„Hast du mich lieb?“

Johannes 21,15-22

 

Predigt Andreas Symank

Freie Evangelische Gemeinde Zürich-Helvetiaplatz

20. 3. 2005

 

Heute ist Palmsonntag – der Tag, an dem Jesus unter dem Jubel seiner Landsleute in Jerusalem einzog. Sein Weg führte ihn von Betanien her den Ölberg hinauf und dann steil hinunter in die Stadt; dort wollte er zusammen mit seinem Volk das Passafest feiern. Jesus ritt auf einem jungen Esel wie ein König, und die begeisterte Menge rollte den roten Teppich vor ihm aus (fast ein bisschen wie Hollywood) – genauer gesagt: sie breiteten ihre Mäntel auf dem Weg vor ihm aus und streuten Zweige auf den Boden, Myrtenzweige zum Beispiel und Palmwedel (deshalb „Palmsonntag“). „Hosianna!“, riefen sie. „Gepriesen sei der Sohn Davids! Gesegnet sei er, der im Namen des Herrn kommt! Gepriesen sei Gott in der Höhe!“ (Matthäus 21,9) Ein paar Tage später war Jesus tot. Hingerichtet von den römischen Besatzungstruppen auf Verlangen derselben Volksmenge, die eben noch Hosianna geschrieen hatte. Diesmal schrieen sie: „Ans Kreuz mit ihm! Ans Kreuz mit ihm!“ Und wieder ein paar Tage später war Jesus wieder lebendig. Auferstanden aus dem Grab durch die unvergleichliche Macht Gottes. Jesus war gestorben, obwohl er nie auch nur die kleinste Sünde begangen hatte. Der Tod konnte ihn nicht festhalten; er hatte kein Anrecht auf sein Leben.

Mit Palmsonntag beginnt die Passionszeit, die so genannte Karwoche [„Kar-„ kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet so viel wie „Wehklagen, Trauern“].  Für Jesus war es die aufregendste Woche seines irdischen Lebens, mit dem absoluten Tiefpunkt an Karfreitag (sein Tod am Kreuz) und dem absoluten Höhepunkt am Ostersonntag (seine Auferstehung aus dem Grab).

Eine Geschichte mit Vorgeschichte

Für diese Predigt habe ich eine Begebenheit ausgesucht, die sich in den Tagen nach der Auferstehung zugetragen hat. Keine Angst, ich habe Palmsonntag nicht mit Ostern verwechselt. Aber an dieser Begebenheit ist etwas Besonderes: Sie beginnt sozusagen in der Karwoche und findet ihren Abschluss, nachdem Jesus Christus auferstanden ist. Hören Sie selbst, und Sie werden sehen, ob ich Recht habe. Die Geschichte spielt übrigens am Ufer des Sees Gennesaret, im Kreis von Jesus und seinen Jüngern, nach einem wundervollen Fischfang und einem gemeinsamen Frühstück.

15 Als sie gegessen hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als irgendein anderer hier?“ Petrus gab ihm zur Antwort: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Darauf sagte Jesus zu ihm: „Sorge für meine Lämmer!“ 16 Jesus fragte ihn ein zweites Mal: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?“ Petrus antwortete: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Da sagte Jesus zu ihm: „Hüte meine Schafe!“ 17 Jesus fragte ihn ein drittes Mal: „Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?“ Petrus wurde traurig, weil Jesus ihn nun schon zum dritten Mal fragte: „Hast du mich lieb?“ – „Herr, du weißt alles“, erwiderte er. „Du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Darauf sagte Jesus zu ihm: „Sorge für meine Schafe!


18 Ich möchte dir etwas sagen: Als du noch jung warst, hast du dir den Gürtel selbst umgebunden und bist gegangen, wohin du wolltest. Doch wenn du einmal alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dir den Gürtel umbinden und dich dahin führen, wo du nicht hingehen willst.“ 19 Jesus deutete damit an, auf welche Weise Petrus sterben würde und dass durch seinen Tod die Herrlichkeit Gottes offenbart würde. Er schloss, indem er sagte: „Folge mir nach!“

20 Petrus wandte sich um und sah, dass der Jünger, den Jesus besonders liebte, ihnen folgte – jener Jünger, der sich damals beim Abendessen zu Jesus hinübergelehnt und ihn gefragt hatte: „Herr, wer wird dich verraten?“ 21 Als Petrus ihn sah, fragte er Jesus: „Herr, und was wird aus diesem hier?“ 22 Jesus erwiderte: „Wenn ich will, dass er am Leben bleibt, bis ich wiederkomme, was geht dich das an? Folge du mir nach!“

Was ist das Auffälligste an dieser Geschichte? Dass Jesus Petrus fragt: „Hast du mich lieb?“? Nein, dass Jesus Petrus dreimal fragt: „Hast du mich lieb?“

„Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?“ Petrus bejaht. Doch dann, als würde das nicht genügen, ein zweites Mal: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?“ Petrus bejaht wieder. Aber Jesus gibt sich immer noch nicht zufrieden. Er fragt ein drittes Mal (jetzt wird einem beinahe unheimlich): „Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?“ Wieder und wieder dieselbe Frage, hartnäckig, unerbittlich. Als würde Jesus Petrus nicht glauben. Und damit sind wir mittendrin in der Vorgeschichte zu dieser Geschichte, mitten in der Karwoche. Als Jesus gefangen genommen wurde und ihm der Prozess gemacht wurde, hat Petrus ihn dreimal verleugnet. Dreimal hat er abgestritten, Jesus zu kennen. Als es für ihn selbst gefährlich wurde, wollte er plötzlich nichts mehr mit diesem Jesus zu tun haben. Erst verneinte er, dann schwor er, am Ende fluchte er. Wir können das in allen vier Evangelien nachlesen, z. B. in Matthäus, Kapitel 26, 69-75:

Petrus saß noch draußen im Hof, als eine Dienerin auf ihn zutrat und sagte: „Du warst doch auch mit diesem Jesus aus Galiläa zusammen!“ Aber Petrus stritt es vor allen Leuten ab. „Ich weiß nicht, wovon du redest“, sagte er.

