Ludwig-Hofacker-Jahrestagung
01.02.2003
Nicht nur zur Weihnachtszeit, aber eben
auch zur Weihnachtszeit entdecken die großen Zeitschriftenverlage, dass man mit
Jesus Geld verdienen kann. Vor dem letzten Weihnachtsfest war es die
Illustrierte STERN mit Jesus auf der Titelseite. Das Ziel dabei ist klar:
Aufklärung all der Vielen, die am Heiligabend immer noch in die Kirchen gehen.
Das klingt dann so:
"Happy birthday, Christus. Am Dienstag zieht es sogar verlorene Söhne und
Töchter wieder in die Kirche, um die Geburt des Erlösers zu feiern. Doch die
Lichtgestalt, die da halbnackt am Kreuz hängt, hat es so nie gegeben. Nach und
nach enttarnen die Forscher die Mythen um den Messias - und versuchen
herauszufinden, wer der Nazarener wirklich war." (2002/Nr. 52, S. 39)
Aber nicht nur der STERN, auch viele unserer säkularen Zeitgenossen
sagen: Die Bibel - ist doch alles Humbug! Und dann gibt es Vertreter der gegenwärtigen
Theologie, die sagen: Die Bibel - da muss zwischen gültigem Kern und
zeitbedingter Schale getrennt werden. Und nicht wenige Mitchristen
sagen: Die Bibel, ja schon - aber denk dran: wir brauchen und wir haben noch
Aktuelleres.
Doch Tatsache ist demgegenüber: Als evangelische Kirche haben wir gar keine
andere Wahl: Wenn wir evangelische Christen sein wollen, dann hängt uns dieses
Thema an. Wenn wir dagegen dieses Thema los sein wollen, dann können wir auch
keine evangelischen Christen sein! So einfach ist das! Lassen Sie mich das kurz
erläutern:
Luther machte eine revolutionäre Entdeckung: Nicht die Papstworte,
nicht die Kirchengesetze, nicht die Konzilslehren sind vom Heiligen Geist
geleitet. Gott spricht zu uns allein durch sein Wort, das Evangelium von Jesus
Christus, das von den Propheten angekündigt und von den Aposteln bezeugt wurde.
Gottes Geist wirkt nicht irgendwo, sondern begegnet uns hier in seinem Wort der
Heiligen Schrift. Konzilien und Päpste können irren und haben immer wieder
geirrt; denn sie sind Menschen und Irren ist eben menschlich. Gottes Wort
dagegen ist zuverlässig, denn Gott ist treu. Es ist die Wahrheit; denn er ist
wahr. Deshalb: sola scriptura: ein Kampfruf, der die kirchliche Tradition vom
Tisch fegte und nur noch das übrig ließ, was diesem Wort Gottes gemäß oder ihm
wenigstens nicht zuwider war. Luther erkennt dabei: nicht nur in der römischen
Kirche wird Gottes Wort durch die kirchliche Tradition zur Seite gedrängt.
Dasselbe geschieht auch dort, wo man sich auf den Heiligen Geist beruft, der
völlig losgelöst vom Bibelwort wirken soll. Letztlich - so sieht er - sind das
alles nur verschiedene Spielarten ein- und desselben Grundfehlers: Ich werde
direkt vom Geist geleitet. Doch Gott handelt anders: Sein Wille war und ist es,
uns mit und in seinem Wort der Heiligen Schrift auch seinen Geist zu geben,
nicht aber daran vorbei. Das Schriftwort soll unsere Einfälle beurteilen und
richten, und nicht umgekehrt. Wo wir uns mit unseren Gedanken zum Maßstab
machen, dort wiederholt sich das, was sich seit Adam und Eva ungezählte Male
ereignet hat.
Wir sollten uns nichts vormachen:
Vermutlich sind wir nicht so weit von Adam und Eva entfernt. Da ist auf der
einen Seite Gottes Wort der Heiligen Schrift. Über die Qualität dieses Wortes
lässt die Bibel keinen Zweifel: "Diese Worte und Taten Jesu sind
geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes,
und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen." (Johannes
20, 30). Oder: "Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre,
zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit."
(2.Timotheus 3, 16). Sie heißt "heilig", weil sie ihren Ursprung im
heiligen Gott hat und daher auch das ausrichtet, was ihr Name sagt: sie heiligt
den, der auf dieses Wort hört; sie bringt ihn in Verbindung mit dem heiligen
Gott und dadurch wird das Leben umfassend verändert. Aber jetzt werden die
Einwände laut: Die Bibel ist hoffnungslos veraltet; die Bibel muss erst einmal
richtig ausgelegt werden, bevor man mit ihr etwas anfangen kann; die Bibel muss
durch aktuelle Weissagungen des Geistes ergänzt werden.
Und weil wir nun einmal Kinder unserer Zeit sind, stecken diese Einwände auch
tief in uns selbst - ob uns das so lieb ist oder nicht! Das sieht dann etwa so
aus: Wir geben uns bescheiden: Angesichts so vieler verschiedener
Auslegungsmethoden - von kritisch bis Drewermann, von sozialgeschichtlich bis
Bibliodrama - haben auch wir Pietisten, wir Frommen, Evangelikalen nur eine
bestimmte Sicht der Dinge. Natürlich will niemand sagen, dass seine Sicht die
allein wahre ist - schließlich sind wir ja demütig! Wir geben uns nachdenklich,
wir verheddern uns in Rückzugsgefechten: "Natürlich kann man nicht alles
in der Bibel wörtlich nehmen." "In heutiger Zeit müssen manche Dinge,
z.B. im Bereich des christlichen Lebensstils, etwas lockerer gesehen
werden." "Wenn wir auf unsere Zeitgenossen nicht einige Schritte
zugehen, dann können wir sie missionarisch nicht erreichen. Du darfst daher
nicht mit der biblischen Keule kommen, sondern musst das Evangelium so sagen,
dass man es dir abnimmt!"
