Die Verwandten von
Jesus
Markus 3, 31-35
Predigt Andreas
Symank
Freie
Evangelische Gemeinde Zürich-Helvetiaplatz
15.02.2009
Ich weiß
nicht, ob Sie ab und an die Website unserer Gemeinde besuchen. Wenn Sie’s diese
Woche getan haben, dann wissen Sie bereits, worüber ich heute predige: über die
Verwandten von Jesus.
Moment
mal, denkt jetzt vielleicht der eine oder die andere: Hatte Jesus überhaupt
Verwandte? War er nicht direkt vom Himmel gekommen? Ist nicht Gott
höchstpersönlich sein Vater? Stimmt. Stimmt alles. Aber es stimmt eben auch,
dass Jesus zu uns auf die Erde kam, als Baby von einer menschlichen Mutter
geboren, von Maria. Und Maria hatte einen Ehemann, Josef. Der war zwar nicht
Jesu leiblicher Vater, aber immerhin war er sozusagen sein Ziehvater. Und Josef
und Maria hatten zusammen weitere Kinder, die Geschwister von Jesus.
(Halbgeschwister, müsste man exakterweise sagen: Jesus
teilte die Mutter mit ihnen, aber nicht den Vater. Ihr Vater war Josef, sein
Vater war Gott.) Auf jeden Fall: Jesus wuchs in einer ganz normalen irdischen
Familie auf.
Am Sabbat lehrte Jesus in der Synagoge vor vielen
Zuhörern. Erstaunt fragten sie: „Woher hat der Mensch das alles? Was ist das
für eine Weisheit, die ihm da gegeben ist, und wie kommt es, dass solche Wunder
durch ihn geschehen? Ist er denn nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und
der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht auch seine
Schwestern hier unter uns?“ So kam es, dass Jesus bei ihnen auf Ablehnung
stieß. (Markus 6, 2-3)
Hier haben
wir die engsten Verwandten von Jesus aufgelistet – seine Mutter, seine Brüder
(Halbbrüder!), seine Schwestern (Halbschwestern!). Ziemlich große Familie,
nicht? Ich weiß nicht, wie viele Geschwister Sie haben. Heutzutage sind es bei den
meisten nur noch ein oder zwei; ich habe 5 (wir sind 3 Brüder und 3 Schwestern).
Und Jesus? Wie viele Geschwister hatte Jesus? Sechs, mindestens sechs! 4 Brüder
und mindestens 2 Schwestern (Mehrzahl). Vielleicht waren es auch 4 oder 5 Schwestern
(erstens sind die Mädchen sowieso meist in der Überzahl, und zweitens heißt es im
Parallelbericht im Matthäus-Evangelium: „alle seine Schwestern“ – das klingt
entschieden nach mehr als nur zwei). Dann waren es insgesamt an die 10
Geschwister. Kann gut sein. Eine große Kinderzahl war der ganze Stolz der
Eltern. Und es war ihre Altersversicherung. Das ist im Orient und in Afrika
heute noch so. Auf jeden Fall ist Jesus in einer richtig großen Familie
aufgewachsen!
Übrigens:
Diese Liste hat eine markante Leerstelle. Einer fällt auf, weil er ausfällt:
der Vater. Josef wird mit keinem Wort erwähnt. Das hat jetzt bestimmt nichts
damit zu tun, dass Gott der wahre Vater von Jesus ist. Hier reden ja die Leute
von Nazaret, und für sie war Jesus ganz selbstverständlich der Sohn Josefs.
Nein, Josef scheint schlichtweg von der Bildfläche verschwunden zu sein. Die
einfachste Erklärung ist die, dass er damals bereits gestorben war. Das letzte
Mal taucht er im Neuen Testament auf, als Jesus zwölf Jahre alt ist und zum
ersten Mal nach Jerusalem mitreisen darf. Und was tut der kleine Junge dort? Er
setzt sich von seinen Eltern ab und setzt sich im Tempel zu den
Gesetzeslehrern, um mit ihnen zu diskutieren. Josef und Maria suchen ihn 3 Tage
lang, ehe sie ihn aufstöbern. Bald darauf scheint Josef gestorben zu sein, denn
danach begegnen wir immer nur noch der Mutter und den Geschwistern.
***
So, jetzt
kennen wir die Verwandten von Jesus. Kennen wir sie wirklich? Ich will Ihnen
noch einen zweiten Abschnitt aus dem Markus-Evangelium vorlesen, Markus 3, 31-35.
Inzwischen waren Jesu Mutter und seine Geschwister gekommen.
Sie blieben vor dem Haus stehen und schickten jemand zu ihm, um ihn zu rufen.
Die Menschen saßen dicht gedrängt um Jesus herum, als man ihm ausrichtete:
„Deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draußen und wollen dich
sprechen.“ – „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“, erwiderte
Jesus. Er sah die an, die rings um ihn herum saßen, und fuhr fort: „Seht, das
sind meine Mutter und meine Geschwister! Denn wer den Willen Gottes tut, der
ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“
„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Eine
unglaubliche Aussage!
-
Unglaublich
überraschend. Damit hat niemand gerechnet. Jesus ist immer für eine Überraschung
gut.
