich ein Ruf aus dem Pfarrhaus: „Frau Pfarrer Busch soll ans
Telefon kommen?" Mir zittern die Knie. Was für eine neue
Schreckensbotschaft wird das sein! Ich stürze ins Haus - und aus dem Apparat
klingt die geliebteste aller Stimmen: „Wir sind frei.
Warte auf mich, ich fahre mit!" Wir alle konnten nur noch weinen.
Und als einige Minuten später unsere bärtigen Männer aus der Taxe
stiegen, brach ein Lobgesang zu dem Herrn auf aus unsern erschütterten Herzen:
„Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, 1 dem Vater aller Güte, / dem Gott, der
lauter Wunder tut, 1 dem Gott, der mein Gemüte / mit seinem reichen Trost
erfüllt, / dem Gott, der allen Jammer stillt, / gebt unserm Gott die
Ehre!"
Nie in meinem Leben werde ich diesen Gesang vergessen. Wir sangen Vers
um Vers, während vom Turm das volle Glockengeläute es der Gemeinde zurief:
„Gebt unserm Gott die Ehre!"
Es war in einem netten kleineren Kreise mit allerlei jungem Volk.
Angeregt ging die Unterhaltung hin und her, und schließlich kam das Gespräch
auf ein allen bekanntes Künstlerehepaar. „Wie hübsch die Frau ist!" „Wie
interessant aber auch der Mann!" „Und künstlerisch sind sie beide auf der
Höhe." „Und von einer mitreißenden Vitalität sind alle beide!" In
dieser Tonart ging es eine Weile weiter.
Ein junges Mädchen, das den Angeschwärmten besonders nahe stand,
bewunderte vor allem die Künstlerehe: „Wie regen die
zwei sich gegenseitig an in ihrem künstlerischen Schaffen! Mit der besonderen
Begabung, die jedes hat, bereichert es den andern Und wie helfen sie sich
gegenseitig in ihrem Dienst! Wenn eins ausfällt, springt selbstverständlich das
andere ein ..."
Lächelnd hatte eine Ältere in dem Kreise den begeisterten Reden zugehört
und besonders dem Bericht von dieser idealen Ehe. Nun fuhr das junge Mädchen
fort: „Es sind eben ganz große Menschen und in ihrer glücklichen Ehe weit
erhaben über die kleinlichen Gesichtspunkte der normalen bürgerlichen Ehe. Sie
geben sich gegenseitig sogar die Freiheit, dass sie nicht miteinander in die
Ferien fahren. Er reist mit einer Freundin und sie mit einem Freunde..."
„Und das soll eine rechte Ehe sein!" unterbrach nun die Ältere das
schwärmerische Reden. „Warum nicht? Wenn es in gegenseitigem Einverständnis
geschieht?"
Eine Spannung liegt plötzlich über der ganzen Gesellschaft, als die
Ältere sehr eindringlich fortfährt: „Ich möchte euch nicht verletzen mit meinen
Bedenken, ob nicht in dieser Ferienzeit direkter Ehebruch geschieht. Aber ich
würde solch ein Verhalten auch ohne dies grundsätzlich als Ehebruch ansehen.
Wisst ihr denn nicht, dass jede Ehe ihren Ursprung in der Schöpfung Gottes hat:
,Ich will ihm (dem Mann) eine Gehilfin machen, die um
ihn sei'? Mit der Eva wollte Gott den Adam aus seiner Einsamkeit erlösen. Beide
durften miteinander arbeiten. Beide durften miteinander ruhen, ‚um ihn sein', ‚in Freud und Leid ihn nicht verlassen'. Könnt ihr
euch vorstellen, dass sich das erste Paar im Paradies am Sabbat getrennt hätte,
dass jedes seine eigenen Wege gehen wollte? Und diese Freude des Miteinanders,
die von Gott den Eheleuten geschenkt wurde, gehört auch heute noch wesentlich
zu einer rechten Ehe. Der Glanz aus dem Paradiese darf über gemeinsamer Arbeit
und gemeinsamer Ruhezeit liegen. Wir sollten wohl auf die Schöpfungsordnung
Göttes achten und tun, was in unseren Kräften steht, um auch die Ruhezeit
gemeinsam zu genießen. Miteinander in die Ferien!"
In besonderen Fällen kann es gottgewollt und nützlich sein, wenn die
Ehepartner sich zu Anfang des Urlaubs trennen „aus beider Bewilligung",
damit ein jedes in Stille sein Leben vor Gott ordnet.
Mit einem Seufzer ließ die viel beschäftigte Hausfrau den Brief sinken,
den sie gerade gelesen hatte. Er stammte von ihrer Freundin und klang so ganz
anders, als sie erwartet hatte: „Dürfen wir beide mal zu Euch kommen? Mit
unserer Ehe läuft etwas nicht richtig, und wir finden nicht mehr recht
zueinander..."
Es wollte ihr nicht in den Sinn, dass die beiden nicht mehr glücklich
verheiratet waren, die doch mit so viel Idealismus angefangen hatten. Sie sah
sie im Geiste vor sich, das zarte, kleine junge Fräuken
und den großen stattlichen Mann. Was mochte sich Unglückseliges ereignet haben?
Eigentlich hatte sie selbst ja wenig Zeit, über Eheprobleme nachzudenken, und
sie kam sich auch noch gar nicht „erfahren" vor mit ihren zehn Ehejahren.
Aber helfen musste man, wenn sich noch helfen ließ. So kamen denn die beiden
Verkrachten angereist.
Doch was sich nun als Grund des Zerwürfnisses herausstellte, war
eigentlich kaum zu fassen: Eine missratene Ferienzeit! „In diesen Ferien, die
doch so schön werden sollten, habe ich zum ersten mal
die grenzenlose Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit meines Mannes kennen gelernt",
klagte die junge Frau ihrer Freundin. „Ja, siehst du: Im Alltag dreht sich
natürlich alles um ihn, er und sein Amt sind immer Nr.1 für mich, da stelle ich
gern meine persönlichen Wünsche zurück. Aber in den Ferien! Da hatte ich
erwartet, dass er anders sei. Da hätte er doch Rücksicht nehmen können auf
seine zarte müde Frau. Ich hoffte viel zu ruhen und hatte mir ausgemalt, wie er
gemütlich bei mir sitzen und ein schönes Buch vorlesen würde. Ich wollte
anregende Gespräche führen, für die er sonst keine Zeit hat. Aber was geschah?
Er ließ mich allein! Er rannte los, halbe Tage lang! Und wenn er schließlich
heimkam, konnte ich bloß noch heulen vor angesammelter Bitterkeit"
Inzwischen saßen auch die beiden Männer zusammen. „Was Ehejoch bedeutet,
das haben mir diese Ferien gezeigt. In meinem Alltag meine ich manchmal, ich
müsste platzen bei all der sitzenden Beschäftigung. Mein Körper verlangt
danach, sich auszuarbeiten. Darum war mir in den Ferien immer das stundenlange
Wandern Bedürfnis und größte Lust. Und nun ist ‚sie' da mit ihren Forderungen.
Mitlaufen will sie nicht und verlangt von mir, dass ich stille bei ihr sitze.
Ich kann das nicht, und ich will das nicht!" schloss der junge Ehemann
verärgert seinen Bericht.
Es war gut, dass das Gift bei den beiden erst einmal gesondert
herausgekommen war. Dann waren sie bereit, auf den Rat der Freunde zu hören:
„Ach wie seid ihr beide töricht! Warum lasst ihr euch keine Freiheit in den
gemeinsamen Ferien? Warum will jeder den anderen in seine Zwangsjacke pressen
und ihm nicht die ihm gemäße Ruhe gönnen?"
„Ich kann dich ja verstehen", sagte die Hausfrau ihrer Freundin.