Als er danach zum Eingangstor ging, sah ihn eine andere Dienerin und sagte zu denen, die dort standen: „Der war auch mit diesem Jesus von Nazaret zusammen.“ Wieder stritt Petrus es ab, diesmal sogar mit einem Schwur: „Ich kenne den Menschen nicht!“

Doch es dauerte nicht lange, da traten die Umstehenden auf ihn zu und sagten: „Natürlich bist du auch einer von ihnen; deine Sprache verrät dich.“ Petrus begann, Verwünschungen auszustoßen, und schwor: „Ich kenne den Menschen nicht!“

In diesem Augenblick krähte der Hahn. Da erinnerte sich Petrus daran, wie Jesus zu ihm gesagt hatte: „Bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und er ging hinaus und weinte in bitterer Verzweiflung.

Dreimal hat Petrus Jesus verleugnet; dreimal wird er nach seiner Liebe zu Jesus gefragt. Der Zusammenhang ist mit Händen zu greifen: Jesus arbeitet die dunkelste Stunde im Leben des Petrus auf.


Ein großer Mann mit einem großen Schatten

Dieser Petrus war nicht irgendwer. Er war – zusammen mit seinem Bruder Andreas – der erste, den Jesus in seine Nachfolge rief, der erste der zwölf Apostel. Er war der Wortführer des Jüngerkreises. Er war der erste, der begriff, wer Jesus wirklich war: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ (Matthäus 16, 15) Er war der Felsenmann, auf den Jesus seine Gemeinde bauen und dem er die Schlüssel des Himmelreichs geben wollte (Petrus bedeutet „Fels“; Jesus selbst hatte ihm diesen Namen gegeben; Johannes 1, 42 und Matthäus 16, 18.19). Petrus war einsatzfreudig. Petrus war begeisterungsfähig. Und Petrus war sehr von sich selbst überzeugt. Als Jesus sein Leiden und Sterben ankündigte, kündigte er auch an, dass seine Jünger ihn im Stich lassen würden. Petrus protestiert: „Und wenn alle sich von dir abwenden – ich niemals! Ich bin bereit, mit dir sogar ins Gefängnis und in den Tod zu gehen!“ Doch Jesus gibt nichts auf diese Treueschwüre: „Ich sage dir: Noch heute Nacht, bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und wie reagiert Petrus auf diese schreckliche Voraussage? „Und wenn ich mit dir sterben müsste – ich werde dich niemals verleugnen!“ (Matthäus 26, 33-35; Lukas 22, 32)

Aber dann verleugnet er ihn doch. Das war kein Kavaliersdelikt, das ging schon eher in Richtung Kapitalverbrechen. Gerade da, wo Jesus so nötig Unterstützung gebraucht hätte, gerade da wendet sich sein wichtigster Anhänger von ihm ab, sagt sich von ihm los, bricht ihm die Treue. Und das nicht nur einmal, sondern ganz bewusst ein zweites und ein drittes Mal. Wie muss Jesus das geschmerzt haben! Wie muss Petrus das umgetrieben haben! Diese schlimme Geschichte aus der Karwoche wird jetzt, an Ostern, aufgerollt.

Finsternis kann nur vom Licht zerstört werden

Hier haben wir einen ersten Punkt, der auch für uns wichtig ist: Schuld muss aufgearbeitet werden. Schuld verjährt nicht – nicht in unserem Gewissen, und erst recht nicht bei Gott. Schuld ist eine Last, und diese Last wird im Lauf der Zeit nicht leichter, im Gegenteil: sie drückt uns immer tiefer nach unten – es sei denn, wir bringen sie Gott und lassen ihn unser Problem behandeln. Über Schuld kann man nicht einfach Gras wachsen lassen. Irgendwann holt irgendwer seinen Rasenmäher aus dem Schuppen und bringt alles wieder zum Vorschein. Schuld kann man nicht totschweigen. Totgeschwiegene Schuld wird am Ende uns selber töten. Jesus weiß, wie zerstörerisch unbereinigte Dinge sich in unserem Leben auswirken können. Und deshalb schweigt er nicht dazu. Dazu hat er uns viel zu lieb. Er will uns herausholen aus unserem Loch, aus unserem Gefängnis.

Jesus geht also nicht einfach über die Verleugnung des Petrus hinweg zur Tagesordnung über. So hätten wir das gern: Schwamm drüber! Soll vergessen sein! Reden wir nicht mehr davon! Nein, Jesus redet davon; die Sache muss geklärt werden. Und ich bin mir sicher, Petrus hat darauf gewartet. Er weiß ja gar nicht mehr, wie Jesus zu ihm steht. Er weiß nicht mehr, was seine Stellung im Jüngerkreis ist. Petrus ist bange vor diesem Augenblick der Wahrheit, aber gleichzeitig sehnt er ihn herbei. Er möchte unbedingt wissen, wo er dran ist. Was für eine Befreiung, als Jesus endlich auf Petrus’ Schuld zu sprechen kommt! So verfährt Jesus übrigens mit uns allen: Er möchte hier und heute mit uns über unsere Schuld sprechen und nicht erst im letzten großen Gericht am Ende der Zeit! Denn dann wäre es zu spät, dann wäre es unser Untergang.