-
Unglaublich
ermutigend – für die, die um Jesus herum saßen und ihm zuhörten. Jeder von
ihnen kann ein Verwandter von Jesus werden. Jeder von uns kann ein Verwandter
von Jesus werden.
-
Aber
irgendwie auch unglaublich krass – gegenüber seinen Angehörigen, die draußen
vor der Tür stehen.
Darf man
das – seine eigene Familie so brüskieren? In aller Öffentlichkeit? Geht die
Familie nicht über alles? Da stehen die Mutter und die Geschwister vor dem Haus
und lassen ihren Sohn und Bruder rufen. Ich glaube, jeder einzelne Zuhörer wäre
einverstanden gewesen, wenn Jesus seine Predigt unterbrochen hätte und nach
draußen gegangen wäre. Jeder hätte das erwartet. Die Familienbande sind
schließlich heilig. Und alle kennen das 5. Gebot: „Du sollst deinen Vater und
deine Mutter ehren!“ Kennt Jesus es nicht? Befolgt er es nicht? Statt seiner
Mutter vor allen anderen den angemessenen Respekt zu erzeigen, sieht er sich in
dem Raum um und sagt: „Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Geschwister?“ Fast
so, als wollte er sagen: Ich kenne sie nicht! Den Leuten stockt der Atem. Geht
er da nicht zu weit? Rebelliert er jetzt womöglich nicht nur gegen das
religiöse Establishment – die Priester, die Schriftgelehrten, die Pharisäer –,
sondern sogar gegen die eigene Familie?
Sie können
beruhigt sein: Jesus hat das 5. Gebot nicht gebrochen. Er hat nichts gegen die
Institution Familie, nichts gegen die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, nichts
gegen die Achtung und Ehrerbietung der Kinder gegenüber ihren Eltern. Im
Gegenteil, immer wieder hat er betont, wie wichtig es ist, gerade diese
elementaren Beziehungen zu pflegen. Und er hat es selber praktiziert: Als seine
Mutter Maria weinend und hilflos unter dem Kreuz steht, an dem er in seinen
Todesqualen hängt, bringt er noch die Kraft und die Konzentration auf, sich
voller Liebe um sie zu kümmern; er sorgt dafür, dass sein Jünger Johannes sie
bei sich aufnimmt (Johannes 19, 25-27). Dass
er hier scheinbar so ganz anders reagiert, so abweisend, so schroff, hat einen
ganz bestimmten Grund, einen guten Grund.
***
Gehen wir
nochmal an den Anfang unseres Bibelabschnitts zurück. „Inzwischen waren Jesu
Mutter und seine Geschwister gekommen.“ So beginnt keine völlig neue Episode.
Da muss was vorausgegangen sein. Und tatsächlich – wir müssen nicht weit
zurückblättern, um fündig zu werden, nur bis zum Vers 20. Dort heißt es:
Jesus ging nach Hause, und wieder versammelte sich eine
Menschenmenge bei ihm, sodass er und seine Jünger nicht einmal Zeit zum Essen
fanden. Als seine Angehörigen das erfuhren, machten sie sich auf, um ihn mit
Gewalt zurückzuholen. Sie waren überzeugt, dass er den Verstand verloren hatte.
(Markus 3, 20-21)
Warum
standen die Verwandten vor der Tür? Um ihrem Sohn und Bruder Beifall zu
klatschen für all seine Wundertaten und all seine wunderbaren Worte? Oder um ihn
in einer Familienangelegenheit um Hilfe zu bitten? Schön wär’s. „Sie machten
sich auf, um ihn mit Gewalt zurückzuholen.“ Hier steht im Originaltext genau
das gleiche Wort wie später bei Jesu Leidensgeschichte, als er von der
jüdischen Tempelwache festgenommen wird. Festnehmen wollten ihn seine Brüder. Natürlich
nicht in böser Absicht wie später die Führer des Volkes. Sie wollten ihn vor
sich selbst bewahren, ihn quasi aus dem Verkehr ziehen. In Schutzhaft nehmen sozusagen.
All diese Menschenmassen, die ihn ständig umlagern! Da bleibt nicht mal mehr
Zeit für nen Imbiss und für ne Mütze voll Schlaf!
Jesus ruiniert seine Gesundheit, er setzt sein Leben aufs Spiel.
Wahrscheinlich
kam bei den Brüdern auch Angst hinzu. Am Anfang von Markus 3 steht: „Die
Pharisäer fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Plan, Jesus zu
beseitigen.“ (Vers 6) Gut möglich, dass die Familie davon Wind bekommen hat.
Und da fuhr ihnen der Schreck in die Glieder. Sein Leben ist bedroht, sein
Leben und womöglich auch unseres! Unser Bruder treibt’s
einfach zu weit, er kennt keine Grenzen mehr. Sich mit der frommen Oberschicht anzulegen,
mit den Mächtigen des Volkes! Muss das sein? Weiß er, dass er dabei Kopf und
Kragen riskiert? Weiß er überhaupt noch, was er tut? Am Ende ist er gar nicht
mehr sein eigener Herr. Überspannt. Unzurechnungsfähig. „Er hat den Verstand
verloren.“ Wir müssen einschreiten, müssen sein Handeln überwachen und so das
Schlimmste verhindern.