„Bei uns geht's ähnlich, hat sich aber herrlich eingespielt: Die ersten 14 Tage
bringe ich im Liegestuhl zu, lese und ruhe und sammle Kräfte. Inzwischen läuft
mein Mann sich aus, so dass er in der zweiten Ferienhälfte gern etwas weniger
wandert und mich mitnimmt, was ich dann auch sehr genieße. So denken wir beide
immer voll Freude an die Ferien zurück, weil keine Missstimmung dadurch
aufkommt, dass eins dem andern etwas vorschreiben will. In Freiheit
miteinander."
„Wenn zwei junge Leute heiraten wollen, sollte man tatsächlich ihre
•Ehetauglichkeit daran feststellen, ob sie beide die Sonne vertragen." Mit
fröhlichem Gelächter wurde diese Behauptung aufgenommen. Doch der Sprecher fuhr
fort: „Ich meine das ganz ernst (obwohl ihm dabei der Schalk aus den Augen
blitzte). Wie viel Schwierigkeiten ergeben sich für die Ferien aus kleinen
Dingen, wenn z. B. eines die Stille sucht und das andere Unterhaltung braucht
oder - wie es bei uns der Fall ist - wenn der Mann lieber in der Sonne wandert
und die Frau im Schatten."
„Na, du siehst nicht aus, als ob dich diese Schwierigkeit unglücklich
gemacht hätte", wandten seine Zuhörer ein. „Wie bist du denn mit diesem
Problem fertig geworden?"
„Ja, so einfach ist das nicht. Zunächst sind wir drauf los gewandert,
ohne dass eins sich in diesem Punkte uni das andere kümmerte. Ging der Weg
durch Schatten, so tat das mir leid. Führte er durch die Sonne, so seufzte
meine Frau insgeheim. Das war also nicht vollkommen. Später, als ich merkte,
wie der Sonnenschein sie quälte, begann ich mich um sie zu sorgen und konnte
die Sonne auch nicht mehr unbefangen genießen. Das war ja nun verkehrte Welt.
Mit zunehmender Reife änderten wir unsere Taktik: Wir trennten uns zeitweise.
In brütender Hitze klomm ich den Sonnen beschienenen steilen Hang hoch, und
meine Frau erreichte ihr Ziel auf kühlen schattigen Waldwegen. So ging's schon
besser. Doch tat mir's leid, dass sie meine schönen
Ausblicke nicht sah, und sie hätte mir so gern die blühenden Fichten gezeigt.
Seit neuestem sind wir nun an das Richtige geraten: Wir wandern miteinander und
sind in jedem Fall voller Freude. Geht's durch die Sonne, so freut sie sich für
mich. Geht's durch den Schatten, so freue ich mich für sie. Diese Einstellung
macht mir den Schatten begehrenswert und ihr die Sonne erträglich."
„Ein großartiges Rezept", geben nun die Hörer zu. Woraufhin der
Sprecher noch fortfährt: „Dies Rezept hat sogar der Paulus schon gekannt: ‚Ein
jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was des anderen
ist."
Ja, so soll's sein: Miteinander in Freiheit und Liebe.
Eine wunderschöne Adventsfeier haben wir im Frauenkreis erlebt: Still
brannten die ersten Kerzen, der Duft von frischem Tannengrün durchschwebte den
geschmückten Saal, die lieben alten Adventslieder machten das Herz froh, wir
sind hinein getaucht gewesen in eine unwirklich schöne Welt voll Stimmung und
Seligkeit. Ganz erfüllt davon komme ich heim.
Im Augenblick ist alles verflogen und weggewischt. Aus allen seligen
Himmeln werde ich kräftig in die Wirklichkeit zurück versetzt: Da tobt mein
kleines Völklein im Haus herum, mit Brüllen und
Getöse suchen sich die Älteren zu überbieten. Das Kleinste sitzt auf dem
Treppenabsatz und weint, sein Höschen ist nass, im Kinderzimmer ist der Ofen
aus. Die Küche hat nach dem Mittagessen nur notdürftig fertig gemacht werden
können. Im Flur stapeln sich die Pakete für die Armenbescherung, meine nette
kleine Hilfe steht am Telefon und gibt einem Frager ausführlich Bescheid über
die Feiern der nächsten Woche. Verzweiflungsvoll sehe ich nach der Uhr: In
einer Viertelstunde sollte der Hausherr sein Abendbrot haben, die Kinder gehörten
ins Bett, schon versammeln sich die ersten Frauen meines kleinen Chores, mit
denen ich Weihnachtslieder einüben will...
Da packt mich das Grausen über solch eine zeit der Vorfreude auf
Weihnachten. Mahnend geht mir’s durch den Sinn: „Nur
an einer stillen Stelle legt Gott seinen Anker an."
An jenem Tage, in dieser Stunde damals, habe ich einen Entschluss
gefasst, einen eisernen Entschluss: In der Adventszeit bleibst du daheim. Da
sollen die Kinder es fröhlich merken: Die Mutter hat Zeit für sie. Da soll dein
Haus wohl versorgt sein! - Und diesen Entschluss habe ich nie bereut.
Was ich hier berichte, ist nichts Außergewöhnliches. Die meisten von uns
kennen solche Not vor Weihnachten, diese Spannung zwischen dem an sich schon
reich besetzten Alltag und den Extraaufgaben. Feiern - Festhausputz machen -
Einkaufen - Pakete packen - das alles ist recht und gut. Aber wenn über den
Festaufgaben die Menschen, die Familie, leiden, dann ist Gefahr im Verzug. Ein
alter Weiser hat einmal gesagt: „Erkenne dein Werk und tue es!" O, ihr
lieben Mütter, unsere Extraaufgabe vor Weihnachten sind unsere Kinder!
Eine überlastete Hausfrau seufzte: „Das Normalmaß an Arbeit will ich ja
bewältigen; aber diese Extrabelastungen: erst Hausputz, dann Einmachen, dann
Weihnachtspakete --!" Schade, wenn die Weihnachtspakete in diese
Aufzählung geraten. Da schenkt uns Gott eine Chance, Freude zu machen. Man kann
darunter seufzen wie unter jeder Aufgabe. Aber ich möchte uns allen die
Grundhaltung wünschen, die ich in einem Wort von Chrysostomus einmal so schön
ausgedrückt fand: „So geben, dass du dich freust zu geben, und du meinst, mehr
empfangen zu haben, als zu geben."
Ich bin in puncto Weihnachtspaketen in eine
gute Schule gegangen und habe dafür viel gelernt von meiner teuren Schwiegermutter,
die nicht nur eine überzeugende Christin und ein großer begnadeter Mensch voll
Liebe war, sondern auch eine tüchtige Hausfrau. Sie hat mich durch ihre eigene
Praxis gelehrt, dass es drei wichtige Forderungen zu erfüllen gilt:
Weihnachtspakete müssen erstens rechtzeitig, zweitens verständig und drittens
liebevoll gepackt werden.
Nicht der Dezember, sondern der November war bei ihr der große
Packmonat. Die Vorbereitungen dazu setzten schon viel früher ein, nämlich beim
letzten Weihnachtsfest. Da wurden all die schönen Weihnachtspapiere mit den
goldenen Sternen und roten Kerzen sorgfältig zusammengelegt, die seidenen
Bänder geglättet, die Spruchkarten gesammelt, alles schön verpackt in einem
festen Karton verwahrt. Welche Wonne war es dann schon, wenn man nach vielen
Monaten diesen festlichen Inhalt wieder hervorholen und verwenden konnte! Dass
die gute Hausfrau auch im Laufe des Jahres manchen festen. Karton beiseite
stellte, viele Bindfäden geduldig aufknotete, die großen Bogen Packpapier sammelte,
alles im Gedanken an die Weihnachtspakete, erleichterte ihr hinterher natürlich
das Packen. Und da man ja weiß, wen man beschenken möchte, wird ein
Geschenkfach vorher ein-gerichtet, wo sich die mancherlei schönen Dinge nach
und nach zusammenfinden, so dass nicht in der Vorweihnachtszeit, in allem
ungemütlichen Betrieb, erst die Weihnachtsgeschenke eingekauft werden müssen.