Jesus, der Magnet

Petrus muss seit der Verleugnung innerlich total zerrissen gewesen sein. Er hatte in bitterer Verzweiflung geweint, sein Treuebruch tat ihm von Herzen leid. Aber dann stirbt Jesus. Aus, vorbei; keine Chance mehr auf Wiedergutmachung! Tiefste Depression! Den anderen Jüngern wagt er nicht mehr in die Augen zu blicken. Doch dann wird ihm berichtet, das Grab sei leer! Wie von der Tarantel gestochen rennt er hin, überzeugt sich selbst. Gibt es vielleicht doch noch Hoffnung für ihn? Kann er vielleicht doch noch mal mit Jesus sprechen, um Verzeihung bitten? Und dann zeigt sich der auferstandene Jesus ihm und den anderen Aposteln. Jetzt wissen sie: Er lebt tatsächlich. Was für eine Erleichterung! Aber gleichzeitig wächst bei Petrus die Angst: Wird Jesus überhaupt noch etwas von mir wissen wollen – nach dem, was ich ihm angetan habe? Habe ich nicht jedes Recht verspielt, Anführer der Jüngerschar zu sein? Gehöre ich überhaupt noch zum Jüngerkreis? Und dann zeigt sich Jesus den Jüngern am See Gennesaret, als sie mit ihren Booten zum Fischen gefahren waren. Sowie Petrus begreift, dass es sich um Jesus handelt, springt er aus dem Boot und schwimmt los, um so schnell wie möglich am Ufer und bei Jesus zu sein. Petrus zieht es mit aller Macht zu Jesus, obwohl er sich vor Jesus fürchtet. Er braucht endlich Klarheit. So kann er nicht weiterleben. Jetzt ist der Zeitpunkt für die überfällige Aussprache gekommen.

Jesus, der Chef

Ich bin überzeugt, dass die anderen Jünger bei diesem Gespräch dabei waren. Sie wussten natürlich von der Verleugnung. Ob sie Petrus je wieder als ihren Anführer akzeptiert hätten? Ohne Klärung dieser dunklen Geschichte hätten sie immer einen Ansatzpunkt zur Kritik gehabt, wenn ihnen an seinem Führungsstil etwas nicht passte. Petrus hätte nie mehr mit Vollmacht und Überzeugungskraft auftreten können. Deshalb bringt Jesus die Sache vor allen zur Sprache. Jetzt ist klar: Der Chef höchstpersönlich hat Petrus vergeben. Der Chef hat ihn wieder in sein Amt eingesetzt. Keiner darf mehr mit dem Finger auf ihn zeigen. Petrus hat Rückendeckung von höchster Stelle.

Jesus, der Hirte

Etwas anderes wird ebenfalls deutlich: Jesus ist ein großartiger Seelsorger. Ja, er bringt die Schuld zur Sprache. Aber er tut es auf die feinfühligste Art, die man sich nur denken kann. „Liebst du mich?“ Nicht: Petrus, wie war das denn genau, als du mich verleugnet hast? Welche Ausdrücke hast du beim Fluchen verwendet? Petrus, plagt dich das nicht? Petrus, wie konntest du nur! (Das hat Petrus sich doch selbst schon hundertmal gefragt!) Jesus wühlt nicht in der alten Schuld. Er stellt ihn vor den anderen nicht bloß. Eine einzige Frage, dreimal gestellt, reicht aus: „Hast du mich lieb?“ Jetzt weiß jeder, worum es geht, ohne dass die Sünde beim Namen genannt werden muss. Das ist die Art, wie Jesus mit uns verfährt: So streng wie eben nötig; so schonend wie irgend möglich.

Die seelsorgerliche Weisheit von Jesus zeigt sich einfach auch daran, dass er Petrus dreimal fragt. Er gibt ihm damit gewissermaßen Gelegenheit, die dreifache Verleugnung rückgängig zu machen. Dreimal hat Petrus abgestritten, Jesus zu kennen; dreimal darf er nun seine Liebe zu Jesus bezeugen.

Interessant ist hier übrigens auch die Anrede: „Simon, Sohn des Johannes“. So hat Jesus Petrus bisher nur einmal angesprochen, ganz zu Anfang, bei der allerersten Begegnung, Johannes 1, 42. Und dann hat er ihm einen neuen Namen gegeben: Petrus, „Fels“. Der Name als Auftrag, als Amt. Aber mit diesen neuen Namen redet er ihn jetzt nicht an. Petrus darf sich jetzt nicht hinter seinem Amt verstecken; seine Rolle als Anführer bietet ihm keinen Schutz. Kein Diplomatenstatus, keine Immunität! Nein, Jesus geht nochmals ganz an den Anfang zurück: „Simon, Sohn des Johannes!“ Wir müssen noch einmal einen Neuanfang miteinander machen.

Die Frage aller Fragen

Damit sind wir beim Zentrum unserer Geschichte, bei der dreimaligen Frage: „Liebst du mich?“ An dieser Frage entscheidet sich alles – Sinn oder Sinnlosigkeit unseres Daseins, Leben oder Tod.

„Liebst du mich?“ Das ist die tiefste, die persönlichste Frage, die jemand einem anderen stellen kann. Eine Frau fragt ihren Mann: „Findest du mich hübsch?“ „O ja, sehr“, wird er antworten. Aber vielleicht fügt er ehrlichkeitshalber hinzu: „Es gibt allerdings auch andere hübsche Frauen!“ Dieselbe Frau fragt ihren Mann: „Liebst du mich?“ „Ja“, sagt er, „ich liebe dich – dich und keine andere.“ Hübsch finden kann man viele Frauen. Lieben kann man nur eine einzige. Denn bei der Liebe geht es nicht um Ansichten, sondern um eine Beziehung, um die allerpersönlichste, umfassende Hingabe eines Menschen an einen anderen. Eine solche Beziehung ist unteilbar. Ihr Hübschsein teilt die Frau mit vielen anderen Frauen. Aber die Liebe ihres Mannes teilt sie mit keiner einzigen anderen. Die gehört ausschließlich ihr!