Gut
gemeint – aber für Jesus wäre das Ergebnis eine Katastrophe gewesen. Stellen
Sie sich vor, Jesus hätte gesagt: Meine Mutter möchte mich sprechen? Aber
natürlich; meine Mutter ist mir immer willkommen. Und zu seinen Zuhörern
gewandt: Nur einen Augenblick, bin gleich wieder da! Und er wäre
hinausgegangen, und seine Brüder hätten ihn umringt und in die Zange genommen
und abgeführt. (Dass die nicht direkt zu ihm ins Haus gingen, lag ja nicht
daran, dass sie sich keinen Weg durch die Menge hätten bahnen können. Sie
wollten einfach kein Aufsehen erregen. Wenn sie Jesus vor all seinen Zuhörern
Handschellen angelegt hätten (ich übertreib jetzt mal ein bisschen), hätte das
vermutlich einen kleinen Tumult gegeben (ich untertreib jetzt mal ein
bisschen), und das wollten sie sich dann doch lieber ersparen.) So oder so:
Aus. Schluss. Keine wunderbaren Worte mehr. Keine Wundertaten. Denn seine
Familie war entschlossen, dafür zu sorgen, dass er nicht mehr öffentlich
auftreten konnte. Das war es, was auf dem Spiel stand: Jesu Auftrag. Nicht
die Ehrerbietung gegenüber seiner Mutter. Die Ehrerbietung gegenüber seinem Vater!
Der Auftrag, den ihm sein Vater ihm Himmel gegeben hatte. Der Auftrag, für
dessen Erfüllung er auf die Erde gekommen war. Jesus sollte das Kommen von
Gottes Reich ankündigen. Seine Familie wollte ihm das Wort verbieten. Jesus
sollte uns durch seinen Tod von unserer Schuld befreien. Seine Familie wollte
sein Leiden und Sterben verhindern. Und deswegen konnte es an dieser Stelle
keinen Kompromiss geben. Jesus musste seinen Brüdern deutlich machen, dass er
einer anderen, einer höheren Macht unterstand. Nicht seine Familie durfte über
ihn verfügen – Gott verfügte über ihn, sein Vater im Himmel.
***
Das hatte
Jesus seinen Verwandten schon mehrfach beizubringen versucht, vor allem seiner
Mutter. Zum Beispiel damals im Tempel, als seine Eltern nach dem 12jährigen
Jungen suchten.
„Kind“, sagte seine Mutter zu ihm, „wie konntest du uns
das antun? Dein Vater und deine Mutter haben dich verzweifelt gesucht.“ Jesus
erwiderte: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus
meines Vaters sein muss? [Man könnte ebenso gut übersetzen: „Wusstet ihr nicht,
dass ich in den Angelegenheiten meines Vaters tätig sein muss?]“ Doch sie
verstanden nicht, was er damit meinte. (Lukas 2, 48-50)
Maria
verstand noch nicht wirklich, dass Jesus Gott zum Vater hatte und dass seine
letzte, seine tiefste Loyalität nicht ihr gehörte, sondern seinem Vater im
Himmel. Oder dort in Kana, als bei der Hochzeitsfeier plötzlich der Wein alle
war. Wieder meinte Maria, sie müsse Jesus auf die Sprünge helfen, sie könne ihn
herumdirigieren. Und wie reagierte Jesus?
„Ist es deine Sache, liebe Frau, mir zu sagen, was ich zu
tun habe? Meine Zeit ist noch nicht gekommen.“ (Johannes 2, 4)
Meinen
Zeitplan bestimmst nicht du. Ich warte auf die Anweisung meines Vaters im
Himmel, nicht auf deine Anweisung, liebe Frau. „Liebe Mutter“, müsste er doch
eigentlich sagen. Aber er sagt: „Liebe Frau“. Das ist keine unfreundliche
Anrede. Aber es ist eine Anrede, mit der Jesus einen klaren Schnitt vollzieht:
Ich bin nicht von dieser Welt. Mein Vaterhaus ist im Himmel. Ich bin in keiner
Weise von Dir abhängig. Offensichtlich fiel sogar bei Maria der Groschen nicht von
jetzt auf nachher. Offensichtlich dachte sie immer und immer wieder, in ihrer
Rolle als Mutter hätte sie ein besonderes Anrecht auf ihn.
***
Zurück zu
unserer Begebenheit: Es geht also nicht darum, ob man seine Familie achten soll
oder nicht. Natürlich soll man sie achten. Aber es geht darum, ob Jesus
wirklich der Sohn Gottes ist, das Opferlamm, der Messias. Jesus hätte seinen
Auftrag und seinen Vater verraten, wenn er hier klein beigegeben hätte.
Vielleicht
ist Ihnen vorhin, als wir die Verse aus Markus Kapitel 3 lasen, etwas
aufgefallen. Wir haben Vers 21 gelesen, wo berichtet wird, wie die Brüder von
Jesus sich auf den Weg machen, um ihn mit Gewalt zurückzuholen. Und wir haben
Vers 31 gelesen, wo berichtet wird, wie sie vor dem Haus ankamen. Aufgebrochen
sind sie von Nazaret, dem Wohnort der Familie, und ihr Weg führte sie nach
Kafarnaum, wohin Jesus mit seinen Jüngern umgezogen war; eine Strecke von etwa
40 km. Was geschah denn, während sie unterwegs waren? Was geschah zwischen Vers
21 und Vers 31?