Schon im November wird gebacken, Nüsse und Feigen sind auch dann schon zu
haben. Es quält noch keine Hetze, wenn man so seine Weihnachtspakete
rechtzeitig macht und verschickt.
Zum Zeitpunkt möchte ich aus eigener Erfahrung noch sagen: Wer an
Berufstätige, die nicht zum Backen kommen, Weihnachtsplätzchen schicken will,
sollte sie schon für die Adventszeit backen, da sind sie viel begehrter als am
Fest selbst, wo es vielleicht von vielen Seiten Gebäck regnet.
Immer ärgert es mich, wenn jemand sagt, zu dem Beruf der Hausfrau
brauche man nicht viel Verstand. Das Gegenteil bewies meine liebe
Schwiegermutter bei ihren Paketen. Da war alles gründlich überlegt. Ein
Extrakarton innerhalb des großen Paketes enthielt die von uns so sehr begehrten
„Gutsle", echt schwäbische „Gutsle",
unübertroffen in ihrer Güte. Da war nicht gespart mit Mandeln, Butter und
Eiern, kein Backpulver als Triebmittel gebraucht. „Spitzbuben",
„Zimtsterne", „Butter-S'le" für die
Erwachsenen, deren Geschmack die Güte feststellen konnte. Aber da eine Witwe ja
nicht über unbeschränkte Mittel verfügt, fanden sich neben diesen Kostbarkeiten
die „Ausstecherle" für die Kinder, recht dick und kräftig, dazu - welch
Begeisterungsstürme erweckte das immer bei dem kleinen Volk! - mit einer dicken
Schokoladeschicht, aus Kakao, Zucker und Fett hergestellt, dazwischen, höchst
begehrenswert für den nicht so verwöhnten Geschmack. So kamen alle Beteiligten
zu ihrem Recht.
Das Auspacken war schon ein Genuss. Es war nichts verkrümelt, denn jedes
Stückchen fand sich einzeln eingewickelt in Seidenpapier. Ich habe hier und da
von anderer Seite Plätzchen geschickt bekommen und hätte weinen können beim
Auspacken: lauter Krümel! Gewiss, auch die schmeckten gut, wenn sie mit dem
Löffelchen gegessen wurden. Aber „das Auge will auch was haben", und das
ist bei dem Verschicken zu Weihnachten nur möglich nach dieser schwäbischen
Einwickelmethode. Sie wurde auch angewandt bei den Äpfelpaketen, jeder einzelne
kleine Alb-Apfel steckte in einer Hülle von Zeitungspapier. Und war dann
vielleicht doch eine feuchte Stelle entstanden, so war das ohne Bedeutung, da
zu den Äpfeln nie etwas anderes hinzugepackt war, keine Bücher oder Stoffe, die
durch einen Flecken hätten verdorben werden können.
Meist kamen mehrere Pakete, auf einer Postgutkarte geschickt, von
unserer lieben Spenderin. So reisten sie sicherer als die schweren
Riesenpakete. Und immer war Gleiches zu Gleichem gepackt. Das ersparte uns viel
Enttäuschung. In den Hungerzeiten schickte uns eine Bekannte einmal Zwiebeln.
Ob wir noch wissen, welch ein Wertstück damals jede einfache Küchenzwiebel
bedeutete? Wir waren hocherfreut. Doch liebevoll verpackt fanden sich daneben
noch rührend selbstgebackene Plätzchen. Trotz unseres großen Hungers waren
diese Plätzchen mit Zwiebelgeschmack nichtgenießbar. Eine gute Seife erfreut
uns durch ihren köstlichen Duft - doch niemals mit Kaffee und Schokolade in
demselben Paket!
Noch eine vernünftige Regel habe ich von meiner Schwiegermutter gelernt:
Sofort Nachricht geben, wenn die Pakete da sind. Es ist eine
Rücksichtslosigkeit gegen den Absender, wenn man es verschiebt auf gelegenere Zeit, dem Absender seine Unruhe zu nehmen. Der
eigentliche Dank wird dann kurz nach dem Auspacken folgen, und zwar, wenn
möglich, noch gleich im ersten Jubel, dann ist der Dank quellfrisch und erfreut
den Spender mehr als abgestandene Dankesbriefe nach längerer Zeit. Nicht die
Länge des Briefes, für den wir im ersten Augenblick vielleicht die Zeit nicht
finden, ist entscheidend, sondern die Wärme und Echtheit der Freude drin.
Nie vergesse ich jenen alten Mann im Altersheim, der ein Paket von
seiner Tochter mit lauter guten, nützlichen Sachen quittierte mit dem von ihm
so stark empfundenen traurigen Satz: „Es ist keine Liebe drin."
Wie strahlte dagegen' jedes Paket meiner Schwiegermutter ihre große
Liebe aus! Man spürte sie schon an der sorgfältigen Verpackung, vor allem aber
an der Auswahl der Geschenke. Da gab's für den Hausvater ein ihm wertvolles
antiquarisches Buch, für die Hausmutter eine schöne Handarbeit, für die
Leseratten unter den Enkelkindern begehrte Bücher und für die Puppenmütterchen
Stoff zum Nähen: Samtreste und Seidenfetzen, goldene Kordeln und weiße Spitzen,
bunte Knöpfe und schillernde Tressen, Leinen und Wolllappen - begeisternd viele
Möglichkeiten für eine richtige Puppen-Hofschneiderin! Und oben auf allen
Geschenken lag ein Bogen, mit ihrer lieben Handschrift geschrieben.
Ein Weihnachtswort oder ein ihr sehr wichtig gewordener Vers erinnerte
uns an die Hauptsache, dass der eigentliche Grund zur Freude nicht die
menschliche, sondern die göttliche Liebe ist. Dass die Liebe die Hauptsache
ist, das wissen wir nicht von Natur. Das wurde mir kürzlich klar, als meine
vier-jährige Enkeltochter, angeregt durch mein Paketepacken,
auch ein Paket für ihren kleineren Vetter packte. Sie hatte mir alles Äußere
abgeguckt, eine schöne feste Schachtel war gut verschnürt und wurde mitgenommen
zur Post. Dort gelang es mir, mit dem verständnisvollen Beamten zu sprechen,
der mich heimlich einen Blick in den Inhalt tun ließ: lauter Sachen, die sie
übrig hatte, die ihr selbst nichts mehr bedeuteten. Sie hatte noch nicht
begriffen, dass Schenken heißt, alles geben, was einem vom Herzen weggeht. Je
größer die Liebe, desto größer das Opfer.
Pakete sollten nie eine Abfallsammlung sein. Vielleicht hat jemand unter
uns neben den wertvollen amerikanischen Paketen in unserer Notzeit, für die wir
den Spendern nie genug danken können, auch solche erlebt, die uns beschämten,
weil sie Unsaubere oder zerrissene Kleidung enthielten. Wir trugen ja mit Würde
unsere Armut; aber diese Geschenke erniedrigten uns, da war „keine Liebe
drin".
Aber auch nicht in jenen Päckchen, die wir als „Bezahlung"
empfanden, wo sich jemand „revanchieren" wollte. Solch eins wurde uns
einmal am zweiten Weihnachtstag überbracht von Bekannten, denen wir mit einer
Gabe etwas Liebes zum Fest hatten tun wollen und die sichtlich dadurch in Verlegenheit
geraten waren. Wie schön wäre es gewesen, sie hätten sich einfach gefreut und
danke gesagt! Weihnachtspakete sind doch kein Geschäft, das eine Bezahlung
erfordert in etwa der gleichen Höhe.
Wir sind die von Gott so reich Beschenkten, und als solche dürfen wir
andern weiterschenken: „Die Liebe Christi dringet uns also."
Es ist einige Tage vor Weihnachten, der Hausfrauen größte Zeit im Jahr.