„Liebst du mich?“, fragt Jesus Petrus. Er hätte, um seinen Glaubensstand zu testen, z. B. auch fragen können: „Befolgst du meine Gebote?“ Nur: Man kann Gottes Gebote halten, ohne Christ zu sein! Der reiche junge Mann, der einmal zu Jesus kam (Matthäus 19,16ff), sagte: „Ich habe alle Gebote befolgt. Was fehlt mir noch?“ Jesus gab ihm den Ratschlag: „Verkaufe alles, was du hast, gib den Erlös den Armen, und dann komm und folge mir nach!“ Und wie reagierte der reiche junge Mann? Er ging traurig weg. Gottes Gebote zu befolgen – dazu war er bereit. Jesus zu folgen – dazu war er nicht bereit. Keine persönliche Beziehung, keine Liebe. Wir sehen: Die Frage: „Befolgst du meine Gebote?“ würde zu kurz greifen.

Jesus hätte Petrus z. B. auch fragen können: „Glaubst du an meine Lehre?“ Aber auch das würde zu kurz greifen. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung nennt sich Christen. Sie glauben an die Lehren der Bibel. Sie hätten kein Problem damit, das Apostolische Glaubensbekenntnis zu unterschreiben. Aber sie machen damit nicht ernst, wenn es um ihr persönliches Leben geht. Sie sind Namenschristen, Scheinchristen – Taufscheinchristen, Konfirmationsbescheinigungschristen, Hochzeitsurkundenchristen, Beerdigungspapierchristen: Papierchristen eben. Einmal erzählte mir eine Frau, Mitglied einer Freien Evangelischen Gemeinde (allerdings nicht von Zürich), von ihrem Neffen, der kürzlich gestorben war. „Er war so ein braver Junge!“ schwärmte sie. „Ist er denn Christ gewesen?“, wollte ich wissen. „Christ war er nicht“, sagte sie, „aber er war evangelisch.“ Kein Christ, aber evangelisch? Das ist, um vor Gott zu bestehen, keinen roten Heller wert.

Ob jemand Christ ist, entscheidet sich nicht an seinen frommen Taten, nicht an seinem Glaubensbekenntnis, nicht an seiner Kirchenzugehörigkeit; es entscheidet sich an seiner persönlichen Beziehung zu Jesus. Es entscheidet sich an seiner Liebe zu Jesus. Und genau danach wird Petrus von Jesus gefragt: „Liebst du mich?“

„Liebst du mich?“ Als ich dich in meine Nachfolge rief – ging es dir da wirklich um mich? Oder hast du dir Ansehen und Einfluss erhofft, Reichtum und Macht? Und als du merktest, dass nichts davon für dich heraussprang, hast du mich fallengelassen?


„Liebst du mich?“ Liebe hat mit Treue zu tun. Petrus, du warst mir untreu. Liebst du mich wirklich? Liebe ist ein Bund, ein Verbindung von zwei Personen sozusagen (wie beim Ehebund). Verbindung bedeutet Verbindlichkeit. Bund bedeutet Verpflichtung. Petrus, du hast den Bund mit mir gebrochen („Ich kenne diesen Menschen nicht“, hast du gesagt). Willst du den Bund erneuern? Ich gebe dir eine zweite Chance. Liebst du mich?

„Liebst du mich?“ Petrus, wenn du mich liebst, hat das Konsequenzen für dein ganzes Leben. Wenn du zu mir ja sagst, sagst du nein zu allem, was die Gemeinschaft mit mir stören könnte. Wenn du mich liebst, machst du es wie der Kaufmann, der auf eine kostbare Perle stieß und seinen gesamten Besitz veräußerte, um diese eine Perle zu erwerben (Matthäus 13, 45 und 46). Entweder ganz mein oder lass es ganz sein. Ein halber Christ ist ein ganzer Unsinn.

„Liebst du mich?“ Die Frage erinnert an die wichtigste Stelle des Alten Testaments, das so genannte Sch’ma: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein! Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit deinem ganzen Verstand und mit aller deiner Kraft!“ (5. Mose 6, 4 und 5, von Jesus zitiert in Markus 12, 29 und 30) Gott möchte, dass wir ihn lieben. Gott beansprucht unsere ganze Loyalität. Er ist, wie er selbst sagt, ein „eifersüchtiger Gott“, ein Ehemann, der keinen Nebenbuhler duldet, ein Gott, der keine anderen Götter im Leben seiner Kinder gelten lässt. „Liebst du mich?“, fragt jetzt auch der auferstandene Jesus, Gott in Person. Unser ganzes Herz soll Jesus gehören. 