In dieser
Zeitspanne kommen einige Schriftgelehrte von Jerusalem und behaupten, Jesus
würde im Bund mit dem Teufel stehen. Jesus sei von Dämonen besessen, sagen sie;
er habe einen bösen Geist. Also schon wieder eine Attacke gegen Jesus, eine
noch schlimmere. Jesus habe nicht nur den Verstand verloren, nein: Der Gesandte
Gottes sei in Wirklichkeit ein Gesandter des Teufels. Jesus wehrt sich
entschieden gegen diese Unterstellung, er widerlegt sie unwiderleglich. Aber
eins wird dabei klar: Immer wieder wird sein Auftrag in Frage gestellt, immer
wieder versucht jemand ihn mundtot zu machen. Eine Angriffswelle nach der
anderen rollt auf Jesus zu.
Und indem
Markus das so unmittelbar nacheinander erzählt, geradezu miteinander verflicht
(erst die Familie – dann die fromme Oberschicht – dann nochmals die Familie),
macht er deutlich: Das alles liegt auf derselben Linie. Die Familie
solidarisiert sich sozusagen mit den größten Skeptikern, den schlimmsten
Gegnern. Sie kommt nicht, um Jesus zu unterstützen, sondern um ihn zu
blockieren. Sie stellt sich nicht hinter ihn, sie stellt sich gegen ihn. Seine
Mutter und seine Brüder als Gegenspieler von Jesus!
Wer ist
denn der eigentliche Gegenspieler von Jesus? Der Teufel natürlich – der Feind
Gottes und der Feind aller Menschen. Ganz am Anfang seines Dienstes zog sích Jesus in die Wüste zurück, und dort wurde er offen vom
Teufel attackiert. „Wenn Du Gottes Sohn bist, dann befiehl, dass diese Steine
hier zu Brot werden!“ – „Wenn du Gottes Sohn bist, dann stürz dich vom
Tempeldach hinunter!“ – „Wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest,
will ich dich zum Herrscher über alle Reiche der Welt machen!“ Dreimal hat der
Satan Jesus attackiert, dreimal hat Jesus seinen Angriff abgeschmettert: „Den
Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten; ihm allein sollst du dienen.“ Der Teufel
war gescheitert; es war ihm nicht gelungen, Jesus von seinem Auftrag
abzubringen. Hat der Teufel deswegen kapituliert? Hat er aufgehört, Jesus
herauszufordern? Absolut nicht. Der Teufel wäre nicht der Teufel, wenn er so
mir nichts, dir nichts die Waffen strecken würde. Am Ende der Versuchungsgeschichte
steht etwas Überraschendes:
Nachdem der Teufel alles versucht hatte, um Jesus zu Fall
zu bringen, ließ er ihn für einige Zeit in Ruhe. (Lukas 4, 13)
Für einige
Zeit – also nicht : für immer. Der Teufel würde wiederkommen. „Für einige Zeit“
– das könnte man auch so übersetzen: „bis sich ihm eine günstige Gelegenheit
bot“. Der Teufel zog sich zurück, aber nur, um einen geeigneten Zeitpunkt
abzuwarten und um es mit einer anderen Methode zu versuchen. Mit der offenen
Konfrontation war er gescheitert. Hier, in Markus 3, versteckt er sich hinter
den Gesetzeslehrern, hinter denen, die es wissen müssen. „Er hat einen bösen
Geist!“ Vielleicht bringt er Jesus damit zu Fall? Als auch das nicht klappt,
setzt er sich die Maske der Familienangehörigen auf. Erst die Peitsche, jetzt
das Zuckerbrot. Auf seine Brüder wird er doch hören; seiner Mutter kann er doch
keine Bitte abschlagen! Noch später spricht er sogar mit der Stimme des engsten
Vertrauten von Jesus, der Stimme von Petrus, dem Anführer des Jüngerkreises. Jesus
hat den Zwölf zum ersten Mal angekündigt, dass er demnächst vieles erleiden
müsse und getötet würde. Leiden und Sterben gehörte zu seinem Auftrag, dazu war
er auf die Erde gekommen! Und wie reagierte Petrus?
Petrus nahm ihn beiseite und versuchte mit aller Macht,
ihn davon abzubringen. „Niemals, Herr!“, sagte er. „Auf keinen Fall darf so
etwas mit dir geschehen!“ Aber Jesus wandte sich um und sagte zu Petrus: „Geh
weg von mir, Satan! Du willst mich zu Fall bringen. Was du denkst, kommt nicht
von Gott, sondern ist menschlich!“ (Matthäus 16, 22-23)
Gut
gemeint von Petrus. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Petrus hat
sich – ohne es zu wissen und zu wollen – dazu hergegeben, Sprachrohr des
Teufels zu sein. Er wollte Jesus daran hindern, den Weg weiterzugehen, den ihm
sein Vater aufgetragen hatte. Jesus durchschaut das lockende Angebot. Er schaut
durch Petrus hindurch und sieht den Teufel hinter ihm stehen: „Geh weg von mir,
Satan!“ Du meinst, jetzt hättest du eine besonders günstige Gelegenheit
erwischt, mich von meinem Ziel abzubringen. Wer will schon gern leiden und
sterben? Und wer würde nicht auf seinen besten Freund hören? Aber auch diesmal
scheitert der Teufel. Jesus weiß, wer hinter der Maske steckt. Er sieht hinter
die Kulissen. Zum Glück für uns!