Wie hatte es da auch bei uns sonst „geweihnachtet"! Wie roch es nach
Nussplätzchen und Spekulatius, wie gingen Grüße und Päckchen hinaus an all die
lieben Menschen, die uns am Herzen lagen! Wie hatte das freudvolle Heimlichtun in der Wohnung geherrscht, eins hatte das
andere angesteckt mit dieser wundervollen Vorweihnachtsstimmung!
Und nun liege ich auf meiner Couch, ganz zerschlagen und müde. Ich habe
eine schwere Operation hinter mir, das ist wahr. Aber die liegt schon
wochenlang zurück, ich hatte gehofft, bis Weihnachten wieder ganz „auf der
Höhe" zu sein. Und nun: Nullpunkt-Existenz! Keine Freude, keine Kraft,
kein liebendes Sorgen! Nichts als Jammer und Elend und Schwäche. Es ist, als ob
um meine Couch herum alle meine Aufgaben aufmarschieren und mich fordern: Du
solltest... Du solltest...
In all meiner Müdigkeit höre ich die Wohnzimmertür nebenan gehen. Ach,
das ist eine meiner Töchter, unsere liebe Musikerin, an deren Klavierspielen
ich immer solche große Freude hatte. Nur heute nicht, nur jetzt nicht! Ich bin
zu zerschlagen! ich habe Angst davor! Das rauschende Klavierspiel wird mir
wehtun. Vielleicht spielt sie jetzt den ganz Modernen, dessen Mangel an
„Harmonien" mir schon in gesunden Zeiten etwas schwer zu verkraften ist.
Soll ich ihr zurufen, mich jetzt mit ihrem Klavierspiel zu verschonen? Ach,
auch
das kann ich nicht ... Nun merke ich, wie nebenan die Noten
aufgeschlagen werden. Gequält horche ich auf alles.
Und dann? Ja, dann ist mir's, als sei ein
Engel zu mir herabgestiegen. Wonnesam lieblich und
zart, ich möchte beinahe sagen, mit süßen Tönen klingt's
zu mir herüber: „Ach, mein herzliebes Jesulein, /
mach dir ein rein sanft Bettelein, / zu ruhn in meines Herzens Schrein, / dass nimmer ich vergesse
dein." Dazu die mir so liebe Bachmusik aus dem Weihnachtsoratorium.
Ich liege ganz still und fühle, wie unter dem innigen Singen dieses
Weihnachtsgebetes der Friede Gottes in mein unruhiges Herz einzieht, wie
plötzlich alle Aufgaben mit ihrem „Du solltest..." zurückweichen vor dem
herrlichen Weihnachtsgeschenk, diesem „herzliebes Jesulein",
das sich mir zu eigen geben will.
Ist's denn möglich, soll jetzt Advent und Weihnachten gefeiert werden
wie immer? Ich kann mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen nach dem großen
Leid, das in diesem Jahr über uns gegangen ist: Unser Junge, unser lieber
Ältester, der mit seinem festlichen Musizieren jenen Wochen den besonderen
Glanz verlieh - er ist gefallen und liegt begraben in der Eiswüste Russlands.
Wie können wir singen ohne seine Begleitung? Wie soll mein blutendes Herz Feste
feiern können? Ja, im Alltag, bei allem reichen Tagewerk, da wird man ganz
gefordert und kann weiterleben, wenn auch das Herz still blutet. Aber in der
Festzeit, beim Ruhen und beim Fröhlichsein, da geht man einfach am Heimweh
zugrunde. Und die andern Kinder sind doch noch da, und sie brauchen die ganze
Freude für ihr junges Leben, sie mögen nicht zurückblicken und stehen bleiben
bei dem Alten. Sie fordern es, dass eine Mutter mit ihnen, den Lebenden,
weiterlebt.
So sehe ich mit großem Bangen der Adventszeit entgegen. Und darf es
wunderbar erfahren: „...der eure Herzen labet und tröstet, steht allhier."
Vielleicht mögen manche den Kopf darüber schütteln, aber ich muss es
bekennen: Im Traum hat der Herr zu mir gesprochen. „Er hat viel tausend
Weisen..."
Dies eine Mal, in jener Zeit, habe ich meinen Jungen im Traum gesehen: Er
war aus dem Kriege heimgekommen, aber es lag eine Last auf uns. Er sollte sein
Abitur noch einmal machen, er, der doch so froh gewesen war darüber, die Schule
hinter sich zu haben und mit vollen Segeln in sein geliebtes Musikstudium
hineinfahren zu dürfen. Seine Trauer drückte auch mir das Herz ab, man sah
keinen Ausweg. Da rafft sich mein Junge auf, ein froher Schein geht über sein
Gesicht, und mit liebender Stimme sagt er mir: „Nein, wir haben keinen Grund
zum Trauern. Hast du denn unsern Lieblingsvers an Advent ganz vergessen?"
(Es war dies ein Liedervers, den ich erstmalig gelesen hatte über der
Todesanzeige der alten gesegneten Gräfin Korff.
Später hatte ich die wunderschöne Melodie dazu gefunden und ihn von da ab viel
mit meinen Kindern gesungen, obwohl die damals den Sinn gewiss noch nicht
erfassen konnten.) An diesen Vers erinnert mich unser Junge. Ich bin darüber
aufgewacht und habe gemeint, mit meinen Ohren zu hören, wie er gesprochen hat.
Dieser Vers hat mich stille und froh gemacht, von da an habe ich gewusst: Unser
elendes Leben hier ist es nicht wert, dass man die zurückhält, die schon dort
die Erfüllung schmecken dürfen. Dieser Vers heißt: „Jesu Christ, dein reines
Licht / leuchte meinen Schritten, I bis mein sterblich Auge bricht, / bis ich ausgelitten
/ und in ew'ger Weihnachtswonne / schauen darf der
Sonnen Sonne / mit verkläretem Gesicht, / Jesu
Christ, dein reines Licht."
Eine Großmutter schreibt an ihre auswärts verheiratete Tochter:
Liebe Gretel,
aus all unsern Kinderhäusern kommen täglich
fröhliche Berichte. Es ist, wie es früher bei uns war: „Heilge
Weihnacht, Fest der Kinder...", sangen wir immer so gern mit dem jubelnden
Schluss: „...denn das Christkind soll allein / unsre Weihnachtsfreude
sein!"
Aber neben dieser Hauptfreude gab's doch in der Weihnachtszeit ein Meer
von Seligkeiten. Weißt Du noch? Mir wird's Herz fröhlich, wenn ich dran denke.
Erst einmal die gewaltigen Beratungen über die Weihnachtsgeschenke!
Jeder von Euch Fünfen wollte doch jedem was schenken, dazu noch uns Eltern und
der Großmama, den andern Großeltern und den Paten. Also mindestens zehn Leute
wollte jedes beglücken. Da wurden Pfennige gezählt. Da wurde gerechnet und
gerechnet. Die „Großen" brachten es bis auf 80 Pfennig und hatten damit
ungeahnte Möglichkeiten vor sich: Zahnstocher für die Erwachsenen waren wohl
nicht zu teuer; Kragenknöpfe hatte der Papa gewiss nötig; ein Eierlöffelchen
würde die Mutter erfreuen; Haarnadeln konnte man gewiss damit erstehen und
vielleicht sogar eine Mausefalle für die Oma auf dem Land und ... und ... Für
die Geschwister wusste man 1000 Dinge, die man sich selbst sehnsüchtig
wünschte.
Ja, mit 80 Pfennig hatte man sozusagen die Schätze der Welt in der Hand.
Aber solchen Reichtum nanntest Du meist nicht Dein eigen. Ich muss lachen, wenn
ich Dich noch vor mir sehe, wie Du Deine 17 Pfennig fest ins Händchen drücktest
und dann aufgeregt loszogst zu Dannhäuser. Das war
das kleine Papierwarenlädchen an der Ecke. Da gab's Sachen! Hauchblätter und Vielliebchen, Bleistifte mit Radiergummi an einem Ende,
große und kleine Notizblöcke, Wundertüten mit Lakritz und Überraschungen - ach,
man sah Dein Herz förmlich klopfen vor Aufregung und Freude.
