Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er immer wieder gegen mich sündigt? Siebenmal?" - Nein", gab Jesus ihm zur Antwort, nicht sieben­mal, sondern siebenundsiebzimal!"

Matthäus 18, 21-22 (NGÜ)

 

Frage

Sie übersetzen die Zahlenangabe mit 77; in anderen Bibelausgaben ist aber von 490 die Rede. Was stimmt denn nun?

 

Antwort

Im Original lautet die betreffende Formulie­rung, wortwörtlich wiedergegeben: nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal sieben". Diese Angabe ist im Griechischen genauso unklar wie im Deutschen.

 

Wenn 490 gemeint ist, müsste es eigent­lich heißen: siebzigmal siebenmal". So wird es von vielen Übersetzungen wiedergegeben (z. B. Gute Nachricht Bibel, Hoffnung für alle, Traduction Oecumenique); sie tun stillschwei­gend so, als stünde ein zweites mal" da. Die NGÜ führt diese Interpretation in einer Fußnote an.

 

Wenn 77 gemeint ist, sollte man eigent­lich ein und" erwarten: siebzigmal und siebenmal]" bzw. siebzig-und-siebenmal". Die Auslassung von und" mag irritieren, ist aber nicht so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Man vergleiche z. B. die deutschen Zahlen dreiundzwanzig" (3 + 20) und dreizehn" (3 + 10, nicht 3 x 10; drei­zehn" bedeutet soviel wie dreiundzehn"). Namhafte Übersetzungen entscheiden sich für diese Variante [z. B. NIV, Einheitsüberset­zung, Menge).

 

Es gibt eine alttestamentliche Stelle, die für diese zweite Deutung spricht: 1. Mose 4, 24. Dort heißt es wörtlich: Wenn Kain sieben­mal gerächt wird, dann Lamech siebzig und sieben (mal)." Hier steht ausdrücklich und", sodass also von einer 77fachen Rache die Rede ist. Das Interessante ist nun, dass die Septuaginta (die erste Übersetzung des hebräischen Textes ins Griechische, verfasst ca. 250 bis 100 v. Chr.) diese Zahlenangabe haargenau so formuliert wie in Matthäus 18,22: siebenmal... siebzigmal sieben". Daraus darf mit Fug und Recht gefolgert werden, dass 77 die korrekte Wiedergabe der umstrittenen Wendung ist.

Mir liegen drei Übersetzungen des grie­chischen Neuen Testaments ins Hebräische vor, eine von Franz Delitzsch, einem führen­den Alttestamentler des 19. Jahrhunderts, sowie eine ältere der Trinitarian Bible Society und eine neuere der United Bible Societies. Bei allen drei lautet die Zahlenangabe von Matthäus 18, 22 genau gleich, nämlich bis siebzig und sieben [mal]", mit anderen Worten: siebenundsiebzigmal.

 

Noch kurz ein paar Bemerkungen zum Inhalt dieser Stelle.

Die Aussage von Lamech [1. Mose 4, 24) bildet nicht nur formal eine Parallele zu Matthäus 18,22, sondern auch inhaltlich. La­mech fordert für sich nicht nur siebenfache Rache, sondern siebenundsiebzigfache. Jesus Christus greift dieses Rache-Prinzip auf und macht daraus, indem er es ins Ge­genteil wendet, ein Vergebungs-Prinzip: Wir sollen einander nicht nur siebenmal vergeben, sondern siebenundsiebzigmal.

Dabei ist klar, dass siebenundsiebzig" (oder auch vierhundertneunzig") für un­begrenzt oft" steht. Jesus will die Verge­bungsbereitschaft nicht etwa auf 77 [oder 490] Fälle beschränken, im Gegenteil: Die Zahl ist bewusst so hoch gewählt, dass eine kalkulierte Vergebung nicht mehr in Frage kommt. Christen sollen keine Vergebungs-Strichliste führen, sondern immer und überall vergebungsbereit sein. Genauso wollte ja auch Lamech der Rache keine (hohe) Grenze setzen, sondern sie bewusst entgrenzen.

 

Diese uneingeschränkte Vergebungsbereit­schaft wird mit dem unmittelbar folgenden Gleichnis begründet und verdeutlicht (Matthäus 18, 23-35). Die hundert Denare, die der eine Mann dem anderen schuldet, sind keine kleine Summe [100 Tageslöhne!]. Aber Jesus stellt ihr einen Betrag gegenü­ber, der so exorbitant hoch ist, dass es jedes Vorstellungsvermögen sprengt. Er kombi­niert die höchste griechische Zahl (10’000 mit der damals größten Geldeinheit (Talent) zu einer Summe, die sich für seine Zuhörer nicht mehr sinnvoll einordnen lässt (allein für 1 Talent hätte der Mann 20 Jahre arbeiten müssen). Und er macht damit klar: Unsere Schuld gegenüber Gott werden wir nie in Eigenleistung abtragen können. So sehr sich jemand an mir versündigt haben mag - ich selbst habe mich an Gott noch unendlich viel mehr versündigt. Genau aus diesem Grund darf unsere Vergebungsbereitschaft unseren Mitmenschen gegenüber nicht berechnend sein. Die Zahlenangaben, die Jesus macht (sowohl im Gleichnis als auch in Vers 22], sollen uns nicht zum Rech­nen verleiten, sondern uns helfen, Gottes unermessliche", buchstäblich unberechen­bare" Gnade zu begreifen. Das Quantitative schlägt hier ins Qualitative um.

 

Letztlich ist es also völlig gleichgültig, welche Zahl Jesus gebraucht hat - 77 oder 490. Sich aus dogmatischen Gründen darü­ber zu streiten, welche Zahl die richtige ist, hieße zu der pedantischen, kalkulierenden Einstellung zurückzukehren, die Jesus mit seiner Aussage doch gerade verwirft! In der parallelen Perikope von Lukas 17, 3f wird scheinbar viel weniger gesagt. Dort spricht Jesus nur von siebenfacher Ver­gebung! Sieht man sich die beiden Stellen jedoch genauer an, wird klar, dass in Wirk­lichkeit überhaupt kein Unterschied besteht. In Matthäus wie in Lukas lehrt Jesus, dass Vergebung nicht durch die Häufigkeit der Sünde eingegrenzt werden darf: Ganz gleich, wie oft dein Mitchrist dich um Vergebung bittet, ob siebenmal oder siebenundsiebzigmal -vergib ihm!

 

Nach der Lukas-Parallele steht zwischen dem siebenmaligen Sündigen und dem siebenmaligen Vergeben ein siebenmaliges Bereuen. Damit wird die Matthäusstelle um einen wesentlichen Aspekt ergänzt: Ver­geben vonseiten des Opfers setzt Umkehr aufseiten des Täters voraus. Vergebung soll uneingeschränkt sein, aber sie ist nicht be­dingungslos"! Solange der Täter uneinsichtig ist, wird er von Vergebung nichts wissen wollen. Erst wenn er seine Schuld einsieht und umkehrt, wird er die zur Vergebung ausgestreckte Hand des Opfers ergreifen; erst dann ist die Vergebung vollzogen.

 

Und noch ein letzter Hinweis: Die Forde­rung nach umfassender Vergebungsbereit­schaft hebt natürlich nicht auf, was Jesus unmittelbar vorher (in Matthäus 18, 15ff] über das richtige Vorgehen gegenüber Sünde gesagt hat. Die Richtlinien, die er dort aufstellt, behalten ihre Gültigkeit. Uneinge­schränkte Vergebung ist etwas anderes als ungeregelte Vergebung.

 

Pfr. Andreas Symank