Eine ehrliche Antwort

„Liebst du mich?“ Wie lautet die Antwort von Petrus? „Ja!“ Ich finde diese Antwort erstaunlich. Ich finde sie mutig. Ich finde sie kühn, beinahe gewagt – nach allem, was gewesen ist! Aber ich finde es wunderbar, dass Petrus so antwortet. Er druckst nicht herum: Ich würde ja gern, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe … Eigentlich schon, aber ich werde bestimmt wieder versagen … Nichts davon. Petrus sagt ganz einfach: „Ja.“ Aber es ist nicht mehr der selbstsichere Petrus, der von sich selbst überzeugte Petrus, der sich selbst viel zu gut einschätzende Petrus, der so redet. Etwas ist grundlegend anders geworden. Petrus stellt sich nicht mehr in den Mittelpunkt. Er sagt nicht: Ich kann dich lieben, ich schaffe das. Er sagt nicht: Ich weiß, dass ich dich liebe (auch wenn keiner es mir glaubt). Er sagt: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.“ Du kennst mich durch und durch. Du kennst mein Unvermögen, aber du weißt doch auch, dass ich dir folgen möchte; das ist mein Herzenswunsch. Jesus zieht diese Antwort scheinbar in Zweifel und fragt ihn noch einmal und noch einmal. Er hat ja auch allen Grund, Petrus’ Versicherung nicht einfach so hinzunehmen! Sind deine Beteuerungen wirklich echt? Jesus prüft Petrus auf Herz und Nieren. Schließlich hat Petrus schon mal im Brustton der Überzeugung davon geredet, wie groß seine Liebe zu Jesus sei und dass er zu allem willig und zu allem fähig sei – und hat damit sich selbst und viele andere getäuscht.  Aber diesmal ist es anders. Sogar noch bei der dritten Frage bleibt Petrus dabei: „Herr, du weißt alle Dinge. Du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Er stellt das letzte Urteil in Gottes Hand; er ist bereit, sich korrigieren zu lassen. Er formuliert im Grunde ganz ähnlich wie jener Mann, der Jesus bat, seinen kranken Jungen zu heilen: „Ich glaube! Hilf mir heraus aus meinem Unglauben!“ (Markus 9, 24) „Ich habe dich lieb, das weißt du. Aber du weißt auch, dass ich - auf mich allein angewiesen – das nicht durchhalten kann. Ich brauche deine Hilfe, mein ganzes weiteres Leben lang.“

„Liebst du mich?“ Wenn Jesus uns fragen würde, wie würden wir reagieren? „Hast du Jesus lieb?“ Was würdest du antworten? Was würde ich antworten?


Bei Gott bleibt niemand arbeitslos

Jesus stellt Petrus nicht nur eine Frage, er gibt ihm auch einen Auftrag: „Sorge für meine Lämmer! Hüte meine Schafe! Sorge für meine Schafe!“ Dreimal dieselbe Frage. Dreimal derselbe Auftrag. Damit ist Petrus wieder in sein Amt eingesetzt. Jesus vertraut ihm von neuem die Aufgabe an, die er ihm schon versprochen hatte: „Auf dich werde ich meine Gemeinde bauen.“ „Sorge für meine Schafe!“ lautet der Auftrag jetzt. Unmittelbar vor dem Beginn von Jesu Leidensgeschichte berichtet Lukas von einem ergreifenden Gespräch zwischen Jesus und Petrus. „Simon, Simon“, sagte Jesus, „der Satan hat sich erbeten, euch schütteln zu dürfen wie den Weizen im Sieb. Ich aber habe für dich gebetet, dass du deinen Glauben nicht verlierst. Wenn du dann umgekehrt und zurechtgekommen bist, stärke den Glauben deiner Brüder!“ (Lukas 22, 31 und 32) Was kündigte Jesus dem Petrus da an? „Satan wird dich schütteln wie den Weizen im Sieb!“ Das erfüllte sich in jener schrecklichen Stunde der Verleugnung. „Ich bete für dich, dass du deinen Glauben nicht verlierst!“ Das erfüllte sich, als Petrus weinte und Buße tat. „Wenn du dann umkehrst und zurechtkommst, stärke den Glauben deiner Brüder!“ Das wird sich von jetzt an erfüllen. Petrus bekommt den Auftrag, für seine Mitchristen zu sorgen. „Hüte meine Schafe!“

Liebloser Dienst? Dienstlose Liebe?

Hier wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen Liebe zu Jesus und Dienst für Jesus, und dieser Zusammenhang ist auch für uns wichtig.

Kein Dienst ohne Liebe! „Liebst du mich? Dann hüte meine Schafe!“ Liebe zu Jesus ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass man etwas für Jesus tun kann. Jesus fragt nicht: Traust du dir das zu? Bringst du die nötige Begabung mit, die nötige Erfahrung, den nötigen Mut, das nötige Kapital? Er fragt: Hast du mich liebt? Man muss Jesus lieben, wenn man ihm dienen will. Wie formuliert es Paulus in 1. Korinther 13? „Wenn ich alle Gaben und alle Erkenntnis besitzen würde, aber keine Liebe habe, bin ich nichts.“ Nur wer Jesus liebt, ist ihm von Nutzen. Oder, aus einer anderen Perspektive formuliert: Jeder, der Jesus liebt, ist ihm von Nutzen.

Also: Kein Dienst ohne Liebe. Es gilt aber auch das Umgekehrte: Keine Liebe ohne Dienst! Es gibt keine echte Liebe zu Jesus, die nicht in einen Einsatz für Jesus mündet. Wir beweisen ihm unsere Liebe nicht mit Treueschwüren und nicht mit religiösem Gefühlsüberschwang, sondern durch unser Tun (vergleiche 1. Johannes 3, 18). Jesus lieben heißt Jesus gehorchen, heißt seine Anweisungen befolgen, heißt sich für ihn einsetzen. „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten.“ (Johannes 14, 15) So nüchtern sieht Jesus die Liebe. Die Begegnung zwischen Jesus und Petrus ist ja hoch emotional, aber gerade deshalb finde ich es bezeichnend, wie sachlich sie ausgeht. Die beiden fallen sich nicht um den Hals (zumindest wird nichts davon berichtet; es kann also nicht das Wichtigste gewesen sein). Sie brechen nicht in Freudengeschrei aus: Wie wunderbar, dass du mir vergibst! Wie wunderbar, dass du mich wieder liebst! Nein, es geht viel sachlicher zu. Du liebst mich? Dann beweise es mir durch deinen Einsatz für mich. „Sorge für meine Schafe!“ Keine Liebe ohne Dienst.