Nach einer halben Stunde kamst Du zurück, beladen mit einem großen
Paket. Es sollte ja alles tiefstes Geheimnis bleiben; aber Du wärest geplatzt,
hättest Du Dein Erleben für Dich behalten sollen. So zogst Du mich in eine Ecke
und breitetest heimlich alles vor mir aus. Und ich staunte und staunte - und
überschlug den Wert all des Eingekauften - und konnte mich nur wundern. „Das
ist ja herrlich, so viel schöne Sachen! Die hast Du alle mit deinen 17 Pfennig
einkaufen können?!" Worauf Du nur leichthin erklärtest: „Nee, das hat mehr
gekostet. Ich habe Dannhäuser meine 17 Pfennig
gegeben und gesagt: ‚Den Rest bezahlt meine Mama.'"
Am ersten Feiertag fiel mir das wieder ein, als ich die
Weihnachtspredigt hörte über Jesaja 55: „Kommt her und kauft ohne Geld und
umsonst..." Du hattest es richtig gemacht mit Deinem Vertrauen!
In andern Jahren wurde vor dem Fest eifrig gebastelt. Ich sehe noch die
Papierservietten vor mir, die in jeder Ecke mit bunten Schnipfeln
beklebt wurden, wobei hinterher der Fußboden bestreut war mit all den
unzähligen bunten Schnipfeln und man kaum fassen
konnte, dass noch einige übrig geblieben waren für die eigentliche
Zweckbestimmung.
Du warst meist am ersten fertig mit allem. - So ist's noch bis heute.
Dein Weihnachtspaket ist immer zuerst da!
Triumphierend verpacktest Du Dein Geschenk in eine Schachtel und
verstecktest es, damit nur keiner von uns zu früh das große
Weihnachts-Geheimnis entdecken sollte. Aber - o Jammer, als Du Deine Bescherung
machen wolltest, hattest Du das Versteck vergessen. Weißt Du noch, wie
verzweifelt Du suchtest, wie die Tränen flossen, weil Du Dein so lang versteckt
gehaltenes Geschenk nicht mehr finden konntest? Und wir hatten’s
wirklich inzwischen nirgendwo gesehen und waren bekümmert, weil wir nicht
helfen konnten. Sollte nun die ganze freudige Bescherung ins Wasser fallen?
ln unsern Kummer hinein hören wir plötzlich Deine Stimme aus dem Keller.
Laut schallend singst Du die Kellertreppe herauf: "Nun danket alle
Gott..." Und alle fallen ein, und das Haus ist erfüllt von Lobgesang, weil
das Weihnachtsgeschenk da ist.
Immer neue Bilder tauchen auf, und ich möchte dauernd fragen: Weißt Du
noch? Weißt Du noch? Aber inzwischen seid ihr Töchter Mütter geworden, und das
„Fest der Kinder" wird in der nächsten Generation fortgesetzt. Und
gelegentlich dürfen wir als Großeltern daran teilhaben.
Gestern waren die Enkelehen aus der Nähe zum Feiern bei uns. Mit hellem
Eifer und großer Aufregung halfen alle beim Anzünden der Kerzen am Baum. Es sah
gefährlich aus. Und es ist ein Wunder göttlicher Bewahrung, dass schließlich
alle Kerzen brannten, ohne dass ein Unheil geschah.
(Und im geheimen gebe ich der befreundeten jungen Mutter recht, die den bewunderten Baum mit elektrischen Kerzen
versehen hat, doch eine richtige Kerze zum Anzünden und Ausblasen ansteckte.
Wenn nun die beiden Kleinen diese Kerze anzünden, erstrahlen gleich alle
anderen Kerzen mit, blasen sie die eine Kerze aus, so erlöschen sofort alle -
die Eltern sorgen dafür. Wunderbar für die Kleinen und ungefährlich dazu.)
Und nun wird gesungen, laut und fröhlich. Du weißt's
ja: „Vom Himmel hoch..." und „Ihr Kinderlein
kommet...", „Lobt Gott ihr Christen allzugleich..."
und „Freuet euch, ihr Christen alle..." Es ist mir eine Freude, wie viel
herrliche Weihnachtslieder die Kleinen schon kennen.
„Jetzt führen wir die Weihnachtsgeschichte auf", erklärt Claudia.
Sie ist mit ihren 6 Jahren als Älteste Regisseurin und Hauptdarstellerin in
eins. Und die liebe Weihnachtsgeschichte bietet den Stoff für ihr Krippenspiel.
Die Vorbereitungen sind denkbar einfach: Zwei Stühle werden zusammengestellt
zur Krippe, Dorle und Antje, die beiden Vierjährigen, sowie der dreijährige
Hans-Eberhard sind die anderen Darsteller. Sie werden jeweils von der
phantasiebegabten Claudia mit den verschiedensten Rollen bekleidet. Antje soll
als Jesuskind in der Krippe liegen. Doch als Claudia (Joseph) mit Dorle (Maria)
am Arm gemessenen Schrittes nach Bethlehem zieht, schreit sie empört auf:
„Antje, raus aus der Krippe, du bist ja noch gar nicht geboten!", worauf
Antje sich schleunigst unter die Stühle verkriecht. Diese Panne ist schnell
vergessen, die Geschichte geht ihren Gang weiter.
Für die Hirten auf dem Felde ist Hans-Eberhard als Zusammenfassung aller
vorgesehen. Doch hat dieser Hirte auf einem Teller eine Schokolade stibitzt,
und als seine Rolle einsetzt, ist er so beschäftigt damit, den süßen Inhalt aus
dem Silberpapier zu befreien, dass er weder Ohr noch Lust hat, den Weg nach
Bethlehem anzutreten. Fast hätte er um des irdischen Glückes willen die große
Stunde verpasst. (Sind wir nicht alle ihm ähnlich?) Doch Claudia hilft nach.
Wohl dem, den eine große Schwester nach Bethlehem hinzieht, ja fast hinboxt!
Ergreifend ist es, wie die drei Geschwister hinterher als die Weisen aus
dem Morgenland an der Krippe knien und in ehrfürchtigem, anbetendem Schweigen
da verharren. Lange sind sie still versunken, und als ich mahne, nun müsse es
weitergehen mit der Flucht nach Ägypten, reagieren sie nicht darauf. Die
Anbetung des Kindes ist nach ihrem Gefühl jetzt die Hauptsache. Und haben sie
nicht recht damit?
O, dass wir doch würden wie die Kinder! Das
wünscht Euch und uns Eure Mama
„Nun wird's Zeit für die Weihnachtspakete. Wer von euch etwas für die
Großeltern hat, muss es mir bis heute Abend geben!" Wie ein Blitz war
diese meine Erklärung in die Kinderschar gefahren, und nun sitzen sie und
basteln und schneiden und pinseln und kleben, dass man meint, man sei in eine
Werkstätte von jungen Künstlern geraten. Schon nach kurzer Zeit ist die jüngste
fertig und drückt mir ihr Machwerk in die Hand. Es ist ein Bibelspruch mit
Ranken drum herum. Ich bin enttäuscht. Sie hatte letzthin angefangen, kleine
rührende Gedichtchen zu machen. Vielleicht hatte ich so eins erwartet.
Bibelsprüche, gezeichnete und gemalte, verschenkt sie schon seit Jahren. So
gebe ich ihr diesen zurück mit der etwas ärgerlichen Bemerkung: „Fällt dir denn
gar nichts anderes ein? Mach doch nicht immer dasselbe!" Und tatsächlich,
sie scheint selbst etwas betroffen zu sein und setzt sich noch einmal an ihr
Pult zum „Arbeiten".