Auf dieser
Linie müssen wir die Geschichte von Markus 3 verstehen, die Abweisung der
eigenen Familie. Wie auch immer der Teufel Jesus begegnete – ob in eigener
Person oder im Gewand der Frommen oder des Freundes oder der Familie: Es waren
Versuche, Jesus zu Fall zu bringen. Hätte Jesus auf das Urteil der Frommen
gehört, auf den Rat des Freundes, auf die Bitte der Familie – er wäre
gescheitert. Er wäre nicht der Messias geblieben, er wäre nicht das Opferlamm
geworden. Und für uns gäbe es keine Befreiung von Schuld, keine Runderneuerung
unseres Lebens, keine Perspektive für die Zukunft. Ja, es war gut und es war
richtig, dass Jesus so reagiert hat, wie er reagiert hat.
***
Aber nun
gehört zu seiner Reaktion ja noch etwas anderes, etwas durch und durch
Positives. Jesus weist nicht nur seine Angehörigen ab, indem er sagt: „Wer ist
meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“ Er sieht der Reihe nach die an,
die um ihn herum sitzen, und sagt: „Seht, das sind meine Mutter und meine
Geschwister! Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine
Schwester und meine Mutter.“
Eine
fantastische Aussage! Wissen Sie, was Jesus hier tut? Er gründet eine Familie!
Er schafft sich seine eigenen Angehörigen. Hier spricht Jesus zum allerersten Mal
von der Gemeinde (oder genauer: von dem, was später im Neuen Testament Gemeinde
genannt wird). Er erklärt Menschen, die nicht im leisesten mit ihm verwandt
sind, zu seinen engsten Angehörigen! Und er fügt auch gleich hinzu, wie man zu
seinem Bruder wird, zu seiner Schwester, zu seiner Mutter: „Indem man den Willen
Gottes tut.“
„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das
bedeutet: In dieser Familie zählen Blutsbande nichts. Sie kennen ja die Redensart: „Blut ist dicker
als Wasser.“ Mit anderen Worten: Die leiblichen Familienglieder stehen einem
näher als alle noch so lieben Freunde und Bekannten. Nein, sagt Jesus, in
meiner neuen Familien spielt es überhaupt keine Rolle, ob jemand seinem
Stammbaum nach mit mir verwandt ist oder nicht. Wenn Du den Willen Gottes tust,
stehst Du mir ganz genauso nah wie meine leiblichen Brüder – vorausgesetzt, sie
tun den Willen Gottes!
„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das
bedeutet: Jeder kann zu dieser Familie gehören. Damals war es die kleine Schar
der Jünger. „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister“, hat Jesus
gesagt und auf sie gezeigt. Aber dann hat er die Sache ganz bewusst
ausgeweitet: „Wer auch immer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine
Schwester, meine Mutter.“ Um den Willen Gottes zu tun, muss man nicht zum Stamm
Juda gehören oder zum israelitischen Volk. Auch ein Indianer kann Gottes Willen
tun. Auch ein Philippino. Auch ein Massai. Auch ein
Deutscher. auch ein Schweizer. Auch ein Zürcher.
Später
wird Jesus seine Zwölf, die ersten dieser neuen Familie, in alle Welt schicken:
„Geht zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen
Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ (Matthäus
28, 19-20)
„Macht die Menschen zu meinen Jüngern“ –
anders gesagt: Zeigt ihnen, wie sie sich meiner Familie anschließen können.
„Lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ – anders gesagt:
Lehrt sie, den Willen Gottes zu tun!
Und noch
später wird aus dieser miniwinzigen Zwergenfamilie
damals in Kafarnaum im Haus von Petrus und Andreas eine gigantische
Riesenfamilie werden:
Danach sah ich eine riesige Menschenmenge aus allen
Stämmen und Völkern, Menschen aller Sprachen und Kulturen; es waren so viele,
dass niemand sie zählen konnte. In weiße Gewänder gehüllt, standen sie vor dem
Thron und vor dem Lamm, hielten Palmzweige in den Händen und riefen mit lauter
Stimme: „Das Heil kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem
Lamm!“ (Offenbarung 7, 9-10)
Ich
glaube, Jesus hat das schon vor seinem inneren Auge gesehen, als er die
Blutsbande kappte und statt dessen eine Familie
gründete, die durch das Band des Glaubens zusammengehalten wird. „Blut ist
dicker als Wasser“ – mag sein. Aber dann stimmt erst recht: Glaube ist dicker
als Blut. Das Band des Glaubens ist stärker als alle Familienbande.