Von Schafen, Hirten und Oberhirten

Was bedeutet das denn ganz praktisch: „Hüte meine Schafe!“? Die Schafe – das sind die Christen. Petrus soll ihr Hirte sein. Ein Hirte ist kein Herrscher. Er beutet die Herde nicht aus. Im Gegenteil: Ein Hirte ist verantwortlich für das Wohl seiner Herde. Er führt die Tiere auf grüne Wiesen und zu Bächen mit frischem Wasser, er bewacht sie, wenn der Weg durch ein finsteres Tal führt, und hält Gefahren von ihnen fern. Er kämpft um sie, und wenn es sein muss, lässt er sogar sein Leben für sie. Das tut ein guter Hirte. Das hat der gute Hirte Jesus getan. Und Petrus soll es ihm nachtun. Ich glaube, Petrus hat seine Lektion gelernt. In seinem ersten Brief schreibt er an die Ältesten der Gemeinde folgendes: „Leitet die Gemeinde, die Herde Gottes, die euch anvertraut ist, als rechte Hirten. Kümmert euch um sie, nicht weil es eure Pflicht ist, sondern aus innerem Antrieb, so wie es Gott gefällt. Tut es nicht, um euch zu bereichern, sondern aus Hingabe. Führt euch nicht als Herren auf, sondern gebt euren Gemeinden ein Vorbild. Denn werdet ihr, wenn der oberste Hirte kommt, den Siegeskranz erhalten, der nie verwelkt.“ (1. Petrus 5, 2-4)

Die katholische Kirche leitet aus diesem Befehl (“Hüte meine Schafe!“) das Papsttum ab. Petrus, der erste Papst, der Oberhirte der Christenheit. Aber so hat Jesus das nicht gemeint. Während des Gesprächs dreht Petrus sich um und sieht Johannes hinter ihnen her gehen. „Und was wird aus ihm?“ fragt er Jesus. Petrus ist unsicher. Hüte meine Schafe, hat Jesus gesagt. Bin ich jetzt also für Johannes zuständig? Nein, entgegnet Jesus. Was aus Johannes wird, geht dich nichts an. „Folge du mir nach!“ Jesus hat ihm also ausdrücklich verwehrt, über alle anderen Christen zu bestimmen. Deshalb hat Petrus sich auch keineswegs als der einzige Hirte gesehen. Er hat andere aufgefordert, ebenfalls Hirten zu sein. Und sowieso – alle Hirten hier auf der Erde haben ja noch einen Hirten über sich, den obersten Hirten, Jesus Christus. Und die Schafe gehören nicht Petrus; sie sind und bleiben das Eigentum von Jesus. „Hüte meine Schafe!“

Ungewohnte Perspektiven

Jesus gibt Petrus also einen Auftrag. Und dann kündigt er noch etwas an. Es ist eine merkwürdige, eine beunruhigende Voraussage: „Als du noch jung warst, hast du dir den Gürtel selbst umgebunden und bist gegangen, wohin du wolltest. Doch wenn du einmal alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dir den Gürtel umbinden und dich dahin führen, wo du nicht hingehen willst.“ Eine harte Prophezeiung. Klingt beinahe bedrohlich, finden Sie nicht auch? Petrus darf nicht mehr dorthin gehen, wohin er gehen will? Will Jesus etwa seinen Willen ausschalten? Sind Christen Menschen ohne eigenen Willen? Ganz und gar nicht, aber Jesus will Petrus helfen, seine Trägheit und Selbstsucht zu überwinden. Und das ist keine Bestrafung, das ist eine Gnade. Das gibt dem Leben eine Richtung und eine Weite, einen Inhalt und ein Ziel. Petrus würde von jetzt an Dinge tun, die er sich allein nie ausgesucht hätte. Er würde zunächst einmal ruhig in Jerusalem bleiben, statt gleich ins Weite zu stürmen. Er würde sich für Jesus auspeitschen und ins Gefängnis stecken lassen. Er würde ins Haus eines Nichtjuden gehen und ihm das Evangelium verkünden und ihn dann taufen, ohne zu fordern, dass dieser Nichtjude vorher beschnitten werden müsse (Kornelius, Apostelgeschichte 10).

„Du wirst deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dir den Gürtel umbinden und dich dahin führen, wo du nicht hingehen willst.“ Damit hat Jesus angedeutet, auf welche Weise Petrus sterben würde: Er würde gekreuzigt werden. „Du wirst deine Hände ausstrecken“ – das bedeutet wahrscheinlich, dass Petrus seine Arme ausbreiten musste, damit sie an den Querbalken angebunden werden konnten. Und dann musste er diesen Balken „dorthin tragen, wo du nicht hingehen willst“, nämlich zur Hinrichtungsstätte. Nach der frühen kirchengeschichtlichen Überlieferung wurde Petrus in Rom unter Kaiser Nero als christlicher Märtyrer gekreuzigt.

Jesus kündigte an, dass Petrus am Kreuz sterben würde! Dreißig Jahre lebte und arbeitete Petrus noch mit dieser Aussicht! Hing das nicht wie eine Art Damoklesschwert über ihm? War das nicht nachträglich doch noch eine Art Strafe für die Verleugnung? Absolut nicht. Es war eine Auszeichnung! Denn erstens steckte in dieser Ankündigung eine großartige Zusage: Petrus, einmal hast du mir die Treue gebrochen. Aber jetzt wirst du mir treu bleiben, treu bis zum Tod. Wenn du einst am Kreuz festgebunden wirst, wirst du ein lebendiges Zeichen für die gewaltige Umwandlung sein, die mein Kreuz an dir zuwege gebracht hat. Du hast nicht nur behauptet, dass du mich liebst – du hast mir deine Liebe bis in die Stunde deines Todes bewiesen. Du bist mir treu geblieben, selbst als es dich das Leben kostete. Jetzt werde ich dir als Siegeskranz das ewige Leben geben (vergleiche Offenbarung 2, 10).