Wieder sehe ich sie zeichnen und malen, die Bäckchen werden rot vor
Eifer, das Zünglein versucht mitzuhelfen - ein tiefer Seufzer der Erleichterung
verkündet schließlich, dass sie fertig ist. Vorsichtshalber wickelt sie nun ihr
Kunstwerk selbst in ein Weihnachtspapier ein und überreicht es mir: „Hier, ein
Kalender!" „Ach, ein Kalender!!" So seufze ich innerlich. Zu sagen
wage ich es nicht zum zweiten Male, dass ich auch jetzt nicht entzückt bin. Im
Geist sehe ich das Wohnzimmer der Großeltern vor mir mit all den vielen Bildern
und Andenken an den Wänden. Wo wird da noch Platz sein für Kalender? Und wie
viel von den zwanzig Enkeln werden wohl die gleiche Idee gehabt haben und die
Großeltern mit Kalendern beglücken? Doch als, ich nun mein Töchterlein so
befriedigt und glücklich nach vollbrachter Tat vor mir stehen sehe, kann ich
ihm nur sagen: „Da hast du dir aber jetzt recht Mühe gegeben."
„Und was macht's auch", so gehen meine Gedanken weiter, „wenn der
Kalender vorn Weihnachtstisch aus in den Papierkorb wandert! Dies
Kindergeschenk hat natürlich keinen Wert in sich, es soll ja, wie alle unsere
Geschenke an Weihnachten, nur ein Zeichen sein, ein Zeichen dafür, dass Gott
uns beschenkte und dass damit seine Liebe in die arme Welt herein brach und wir
nun auch schenken und Freude machen möchten."
Es ist acht Wochen nach Weihnachten. Da bringt der Telegraphenbote - bei
dessen Erscheinen mir heute noch immer ein angstvoller Stich durchs Herz geht -
mir die traurige Nachricht: „Mutter heimgegangen." Weinend erzähle ich es
den Kindern, deren liebevolle Herzen gleich an den einsam Zurückbleibenden
denken: „Ach, der arme, arme Opa!" Noch nie sahen sie ihn allein ankommen,
immer waren sie zusammen, der Opa und die Oma. .
Und nun auf einmal! Wie wird der Opa das nur aushalten können!
Auch mich bewegt dieser Gedanke, als ich zu ihm fahre. Mir ist selbst
das Herz so schwer, wie soll ich ihn trösten können? Und dann bin ich daheim
wie früher, und es ist doch alles ganz anders als sonst. Und wir weinen
miteinander. Aber es ist seltsam; ich spüre, wie in all seinem großen Schmerz der
einsame Mann getragen wird. Hier ist getröstete Trauer. Ja, es liegt über allem
etwas wie ein himmlischer Glanz.
Als ich dankbar davon spreche, erzählt er: „Es war nicht gleich so. Als
die Mutter heimging, war ich wie erschlagen. Ich hatte so wenig damit gerechnet.
Aber dann hat Gott mir persönlich einen Tröster gesandt. Gerade als ich ihn so
nötig hatte, und dieser liebe Tröster, das war - der Weihnachtskalender!"
„Der Weihnachtskalender! Existiert der denn überhaupt noch?" „Ach ja, ich
habe ihn damals im Schlafzimmer aufgehängt. Sieh her -" und damit holt er
ihn herbei, und ich sehe zum ersten Mal, dass unsere Jüngste für jeden Monat
einen Extraspruch oder Vers gemalt hat. „!m Januar hat
das Wort schon so gepasst. ,Der Herr ist mein Hirte', stand da, und das hat in
ihren Leidenstagen unsere Mutter täglich erquickt. Und nun sieh, was die Kleine
für den Februar ausgesucht hat: ‚Was Gott tut, das ist wohlgetan.' Kannst du
nun verstehen, dass mir dieser Kalender zu einem lieben Tröster geworden
ist?"
Ganz ergriffen muss ich immer wieder dies Wort lesen. Wie hatte ich das
Weihnachtsgeschenk verachtet!
Nun war es nicht nur ein Zeichen gewesen für die große Liebe Gottes, nun
hatte er selbst, der Tröster der Betrübten, es als Werkzeug benutzt und die
Weihnachtsbotschaft wahr gemacht: „Dieser kann und will uns heben 1 aus dem
Leid ins Himmels Freud."
Heute habe ich in meinem Raritätenfach gekramt. Dabei stieß ich auf ein
Heft, in das hinein ich vor Jahren Briefe abschrieb von dem Schulmeister Kullen.
Aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammen sie, diese Briefe eines alten
erfahrenen Christen an einen andern Bruder in Christo. Ich wollte nur kurz den
Inhalt überfliegen, aber die Schreiben enthielten so viel geistliche Speise, so
originell dargeboten, dass ich gar nicht aufhören konnte zu lesen. Das Bild
dieses Mannes stand vor mir auf, wie er rang in seinem Christenstand, und ich
fühlte verwandte Saiten anklingen.
„Was meine Führung in Ansehung des Christentums betrifft", so
schreibt er unter dem 16. Oktober 1801, „so muss ich sagen, dass mich der liebe
Heiland gar wohl aufgeben dürfte und wohl schon viele tausendmal hätte aufgeben
und Seinen Rücken mir zukehren dürfen; allein neue Blicke, die Er mir in Seinem
Wort in und außer der Gemeinschaft gibt, sind mir immer der Beweis, dass ich
noch in Gnaden bei Ihm stehe. Meine täglichen bösen Gedanken, Lüste und
Begierden, Worte und Werke wollen aber meine Zuversicht gegen unsern lieben
Herrn oft schwächen und mich gegen Seine Gnade bedenklich machen; aber doch,
wenn ich mit gebeugter und demütiger Seele mit meinem Elend durch Seine Gnade
mich Ihm hingebe und in der Stille Seiner Güte warte, so finde ich mich wohl
und genieße im Innern (oft, ehe ich mich zuversichtlich aufrichten kann) einen
verborgenen Frieden von Gott in meinem Herzen."
Und in einem anderen Brief lese ich: „Am Christtag
hieß es in unserer Gemeinschaft: ‚Maria legte den Herrn Jesus in die Krippe,
sie hatte sonst nirgends Platz.' Man fragte die anwesenden Brüder und
Schwestern, wo sie ihn hinlegten. Einer sagte: ‚Am Freitag schon wollte ich ein
schönes Logis dem Heiland in meinem Herzen machen; abends aber, beim Backen,
wollte der Teig nicht reif werden, da ward ich inner
!ich so bös, doch ohne Ausbruch. Ich besah das durchteufelte
Herz und dachte: Da hinein kann kein Heiland. Das ist ein Logis für den Teufel
und böse Geister.' Wiederum dachte er, er wolle dem lieben Jesus doch ein Örtle machen, fing an, mit den Leuten im Haus süß und gut
zu reden, zog alle mögliche Freundlichkeit innerlich an; da verging das böse
Feindselige im Herzen, des Teufels Logis ward bei Ihm ein Gottespalast. Er fand
es als Wahrheit bewährt: Widerstehet dem Teufel, so flieht er von euch (Jakobus
4, 7).
Die redlichsten Seelen muten dem Heiland öfters nicht zu: ‚Komm, Schöpfer,
in mein Herz hinein!', weil sie sich zu wüst glauben. Sie denken: ‚Für edle
Kinder großer Herrn gehören güldne Wiegen.' ‚Heu und Stroh sei zu
schlecht" (das ungöttliche Wesen), da sei kein Ort für den Heiland, ‚Samt,
Seiden, Purpur (der Frömmigkeit) wären recht, das Kindlein draufzulegen' (Paul
Gerhardt).
Aber ach nein, lege Ihn durchs Wort der Gnade im Glauben in dein Herz,
dann springt der Teufel selbst davon."
Er war ein richtiger Schriftgelehrter im guten biblischen Sinne (nach
der Weise der Leute von Beröa, die „forschten täglich
in der Schrift, ob sich's also verhielte", Apostelgeschichte 17, 11), kein
Pastor, sondern ehemals wohl ein Kaufmann gewesen.