Kennen Sie
das auch: die Freude, wenn man irgendwo in der Welt einen Gottesdienst besucht
oder auch nur einen einzelnen Christen trifft? Das kann in Europa passieren, in
Amerika, in Afrika, in Asien, und jedesmal ist es einfach wunderbar. Es ist die
Freude, Verwandte anzutreffen, Familienmitglieder. Es ist tausendmal schöner,
als wenn man ein leibliches Familienmitglied trifft, das nichts von Jesus
wissen will. Das, was geistliche Geschwister verbindet, ist viel umfassender
und geht viel tiefer als das, was leibliche Geschwister verbindet. Christen
haben so vieles gemeinsam, haben so viele gleiche Erlebnisse gemacht: Sie haben
ihr Leben Jesus anvertraut, sie haben Vergebung erfahren, sie interessieren
sich brennend für die Bibel, sie bemühen sich, ihre Gebote zu befolgen, sie
lieben ihre Mitchristen, sie packen Aufgaben an, die Gott ihnen gibt, sie haben
dieselbe Hoffnung und dasselbe Ziel. Wildfremde Menschen verstehen sich auf
Anhieb – wenn sie Christen sind. Kein Wunder – sie haben tausend Dinge
gemeinsam. Einfach klasse. Glaube ist dicker als Blut.
„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das
bedeutet auch: Als Christ bin ich nie allein. Vielleicht sind Sie allein – ohne
Ehepartner oder verwitwet, kommen sich einsam und verloren vor. Gerade dafür ist
die Familie von Jesus gut. Vielleicht werden Sie in ihrer Familie nicht
verstanden, weil sie an Jesus glauben; vielleicht werden Sie sogar angefeindet
und verstoßen. Gerade dafür ist die Familie von Jesus gut. Jesus kennt solche
Spannungen, solche Feindschaft; er hat sie in der eigenen Familie erlebt. Und
gerade deshalb formt er eine neue Familie, schenkt uns neue Brüder und
Schwestern. Ist das nicht tröstlich? Ist das nicht ermutigend?
„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das
bedeutet auch: Zu dieser Familie kommt man freiwillig. In eine irdische Familie
wird man hineingeboren. Als ich zum ersten Mal begriff, dass es mich gibt, da
musste ich im gleichen Atemzug auch begreifen, dass ich ein Symank bin. Ein
Symank war ich ja schon, bevor ich es begriff! Ob mir das passte? Danach
hat mich nie jemand gefragt. Hätte ja eh nichts geändert. Aber Christ ist
niemand automatisch, quasi von Geburt an. Und niemand wird automatisch Christ,
indem er sich einem christlichen Einfluss aussetzt oder irgendetwas tut, was er
oder irgendwelche Leute für christlich halten. Nein, Jesus sagt es so klar und
so einfach wie möglich: „Zu meiner Familie gehört, wer den Willen Gottes tut.“
Den Willen Gottes tun – das kann man tun, oder man kann es lassen. Eine ganz
und gar freiwillige Angelegenheit. Du bist kein Christ, nur weil Deine Mutter
Christ war (es gibt kein Second-Hand-Christentum). Oder weil Dein Großvater der
Gemeinde ein großes Legat hinterlassen hat. Oder weil Du Sonntag für Sonntag
brav die Kirchenbank drückst (obwohl ich das super finde). Oder weil Du Dich
Kapitel für Kapitel durch die Bibel liest (obwohl ich das noch viel superer finde). Du bist Christ, wenn Du den Willen Gottes
tust.
***
„Wer den Willen Gottes tut“, sagt Jesus. Da
könnte man ja schon ins Grübeln kommen und ins Schwitzen, auch als Christ. Tu
ich denn Gottes Willen? Immer und überall? Und wenn nicht – bin ich dann
überhaupt ein Bruder von Jesus? Hab ich dann überhaupt das Recht, mich zu
seiner Familie zu zählen?
Wissen
Sie, was mir an der Stelle weiterhilft? Der Blick auf die zwölf Jünger, die da
um Jesus herum saßen. Taten die Zwölf denn immer Gottes Willen? Befolgten sie
ständig alle Gebote? Natürlich nicht. Leider nicht. Das wusste Jesus, und das
wussten sie selbst. Und doch erklärt er, dass sie seine Brüder sind, weil sie
Gottes Willen tun! Was war denn bei ihnen anders als bei den anderen? Ganz
einfach: Sie gingen bei Jesus in die Schule, in die Lebensschule. Sie waren
bereit und entschlossen, zu tun, was er ihnen sagte. Sie hatten sich
entschieden, ihm zu folgen, koste es, was es wolle.
Sehen Sie:
„Gottes Willen tun“ hat immer mit Jesus zu tun. Im Johannes-Evangelium (Johannes
6, 28-29) wird einmal berichtet, wie die Leute Jesus fragten: „Was für Dinge
müssen wir denn tun, um Gottes Willen zu erfüllen?“ Und wissen sie, was Jesus
geantwortet hat? „Gottes Wille wird dadurch erfüllt, dass ihr an den glaubt,
den er gesandt hat.“ Mit anderen Worten: dass ihr an mich glaubt, an Jesus
Christus, den Sohn Gottes.
„Gottes
Willen tun“ heißt also: an Jesus glauben. Und an Jesus glauben heißt: Jesus
vertrauen. Und Jesus vertrauen heißt: Auf Jesus hören. Eine Beziehung zu Jesus
aufbauen. Sich von ihm Sünde und Schuld vergeben zu lassen. Sein Leben mit
Jesus teilen. Seine Zukunft von Jesus gestalten lassen.