Was geschieht hier? Irgendwie merken wir: Zwischen der Bibel und unserer
Welt klafft eine Kluft. Diese Kluft lässt sich nicht so einfach überbrücken.
Deshalb versuchen wir, diese ferne Botschaft unseren Mitmenschen (und uns
selbst!) schmackhaft zu machen. Wir versuchen, Gottes Wort an unsere Denkweise,
an unsere Maßstäbe, an unsere Wünsche und Ziele anzupassen. Wir bemühen uns,
möglichst viel aus diesem Buch in unsere Welt herüberzuretten. Wie gesagt: das
mag auf sehr unterschiedliche Weise geschehen - auf fromme oder auf gottlose,
auf geistreiche oder auf geistlose. Das Ergebnis mag zwar unterschiedlich sein,
aber der Grundgedanke ist dennoch der gleiche. Die Bibel braucht meine
Hilfestellung, mein Interpretationsvermögen, meine Geistesblitze,
um in der heutigen Gemeinde und Welt gut anzukommen. Ohne das Können der
Ausleger - ohne unser Können! - bleibt sie ein Buch mit sieben Siegeln.
Lassen Sie mich nun im Gegensatz dazu erläutern, was in dieser unserer Lage der
Kampfruf "sola scriptura!" mit sich bringt: Ausgangspunkt dabei sind
nicht unsere Probleme, die wir oder andere mit einem alten Buch haben.
Ausgangspunkt ist vielmehr die Tatsache, dass unser Leben im Angesicht Gottes
zum Problem wird. Es geht dabei nicht zuerst darum, dass wir dieses alte
Buch auszulegen versuchen, sondern es geht vielmehr darum, dass unser Leben von
Gott und seinem Wort ausgelegt wird. Was dabei geschieht, hat ein Petrus
erlebt: auf das Wort Jesu hin sieht er sich umgeben von übervollen Fischnetzen
und ruft aus: Herr, geh von mir hinaus; ich bin ein sündiger Mensch! Ihm geht
blitzartig auf: Jesus und sein Wort tauchen mich in den Lichtkegel seiner
Wahrheit. Ich werde offenbar, wahr, durchsichtig. Meine Gottesferne, meine
Sünde kommt zum Vorschein.
Das bewirkt sein Wort. Sola scriptura - d.h.: Wir selbst, unser Leben,
unser Denken, Empfinden, Fühlen, unsere Gemeinde, unsere Kirche, unser Land und
unsere Welt werden mit Gottes Willen konfrontiert - und mit seiner Verheißung.
Durch dieses Wort werden wir gerichtet - und unbegreiflicherweise dann auch
gerettet. Dieses Wort straft und tut weh, aber dann heilt es auch und bringt
zurecht. Wir nennen uns evangelische Kirche, "Kirche des Evangeliums"
- und das ist richtig. Wir sind creatura verbi, Geschöpf des göttlichen Wortes.
Gerade deshalb ist "Sola scriptura" kein Thema, das im Anhang unserer
Tagesordnungen behandelt werden könnte. Hier geht es um nicht weniger als den
Lebensnerv, das Fundament unserer Kirche und unseres Christseins.
Kirche im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es gar nicht anders als auf dem
gelegten Grund Jesus Christus, aus dem wirkmächtig redenden Gott selbst. Indem
sie nur so existieren kann, ist sie immer Hörende, und zwar allein und ganz auf
diese Schrift Hörende - ob ihr das nun so gefällt oder nicht. Sobald jedoch
Hören und Gehorchen durch eigenmächtiges Reden und vielfältige Gesetzlichkeit
ersetzt wird, verliert die evangelische Kirche den Grund unter ihren Füßen.
Sola scriptura
erinnert uns zunächst daran, dass Gott Gott ist, wir dagegen Menschen sind;
dass er der Redende ist, und wir daher zu unserem Besten auf ihn hören.
Sola scriptura heißt: Er sagt uns in seinem Wort, was göttlich ist, was Gewicht
hat, was zählt und was gilt. Wir aber lassen uns von diesem Wort beurteilen,
prägen, zurecht bringen. Es ist daher keineswegs so, dass wir in der Heiligen
Schrift zwischen Göttlichem und Menschlichem unterscheiden könnten, dass wir
zwischen Nützlichem und Wertlosem zu trennen vermöchten. Vielmehr entscheidet
sich an diesem Wort, was von unserem Denken, Wollen, Reden, Tun Bestand hat,
und was wie ein Hauch vergeht. Sola scriptura heißt auch: Wir werden uns nicht
zu sehr von Widerständen und Mehrheitsmeinungen beeindrucken lassen. "Sola
scriptura - erst recht heute!"
Wenn wir uns diesem Thema stellen, dann äußert sich darin gerade nicht der
Starrsinn der ewig Gestrigen, die nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit weiter
gegangen ist. Vielmehr verweisen wir mit diesem Thema auf die Quelle, auf den
Mittelpunkt, auf die Zukunft des christlichen Glaubens und der christlichen
Kirche. Wir selbst sind die Ersten, die zu hören haben und die hören wollen.
Und dann geben wir dieses Wort weiter - freundlich, einladend, zuversichtlich.
Diese Zuversicht hat ihren Rückhalt in der Gewissheit: der Herr der Kirche wird
auch weiterhin die Verheißung wahr machen wird, die er ihr am Anfang ihrer
Geschichte zugesagt hat: "Auf diesen Felsen - und d.h.: auf dieses mein
Wort - will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie
nicht überwältigen" (Matthäus 16, 18).