Wenn er, leicht gebeugt, mit seinem grauen Spitzbart, gestützt auf
seinen Stock, mit eiligen Schritten auf unser Haus zukam, wusste man: Nun
gibt's ein gründliches Gespräch über biblische Wahrheiten. Wenn ich ganz
ehrlich sein soll - so seufzte man vielleicht ein wenig über die Verschiebung
im Tagesplan und kalkulierte etwas ungern ein zeitraubendes Gespräch ein.
Eigentlich galt sein Besuch natürlich meinem Mann; aber weil er den in
den seltensten Fällen daheim antraf, hatte es sich allmählich begeben, dass ich
gewürdigt wurde, seine neuen theologischen Funde entgegenzunehmen, um sie dann
an den richtigen Empfänger weiterzuleiten. Auf diese Weise bin ich Teilhaber
geworden an seiner großen Freude über gute „Lesefrüchte", und mir selber
sind im Gespräch mit ihm biblische Wahrheiten neu aufgeleuchtet.
Bei aller Freundschaft mit dem alten Mann wurde kaum je etwas
Persönliches erzählt, es ging ihm immer um „die Sache". Nur an einen
seiner letzten Besuche erinnere ich mich, der davon eine Ausnahme machte.
Wir sprachen vom Muttertag, und er erzählte mir etwas traurig, dass das
Verhältnis zwischen seiner Frau und der Schwiegertochter nicht gut sei. Zum
Muttertag nun habe die Schwiegertochter zwar seiner Frau ein Geschenk gemacht.
Aber die habe es zurückgewiesen mit dem Bemerken, sie wolle kein Geschenk von dieser
Schwiegertochter. Traurig und fast zu sich selbst sprechend schloss er mit dem
mir sehr eindrücklichen Satz: „Leider hatte sie in dem Augenblick nicht die
Gnade, weise zu handeln."
In der Gärtnerstraße sollte sie wohnen. Vielleicht lag es an diesem
freundlichen Namen, dass ich mir unwillkürlich Treibhäuser vorstellte, der
Sonne weit geöffnet, und gute, lockere, schwarze Erde und Blumenrabatten… Doch
hätte der Name der benachbarten „Steinstraße" besser gepasst. Es war ja
ein Jahr nach dem Bombenkrieg und die ganze Gegend eine Steinwüste. Nicht
einmal Häuserruinen waren übrig geblieben, alles war dem Erdboden gleichgemacht
-- Steine, Steine!
Merkwürdigerweise standen in dieser Steinwüste zwei intakte Häuser.
Darauf steuerte ich zu, um meinen Besuch zu machen. Ich hatte gehört, dass ein
höherer Bahnbeamter, der kürzlich nach Essen versetzt war, mit seiner Familie
dort wohnte. Und nach dessen Frau, die ihr viertes Kindchen erwartete, wollte
ich nun einmal gucken.
Eine vitale, sympathische Dame öffnete mir. Über der gut-eingerichteten
Wohnung lag etwas von fröhlichem Kinderbetrieb, das mich gleich anheimelte, und
schnell waren wir Mütter im Gespräch miteinander. Ich hörte, dass sie aus
Salzburg hergezogen seien, und entsetzte mich bei dem Gedanken an solch einen
Wechsel.
Natürlich gab ich dem auch Ausdruck: „Können Sie denn hier leben, wenn
Sie aus dem herrlichen Salzburg kommen? Haben Sie nicht grenzenloses Heimweh
nach den schönen Bergen? Und legt sich Ihnen diese Steinwüste nicht täglich neu
wie eine Last auf die Seele?" Dabei schauten wir aus dem Erdgeschoßfenster
auf eben diese Steinwüste. Doch ging bei diesem Ausblick ein fröhlicher Schein
über ihr Gesicht -- und als ob sie meine Gedanken weit wegschieben wollte, sagte
sie sehr bewusst: „Steine? Ach nein! Man sieht hier so viel Himmel!"
Es war der mir unvergessliche Januartag des Jahres 1951, als wir meine
Schwägerin Grete zu Grabe trugen. Man konnte es nicht fassen, dass dies an
Liebe so reiche Leben zu Ende gegangen war. Immer wieder sah ich das junge
Mädchen vor mir, wie es als Braut so fröhlich eingegriffen hatte in den Betrieb
meines Kinderzimmers; ich sah die glückliche Braut, wie sie bei der eigenen
Hochzeit sich so liebevoll herab beugte zu ihren Gruppenkindern, die gekommen
waren, um der Helferin zu gratulieren; ich sah sie im ersten Wochenbett mit dem
herrlich festlichen Fliederstrauß ihres Mannes; ich sah sie einsam im Krieg auf
ihrem Posten, als sie nicht nur die eigenen Kinder liebevoll umsorgte, sondern
für die ganze verlassene Gemeinde ein mütterlicher Mittelpunkt war; ich sah sie
bei der letzten Beerdigung vor einiger Zeit hier auf dem Wittener
Friedhof, als sie am Sarge ihrer Mutter so unvergesslich eindrücklich mit den
Ihren im Quartett sang: „Jesu, meine Freude..."
Lebendig und immer Wärme und Liebe ausstrahlend, so stand ihr Bild vor
mir. Und eine grenzenlose Traurigkeit wollte über mich kommen. Da fiel mein
Auge auf den langjährigen Freund des Hauses. Es zog mich zu diesem Patriarchen
mit seinem grauen Haupt, dem nun auch die Trauer im Gesicht geschrieben stand.
Und in meinem großen Jammer begrüßte ich ihn: „Herr Pastor, ich komme nicht
drüber!" Woraufhin er mir in echt patriarchalischer Gelassenheit
entgegnete: „Wo man nicht drüber kommt, da muss man eben drunter bleiben!"
Diesmal war ich mit meiner geliebten Schwiegermutter nicht recht
einverstanden. Ich führte sie über die heimatliche Dorfstraße und wunderte mich
insgeheim, mit welcher Nichtachtung ihrem alten gebrechlichen Körper gegenüber
sie an meinem Arm dem Ziel zustrebte. Sie hatte gehört, dass eine junge Frau
plötzlich einen Schlaganfall bekommen hatte und seitdem bewusstlos daniederlag.
Diese Kranke wollten wir besuchen.
„Du solltest unbedingt mit der Kranken beten", bat sie mich
unterwegs. Ich machte Einwendungen: „Kein schwacher Kranker wird mich verstehen
mit meiner preußischen Sprache. Und außerdem ist sie doch bewusstlos. Da
erscheint mir das Ganze nicht sinnvoll."
„O Kind!" - fast beschwörend klang ihre Entgegnung - „wir dürfen
diese Schwerkranken auch in ihrer Bewusstlosigkeit nicht allein lassen. Was
wissen wir von den Geheimnissen der Seele? Auch wenn der Körper nicht reagiert,
können doch vielleicht unser Wort und Gebet sie noch erreichen. Wir müssen sie
damit bis an die Tore des Todes begleiten."
Diese ihre eindrückliche Erklärung entwaffnete mich, und so betete ich
im Gehorsam mit der stillen jungen Frau, dass der Heiland ihr seine tröstliche
Nähe schenke und sie und ihre Familie still und getrost mache.
Als ich „Amen" gesagt hatte, blieb in mir das beklemmende Gefühl
zurück, daß mein Gebet nicht bis an die Pforte des
Himmels gelangt sei. Aber diese Pforte des Himmels tat sich mir weit auf, als
nun meine geistgesalbte Schwiegermutter noch betete, nur einen kurzen Satz:
„Lieber Heiland, schenk der lieben Kranken das hochzeitliche Kleid!"
Ich war schon etliche Jahre verheiratet und hatte in der Zeit - so
dachte ich - eine große Ehe-Erfahrung gesammelt. Doch
bedrängte mich immer öfter ein Problem, mit dem ich nicht fertig wurde. Ich
meinte damals, ich stände einmalig da mit dieser meiner Frage, sie sei etwas
ganz Besonderes, und ich ahnte nicht, wie durchschnittsmäßig
mein Denken war und dass ich mich ganz umstellen müsse, um eine rechte Ehefrau
zu werden.