„Gottes
Willen tun“ ist also nicht eine Liste von Geboten, die wir abhaken. Es ist eine
Grundhaltung, es ist die einzig angemessene Grundausrichtung unseres Lebens:
die Ausrichtung auf Jesus. Das war bei den Zwölf der Fall – trotz all ihrer Schwächen
und Fehler. Und das kann auch bei uns der Fall sein – trotz all unserer
Schwächen und Fehler. Und wenn das der Fall ist, dann dürfen wir uns zu Recht
zur Familie Gottes zählen, dann sind wir Brüder und Schwestern von Jesus. Ich
glaube, als Jesus das vor allen anderen zu seinen Jüngern sagte: „Seht, das
sind meine Mutter und meine Geschwister“, da sind sie vor Freude und Stolz fast
geplatzt, vor Stolz auf ihren Herrn und vor Freude, dass sie ihm so nah sein
dürfen. Gott ehrt die, die sich seinem Sohn anschließen.
***
Zum
Schluss möchte ich noch einmal auf die Verwandten von Jesus zurückkommen, die
leiblichen Verwandten. Damals hatten sie noch nicht begriffen, wer ihr Bruder
wirklich war. In Johannes 7, 5 heißt es frank und frei: „Nicht einmal seine eigenen
Brüder glaubten an ihn.“
Damals hat
Jesus ihnen freundlich, aber unmissverständlich klar gemacht, dass sie kein
größeres Anrecht auf seine Zuwendung haben als irgendjemand sonst. Damals hat Jesus
sie – mehr indirekt als direkt – zur Buße gerufen: Ihr handelt
eigenmächtig. Ihr tut nicht Gottes Willen. Er hat sie zum Umdenken
aufgefordert: Tut den Willen Gottes! Und er hat ihnen ein Angebot
gemacht: Dann seid ihr wirklich meine Brüder. Ihr wollt die sein, die mir am
nächsten stehen? Dann tut Gottes Willen. Und freut euch, dass mit euch noch
viele andere mir am nächsten stehen!
Wissen wir
irgendetwas darüber, ob die Verwandten von Jesus ihre Lektion gelernt haben? Ob
sie den Schritt von der leiblichen Familie in die geistliche Familie vollzogen,
die Blutsbande gegen die Glaubensbande eingetauscht haben? O ja, wir wissen es.
Nachdem
Jesus auferstanden und in den Himmel zurückgegangen war, trafen sich die Zwölf
jeden Tag in Jerusalem in einem großen Raum und beteten inständig um den
Heiligen Geist, den Jesus ihnen versprochen hatte. Das wird uns im ersten
Kapitel der Apostelgeschichte berichtet. Und dann heißt es dort in Vers 11:
Auch eine Gruppe von Frauen war dabei, unter ihnen Maria,
die Mutter von Jesus; Jesu Brüder gehörten ebenfalls dazu.
Und dann
kommt der Pfingsttag, und sie alle werden mit dem Heiligen Geist erfüllt, auch
Maria, auch die Brüder von Jesus. Ist das nicht einfach toll? Was muss es Jesus
geschmerzt haben, dass seine Brüder sich zu seinen Lebzeiten gegen ihn stellten,
dass sie einfach nicht nachvollziehen konnten, was sein Auftrag war. Und was
muss es Jesus gefreut haben, nach seiner Auferstehung feststellen zu dürfen,
dass es bei ihnen klick gemacht hat, dass sie in ihrem Bruder ihren Retter
erkannten, dass sie sich ihm anschlossen!
Erinnern
Sie sich noch an die Namen der Brüder von Jesus? „Jakobus, Joses, Judas und
Simon.“ (Markus 6, 3)
Kommt
Ihnen der eine oder andere Name womöglich bekannt vor? Genau – es gibt doch
einen Jakobusbrief (ziemlich weit hinten im NT und so kurz, dass man ihn gern
überblättert). Den hat dieser Jakobus hier geschrieben, der leibliche Bruder
von Jesus! Und es gibt einen Judasbrief (noch ein bisschen weiter hinten im NT
und noch ein Stück kürzer, gerade mal ein Kapitel lang). Den hat dieser Judas
hier geschrieben, der leibliche Bruder von Jesus! Jakobus und Judas sind zu
führenden Gestalten in der frühen Christenheit geworden. Jakobus galt sogar
(zusammen mit Petrus und Johannes) als eine Säule der Gemeinde von Jerusalem
(Galater 2, 9).
Und jetzt
sehen Sie mal, wie die beiden sich in ihren Briefen vorstellen. Jakobus beginnt
seinen Brief so: „Jakobus, Diener Gottes und des Herrn Jesus Christus …“ Merken
Sie was? Jakobus hat seine Lektion gelernt. Nicht: „Jakobus, Bruder von Jesus
Christus“. Stimmen würde das ja, aber es wäre die falsche Ebene, das verkehrte
Signal. Jakobus könnte versucht sein, damit zu punkten: He Leute, falls Ihr’s
nicht wisst: Ich bin sein leiblicher Bruder! Ich steh ihm noch ein
klitzekleines bisschen näher als Ihr. Er könnte Druck damit machen: Mein Brief
ist besonders wichtig. Meine Anweisungen müsst ihr ganz besonders befolgen.
Nichts davon. „Jakobus, Diener Gottes und des Herrn Jesus Christus.“ Auf der
Ebene, auf die es ankommt, in der Familie, die allein zählt, ist Jesus sein
Herr und er ist sein Diener. Nicht mehr und nicht weniger. Das war das einzige,
was ihn dazu legitimierte, seinen Brief zu schreiben, die einzige Quelle seiner
Autorität.