Und zweitens steht hier: „Jesus deutete damit an, dass Petrus durch seinen Tod die Herrlichkeit Gottes offenbart würde.“ Jesus selbst hat mit seinem eigenen Tod Gottes Herrlichkeit offenbart. Und jetzt würde Petrus es ihm nachmachen dürfen. Nein, dieser Tod war keine Bestrafung. Er war eine ganz besondere Ehre. Und genauso hat Petrus selbst es empfunden. Als er für sein mutiges Eintreten für Jesus vom Hohen Rat in Jerusalem ausgepeitscht wurde, heißt es: „Er verließ den Hohen Rat voll Freude darüber, dass Gott ihn für würdig erachtet hatte, um des Namens Jesu willen Schmach und Schande zu erleiden.“ (Apostelgeschichte 5, 41)

Musterexemplar Petrus: Was das Kreuz zustande bringt

Damit sind wir am Ende dieser Begebenheit angelangt, am Ende unserer Palmsonntags-, Passions- und Auferstehungsgeschichte. Sie hatte mit Jesus und Petrus zu tun, mit dem Kreuz und der Auferstehung, mit Liebe und Aufrichtigkeit und Treue. Wenn man so will, haben wir heute die Bekehrungsgeschichte von Petrus durchgenommen. Wir kennen ja alle die Bekehrungsgeschichte von Paulus, sein Damaskuserlebnis (Apostelgeschichte 9). Aber Petrus, wann hat Petrus sich bekehrt? Darauf wissen wir so aus dem Stegreif gewöhnlich keine Antwort. Nun, hier haben wir die Lösung. Ich finde das sehr schön: Petrus und Paulus sind die beiden bedeutendsten Gestalten der Apostelgeschichte, und von beiden wissen wir, wie und wann sie sich bekehrt haben. Was hatte Jesus unmittelbar vor der Verleugnung zu Petrus gesagt? „Ich habe für dich gebetet, dass du deinen Glauben nicht verlierst. Wenn du dann umgekehrt und zurechtgekommen bist, stärke den Glauben deiner Brüder!“ (Lukas 22, 32) „Wenn du dich bekehrst, wenn du umkehrst und zurechtkommst“ – hier, am Ufer des Sees Gennesaret, im Gespräch mit Jesus, ist es geschehen.

Petrus war der wichtigste Mann im Jüngerkreis. Und gerade an ihm wird uns in dieser Geschichte geradezu exemplarisch gezeigt, was der Kreuzestod von Jesus für Auswirkungen hat: Er bringt uns Vergebung und Erneuerung. Umfassende Vergebung und umfassende Erneuerung. Vergebung und Erneuerung für den, der vor Jesus nicht davonläuft, sondern sich ihm stellt und ihm Antwort gibt auf seine Frage: „Hast du mich lieb?“

 

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Nachtrag: Zwei Sorten Liebe?

Für die Bibelexperten unter uns (und davon gibt es eine ganze Menge!) hier noch eine kleine Nachbemerkung. Vielleicht haben Sie mal irgendwo gehört oder gelesen, dass in diesem Abschnitt zwei verschiedene Wörter für lieben stehen und dass das hoch bedeutsam sei. Ich kann Ihnen versichern, da ist nichts dran. Das heißt, das mit den zwei verschiedenen Ausdrücken stimmt, aber nicht das mit den zwei verschiedenen Bedeutungen. Die beiden Wörter bedeuten in diesem Zusammenhang genau dasselbe. Es ist ungefähr so, wie wenn ich im Deutschen abwechselnd sage: „Er liebt mich, er hat mich lieb, er liebt mich, er hat mich lieb.“ Keiner von uns käme auf die Idee, man wollte damit zwei unterschiedliche Gedanken ausdrücken. Man würde den Wort-Wechsel vielleicht nicht einmal bemerken! Oder haben Sie ihn bemerkt, als zu Anfang der Bibeltext vorgelesen wurde? Meine Frau hat ihn nach der Neuen Genfer Übersetzung gelesen, und dort wird ganz konsequent zwischen „lieben“ und „lieb haben“ unterschieden. Ist es Ihnen nicht aufgefallen? Nein? Macht nichts; es soll nämlich gar nicht auffallen.

Die beiden griechischen Zeitwörter lauten übrigens agapan und philein. Sie stellen, so wird behauptet, zwei verschiedene Ebenen von Liebe dar. Das eine sei die höhere, die göttliche Liebe, das andere die niedrigere, die menschliche, freundschaftliche Liebe. In manchen neutestamentlichen Büchern und an manchen Bibelstellen mag diese Unterscheidung zutreffen. Aber Johannes gebraucht die beiden Wörter in seinem Evangelium offensichtlich deckungsgleich und wechselt lediglich aus stilistischen Gründen vom einen zum anderen, nicht aus inhaltlichen. Sehen wir uns einmal verschiedene „Liebes-Beziehungen“ an:

Gottes Liebe zu Menschen:

- „So sehr hat Gott die Welt geliebt …“ (3, 16): agapan

- „Er selbst, der Vater, hat euch lieb“ (16, 27a): philein

Gottes Liebe zu seinem Sohn Jesus:

- „Der Sohn liebt den Vater“ (3, 35): agapan

- „Der Sohn hat den Vater lieb“ (5, 20): philein

Jesu Liebe zu Menschen:

- „Jesus hatte Martha und ihre Schwester und auch Lazarus sehr lieb“ (11, 5): agapan

- „Seht, wie lieb er ihn gehabt hat!“ (11, 36): philein

Jesu Liebe zu Johannes:

- „Der Jünger, den Jesus besonders liebte“ (13, 23): agapan

- „Der Jünger, den Jesus besonders lieb gehabt hatte“ (20, 2): philein

Die Liebe von Menschen zu Jesus:

- „Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben“ (8, 42): agapan

- „Ihr liebt mich und glaubt daran, dass ich von Gott gekommen bin“ (16, 27b): philein

Jede Unterscheidung wäre hier künstlich. Johannes liebt einfach die Abwechslung. Übrigens wechselt er auch sonst noch auffallend oft in den paar Versen von Kapitel 21, die der Predigt zugrunde liegen. Er verwendet zwei verschiedene Ausdrücke dafür, dass Jesus um seine Liebe zu ihm weiß (eidenai und ginoskein), zwei verschiedene Ausdrücke für das Hüten der Schafe (boskein und poimainein) und zwei bis drei verschiedene Ausdrücke für die Schafe (arnia, probata und probatia – je nach Lesart in den griechischen Manuskripten). Niemand käme auf die Idee, daraus sachliche Unterschiede zu konstruieren; das wären wirklich konstruierte, künstliche Unterschiede!