Zu dieser Erkenntnis verhalf mir eine kurze Bemerkung meiner
Schwiegermutter. Als sie uns eines Tages besuchte und wir beiden Frauen allein
waren, quollen alle meine angesammelte Ratlosigkeit und Bitterkeit aus mir
heraus, und ich breitete mein Problem - reichlich übertrieben! - vor ihr aus:
„Was soll man machen, um seinen Mann zu bremsen? Sieh, die Männer haben doch
einfach keinen Verstand! Und was nützt uns Frauen unser guter Verstand, wenn die
Männer ihn doch nicht annehmen? Mein Mann kennt kein Maßhalten im Arbeiten.
Jede Aufgabe, die irgendwo am Wege liegt, wird in Angriff genommen. Wer ihn
fragt wegen einer Ansprache, kriegt bedenkenlos ein rundes „Ja". Wenn's so
weitergeht, reicht der Tag nicht mehr. Er macht sich doch kaputt. Und wenn man
versucht zu bremsen, läuft das auch immer verkehrt. Das gibt bloß Verstimmung
und lähmt die Arbeitsfreudigkeit und ändert doch nichts!" Mit einem
Seufzer schloss ich: „Was soll ich da bloß machen?!"
Aufmerksam und liebevoll hatte die erfahrene Frau meinem aufgeregten
jugendlichen Geschwätz zugehört. Dann gab sie mir einen guten kurzen Rat -
jenen Rat, der sich in viel arbeitsfrohen Jahren bewährt hat und den ich gern
an ähnlich seufzende Frauen weitergeben möchte: „Nicht bremsen, nur
pflegen!"
O diese herrliche alte Doré-Bibel! In unsere
moderne Zeit mit den engen Raumverhältnissen passt sie einfach nicht mehr
hinein, da kann man nur noch Bilderbücher in Normalgröße gebrauchen. In dem geradezu
gewaltigen Format schien diese unsere alte Bilderbibel ihrem gewichtigen Inhalt
zu entsprechen, und es war an jedem Sonntagnachmittag schon eine Aktion, wenn
wir sie ins Kinderzimmer schleppten und auf den Tisch legten, den sie,
aufgeschlagen, ganz bedeckte. Solch ein Riesenbuch musste man ja ernst nehmen,
und es war das festliche Ereignis des Sonntagnachmittags, die Bilder - immer
dieselben bekannten Bilder - anzusehen.
Das Jüngste durfte auf dem Schoß der Mutter sitzen, die anderen standen
andächtig darum herum.
Jedes Bild wurde von der kleinen Gesellschaft mit lebhaften Bemerkungen
betrachtet. Man spürte, wie die kleinen Herzen bewegt wurden von diesen
eindrücklichen Gemälden, deren künstlerischer Wert nach unserem Geschmack
wahrhaft äußerst gering war. Aber das Dramatische der biblischen Geschichten
ging den Kindern auf. Sie wussten längst die Reihenfolge auswendig. Und das war
ihnen gerade recht. Denn wenn die Bilder der Leidensgeschichte sie traurig
machten, trösteten sie sich gegenseitig: „Gleich steht er ja wieder auf!"
Und: „Gleich fährt er ja in den Himmel!"
Unser Ältester liebte ein Bild ganz besonders, an das ich mich noch
heute lebhaft erinnere. Es stellte die Versuchung Jesu dar, nur die beiden
Gestalten, Jesus und den Teufel. Mit hoheitsvoller Geste weist der Herr den
Versucher zurück. Diese Geste hatte es wohl unserem Ältesten angetan. So musste
man doch wohl den Teufel verjagen können! Darum nahm er, sobald das Bild
aufgeschlagen wurde, dieselbe Haltung ein, streckte den Arm aus und brüllte den
Teufel - im Geist sah er sich auch von ihm versucht - mit aller Gewalt an:
„Teufel, geh ab!"
Zur Nachahmung empfohlen nach Hebräer 2, 18: „Denn worin er gelitten hat
und versucht ist, kann er helfen denen, die versucht werden."
Es ist der 6. Januar 1947, ein eiskalter Tag, viele Grad unter Null. Ich
sitze im Zuge, um zu einem Tauffest zu reisen.
Eigentlich hatte ich keinen Mut dazu, denn ich bin so ein „Frierpitter", wie meine Mutter früher immer sagte.
Aber es ist etwas Besonderes um diese Taufe: Da schenkte Gott der Mutter von
elf Kinderlein nach bangen Monaten voll großer Sorge
um ihr Leben in Gesundheit das zwölfte Kind - und das soll heute getauft
werden. Die beiden Großen - selbst noch nicht vierzehn Jahre alt -- holen mich
an der Bahn ab und erzählen, wie sie das ganze Elternschlafzimmer ausgeräumt
haben, um ein schönes Taufzimmer zu richten.
Eine Stunde später sitzen wir in diesem festlichen Raum: Auf dem Altar
vorn brennen zwischen herrlichen Blumensträußen zwei stille Kerzen, vor dem
Holzkreuz liegt die dicke Familienbibel. Das Kindervölklein
sitzt auf geliehenen Kinderschulbänken neben dem Altar: neun frischgewaschene Buben, zwei liebliche Töchter, und noch
vier verwandte Kinder. Alle fünf-zehn voller Erwartung, die Kleinen vorn. Es
ist ein Anblick, bei dem man fröhlich werden muss.
Der Pfarrer, der die Taufe hält, versteht sich auf Kinder - und das ist
ein Glück; denn wie groß würde sonst das Gezappel werden! So fängt er an und
erzählt ihnen die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland. Die Spannung
auf den Gesichtern wandelt sich in eine Art beleidigten Stolz: „So 'ne alte
Geschichte, die kennen wir ja lange!" Der Pfarrer merkt das und stellt den
Inhalt der bekannten Geschichte durch Fragen fest: „Wer zeigte den Weisen den
Weg?" „Der Stern!" Strahlend und stolz antwortet der achtjährige
Hansel. So geht's weiter. Schließlich fasst der Pfarrer alles Besprochene
zusammen und vertieft es durch die Frage: „Wer weiß, warum wir heute von den
Weisen sprechen?" Tiefes Schweigen! In den Kinderköpfen surrt das
Gedankenrädchen. Dann antwortet eines der Großen: „Weil heute der 6. Januar
ist!" „Das hast du gut überlegt", lobt der Pfarrer. „Aber den
eigentlichen Grund muss ich euch wohl sagen, den könnt ihr nicht erraten. Seht,
in Bethlehem im Stall lag in der Krippe das Weihnachtsgeschenk Gottes für die
Welt. Da war also die Weihnachtsstube Gottes. Die Weisen suchten dies
Weihnachtsgeschenk und waren also Wanderer zur Weihnachtsstube Gottes. Nun hat
Gott allen Christenleuten eine himmlische Weihnachtsstube bereitet. Eure liebe
Großmama ist im letzten Jahr heimgegangen und dort schon angekommen. Die möchte
auch gern, dass mal keins ihrer Kinder und Enkel dort fehle. So haben wir heute
bei der Taufe das Elisabethchen aufgenommen in
unseren Verein der ‚Wanderer zur Weihnachtsstube Gottes'."
Strahlend blicken die Kinderaugen den Täufling an. Das haben sogar die
Kleinsten verstanden, da möchten sie dabei sein.
Mir ist das Herz ganz froh geworden. Ach ja, ein „Wandern zur Weihnachtsstube
Gottes" - das soll auch mein Leben sein!
Noch an demselben Abend fahre ich heim. Die Heizung im Zuge ist kaputt gefroren,
es ist eisig. Die Reisenden treten von einem Bein aufs andere, um nicht zu
erstarren. Aber wie soll ich mich über einen kalten Zug ärgern, wenn ich doch
ein Wanderer zur Weihnachtsstube Gottes bin!