Und Judas
beginnt seinen Brief so: „Judas, Diener Jesu Christi und Bruder des Jakobus …“
Klingt fast noch bescheidener: „Bruder des Jakobus“. Warum nicht auch: „Bruder
von Jesus Christus“? Weil bei Jesus nicht mehr die Familienbande zählen,
sondern das Band des Glaubens. Judas hat seine Lektion ebenfalls gelernt.
Menschlich
gesprochen, wird ihnen das nicht leicht gefallen sein, so ganz auf jeden
Hinweis zu verzichten, dass sie mit Jesus groß geworden sind, dass sie
Gemeinsamkeiten mit Jesus haben, die die anderen Christen nicht vorweisen
können. Menschlich gesprochen, wird es ihnen nicht leicht gefallen sein, ihren
Bruder als ihren Herrn zu bezeichnen und sich als Diener ihres Bruders. Aber
sie tun es, und sie tun es von Herzen, aus voller Überzeugung. Denn sie sind
Christen geworden, sie haben ihr Leben dem anvertraut, der auch für sie sein
Leben gelassen hat, und sie sind bereit, die neue, geistliche Familie für
wichtiger anzusehen als die alte, leibliche. Aus den leiblichen Verwandten von
Jesus sind seine wahren Verwandten geworden. Und Sie und ich sind eingeladen,
uns ebenfalls dieser Familie anzuschließen.
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Ich möchte mit zwei Bildern
schließen. Das eine Bild ist eigentlich eine Definition, die ich mal vor langer
Zeit gelesen habe:
Eine Familie ist eine Gruppe von
Menschen, die am selben Tisch sitzen und dort Suppe und Vertrauen schöpfen und
dadurch groß und stark werden.
Ich mag diese Definition – nicht
nur, weil ich ein Suppenfan bin; ich mag das ganze warmherzige Bild, und ich
finde, es lässt sich auch auf die neue Familie anwenden, mit der wir uns jetzt
beschäftigt haben. Nur leben wir im Haus Gottes nicht von Suppe, sondern von
Gottes Wort (Matthäus 4, 4) und vom Befolgen von Gottes Wort (Johannes 4, 34).
Also: Die neue Familie, die Familie von Jesus ist eine Gruppe von Menschen, die
am selben Tisch sitzen (an einem runden Tisch – keiner sitzt weiter oben,
keiner sitzt weiter unten, alle stehen im selben vertrauten Verhältnis zu ihrem
Herrn) und die dort Gottes Wort essen und Vertrauen zu Gott schöpfen und
dadurch groß und stark werden.
Und das
zweite, das letzte Bild liefert uns genau die Begebenheit, mit der wir uns
jetzt so lange befasst haben: das Haus, in dem Jesus lehrt. Wer ist im Haus,
bei Jesus? Seine neue Familie – die, die Gottes Willen tun. Und wer ist
draußen? Seine eigene, seine leibliche Familie – die, die meinen, sie würden Jesus
besonders nahe stehen, aber es versäumen, sich an seinem Willen auszurichten.
Wenn man an die drinnen denkt, ist es ein wunderbares Bild. Wenn man an die
draußen denkt, ist es ein dramatisches, ein herausforderndes Bild. Eine
Herausforderung auch für uns: Wo stehen wir? Und wohin gehen wir?
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„Wer den Willen Gottes tut, der ist mein
Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Daraus folgt noch etwas: Es bringt
nichts, zu Maria zu beten. Oder zu irgendeinem Heiligen. Es gibt ja fromme
Menschen, die das tun und sich davon einen besonderen Segen versprechen. Es
gibt sogar ganze Kirchen, die das praktizieren. Aber überlegen Sie mal: Was
hätte denn Maria irgendeiner anderen gläubigen Frau voraus? Dass sie die leibliche
Mutter von Jesus war? Schön, aber steht sie Jesus deswegen näher? Jesus sagt
nein. Wer den Willen Gottes tut, der ist meine Mutter. Wenn Claudia oder
Franziska den Willen Gottes tun, stehen sie Jesus genauso nah wie Maria. Dann
könnte ich also mit dem gleichen Recht zu Claudia oder Franziska beten! Es ist
sinnlos, zu irgendjemand anders zu beten als unmittelbar zu Jesus. Sinnvoll
wäre das höchstens, wenn es Christen gäbe, die Jesus näher stehen als andere.
Dann könnte man sie gleichsam bitten, sich bei Jesus für uns einzusetzen. Aber
genau das ist nicht der Fall. Wer Jesus gehört, steht Jesus so nah, wie es nur
möglich ist. Es gibt keinen Verwandtschaftsgrad, der noch dichter an Jesus dran
wäre. Und deshalb ist es sinnlos, zu Maria zu beten. Es ist nicht nur sinnlos,
es ist verkehrt. Es wäre ein Zeichen dafür, dass man diese entscheidende
Lektion noch nicht recht begriffen hat: In der neuen Familie Gottes zählen
nicht Blutsbande, sondern Glaubensbande, Gehorsamsbande. In der neuen Familie
Gottes zählt nicht die Geburt, sondern die Wiedergeburt.