Im übrigen ist es auch keineswegs zwingend so, dass agapan immer von der göttlichen Liebe spricht. Das mit der göttlichen Liebe steckt nicht im Wort selbst, sondern hängt vom jeweiligen Zusammenhang ab. agapan kann auch eine sehr irdische, ungöttliche Liebe bezeichnen. Paulus klagt einmal über einen Christen namens Demas und sagt: „Demas hat mich verlassen, weil er diese Welt wieder lieb gewonnen hat!“ (2. Timotheus 4, 10). Hier steht agapan! agapan steht sogar dort, wo Amnon sich so in seine vermeintliche Liebe zu seiner Schwester Tamar hineinsteigert, dass er sie vergewaltigt (2. Samuel 13, Septuaginta)! Hier bezeichnet agapan das genaue Gegenteil von göttlicher Liebe! Also nochmals: Entscheidend für die Bedeutung eines Wortes ist der jeweilige Zusammenhang; und in Johannes 21, beim Gespräch von Jesus und Petrus, bedeuten agapan und philein offensichtlich dasselbe.

Aber nehmen wir mal an, agapan und philein würden hier tatsächlich eine höhere und eine niedrigere Art der Liebe bezeichnen, und setzen die entsprechenden Wörter in den Dialog zwischen Jesus und Petrus ein. (Der Tatbestand ist folgender: Bei seinen ersten beiden Fragen verwendet Jesus agapan, bei der dritten philein. Petrus hingegen spricht jedes Mal von philein.) Wir werden sofort merken, dass das Gespräch in dieser Form keinen richtigen Sinn mehr ergibt.

(Vers 15a) Als sie gegessen hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mit göttlicher Liebe mehr als irgendein anderer hier?“ Petrus gab ihm zur Antwort: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich mit menschlicher Liebe liebe.“ Petrus traut sich demnach nicht, seine Liebe zu Jesus als eine göttliche zu bezeichnen; er spricht lieber bescheiden von einer menschlichen Liebe. Aber genau an der Stelle stoßen wir auf die erste Ungereimtheit: Petrus dürfte die Frage von Jesus nicht mit einem Ja bestätigen, sondern müsste sie verneinen oder doch zumindest abschwächen.

(Vers 15b) Darauf sagte Jesus zu ihm: „Sorge für meine Lämmer!“ Wieder eine Ungereimtheit: Wenn Petrus Jesus nicht in der Weise liebt, wie Jesus es haben möchte, wieso vertraut Jesus ihm dann seine Herde an? Ehe Petrus wieder in sein Amt eingesetzt werden kann, müsste er die Antwort geben, die Jesus von ihm erwartet.

(Vers 16) Jesus fragte ihn ein zweites Mal: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?“ Petrus antwortete: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Da sagte Jesus zu ihm: „Hüte meine Schafe!“ Auch hier wieder derselbe unpassende Gesprächsverlauf.

Am schwierigsten wird es in Vers 17. Man muss – um dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen – die Wendung „ein drittes Mal“ mit „beim dritten Mal“ übersetzen.

(Vers 17) Beim dritten Mal fragte ihn Jesus: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mit menschlicher Liebe?“ Petrus wurde traurig, weil Jesus ihn beim dritten Mal fragte: „Liebst du mich mit menschlicher Liebe?“ – „Herr, du weißt alles“, erwiderte er. „Du weißt, dass ich dich mit menschlicher Liebe liebe.“ Darauf sagte Jesus zu ihm: „Sorge für meine Schafe! Jesus passt demnach seine Frage dem an, was Petrus beteuert; er verlangt keine göttliche Liebe mehr, sondern nur noch menschliche. Und das ist es dann angeblich, was Petrus so traurig macht: dass Jesus sogar seine menschliche Liebe in Zweifel zieht! Aber das würde im Umkehrschluss bedeuten: Hätte Jesus auch beim dritten Mal nach göttlicher Liebe gefragt, wäre Petrus nicht traurig geworden! Und es bedeutet, dass jede Anspielung auf die dreimalige Verleugnung wegfällt. Denn diese Anspielung beruht ja eben darauf, dass Jesus dreimal dasselbe fragt, so wie Petrus dreimal dasselbe tat. Und das ist natürlich auch der wahre Grund, weshalb Petrus traurig wird: Spätestens beim dritten Mal kann er nicht mehr leugnen, dass Jesus ihn an seine Verleugnung erinnert, und muss sich eingestehen, dass Jesus vollkommen recht hat, wenn er seine Liebe so radikal in Frage stellt.

Und noch ein letzter kleiner Hinweis: Das Gespräch zwischen Jesus und Petrus wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Aramäisch geführt. Und im Aramäischen gibt es nicht zwei solche Verben, die eine höhere und eine niedrigere Form von Liebe bezeichnen würden. Auch das bestätigt nochmals: Als Johannes die Begebenheit in Griechisch niederschrieb, wählte er die verschiedenen Ausdrücke nicht, um unterschiedliche Inhalte zu vermitteln, sondern einfach aus Freude an stilistischer Abwechslung.